Er habe den Charakter eines "ehrfürchtig aufmerksamen Beobachters",
und er verfüge über die Fähigkeit, einen "breiteren,
unvoreingenommeneren, uneingeschränkt intelligenten Einblick" in das
"große Schauspiel des menschlichen Lebens" zu gewinnen als irgendein
anderer Schriftsteller. Mit diesen Worten charakterisierte der
amerikanische Schriftsteller Henry James (1843-1916) den von ihm bewunderten russischen Schriftsteller
Ivan Turgenev. Da hat dieser aber
Glück gehabt, denn in dem wunderbaren Bändchen Rätsel-Spiele ("Jeux
d`esprit") kommt ansonsten keiner der Porträtierten
durchweg gut weg.
Rätsel-Spiele? Ludwig Pietsch (1824-1911), der Berliner Maler, Kritiker und langjährige Freund
Turgenevs, beschreibt in seinen Lebenserinnerungen die Regeln
dieses heiter-ernsten Gesellschaftsspiels, das im Salon Viardots und im Hause Turgenevs von 1856 bis in die siebziger Jahre gespielt wurde:
Turgenev zeichnete mit schnellen Strichen einen Kopf in die obere Ecke
eines langen Papierstreifens, und die Spielteilnehmer mussten sich
unterhalb des Porträts über den vermeintlichen Beruf, über
Charaktereigenschaften, Besonderheiten, Gewohnheiten, Neigungen...
des Porträtierten (möglichst witzig und vielfältig) äußern. Etwa zweihundert Zeichnungen, schreibt
der Herausgeber Peter Urban*, sind erhalten geblieben, etwa fünfzig sind
in Rätsel-Spiele veröffentlicht - fast alle mit jeweils zwei
Kommentaren, denen von Turgenev und Pauline Viardot (von der wir auch
im Briefwechsel zwischen Flaubert und Turgenjev hören). "Abgesehen
vom sicheren Strich ihres Autors", schreibt Peter Urban in seinem
Vorwort, "geben diese Zeichnungen auf noch einmal andere Weise einen
Begriff von der Beobachtungsgabe Turgenevs, von seinem Humor, seiner
Ironie und Selbstironie, seiner Sicht auf die sozialen und politischen
Dinge seiner Zeit, seiner Menschenkenntnis." Ein "ausgezeichnetes
Talent", wie sogar der strenge Nabokov anerkannte. Die
Bildunterschriften (Legenden) zu den Zeichnungen (die
oft eigentlich Karikaturen sind) zeugen von verblüffender geistiger
Übereinstimmung zwischen Turgenev und der vom ihm lebenslang geliebten
und bewunderten Künstlerin Pauline Viardot-Garcia** (1821-1910; Schwester
der berühmten Sängerin Maria Malibran). Die Französin Viardot entstammte einer spanischen
Sängerfamilie. Sie war berühmt für ihren drei Oktaven umfassenden
Stimmumfang und ihre musikalische Vielseitigkeit. Sie wurde damals
besonders von der Jugend enthusiastisch gefeiert.. Als sie von 1843 bis 1846 an der Oper in
St. Petersburg engagiert war - sie sang hier neben
dem italienischen Repertoire auch Werke von Glinka auf Russisch - hatte sie den noch nicht dreißigjährigen Turgenev
kennen gelernt. Turgenev verliebte sich in sie und lebte später bis zu seinem
Tode Tür an Tür mit dem Ehepaar Viardot. 1863, mit zweiundvierzig Jahren, zog sich
Pauline Viardot von der Bühne zurück und verließ Frankreich aus
politischen Gründen. Mit ihrem Mann, den drei jüngeren Kindern und Ivan
Turgenev ließ sie sich in Baden-Baden nieder, unterrichtete Schülerinnen
aus aller Welt und ließ sich in ihrem Garten eine Kunstgalerie und ein
kleines Opernhaus bauen, wo sie mit ihren Schülerinnen und ihren Kindern
Konzerte gab und eigene Bühnenwerke vor der internationalen
Baden-Badener Gesellschaft aufführte; die Libretti schrieb Ivan Turgenev. Herr Viardot und Ivan Turgenev starben im gleichen Jahr -
1883. Clara Schumann sagte über Pauline: "(...) sie ist die genialste
Frau, die mir je vorgekommen."
Wenn man in Rätsel-Spiele die Legenden von Turgenev und Pauline
Viardot aufmerksam liest, verblüfft die Übereinstimmung der angenommenen
Eigenschaften (obwohl ja der eine des anderen Text nicht einsehen
konnte). Schreibt zum Beispiel Turgenev "Mann der Polizei", so nimmt
Pauline "Polizeikommissar" an; nennt er den Porträtieren "einen
Vielfraß", glaubt sie: "Er isst gierig" oder schreibt er "Alter
Lehrer", vermutet sie "Schulmeister", glaubt Turgenev, er sei
"schwatzhaft wie eine Elster und stinke wie ein Bock", nimmt sie an,
dass er "unablässig schwätzt, schrecklich schmutzig und stinkend, immer
nach Alkohol, Knoblauch und schlechter Zigarre rieche".
Auffällig, dass - der Zeit geschuldet? - nur wenige Porträtskizzen
von Frauen Turgenevs Feder entstammen, aber bei beider Charakteristik
kommt auch das Weib nicht gut weg, zum Beispiel Turgenev:
"Gesellschaftsdame, arm, spröde, mißtrauisch, nicht gut, heuchlerisch;
wäre eine wahre Plage, wenn sie etwas zu sagen hätte; niemand wird sie
je lieben; sie wird ziemlich jung sterben - ganz einsam; liebt karierte
Kleider. Sie ist flach wie ein Brett." Und Viardot: "Bescheidene
Gouvernante in einer großen Familie, hat mehrere Kinder zu
beaufsichtigen, denen sie nichts beizubringen vermag - schwacher und
furchtsamer Charakter. Sie spricht sehr tief - sieht einem nie ins
Gesicht, ein lauwarmes, leicht gezuckertes Wässerchen - ist ziemlich
langweilig - sehr ehrlich, sehr unnütz - schweigsam - sie summt mit
Mückenstimmchen kleine sentimentale Romanzen und begleitet sich mit vor
Angst zitternden Fingern, ohne den Fuß vom Pedal zu nehmen. Sie kann gut
sticken - und bereitet den Tee in aller Form - rechnet gut, aber
langsam. Gutes Mädchen, das man bedauert, weil man es so langweilig
findet." (Hübsch gehässig, was? Zeichnung siehe unten)
Erstmals veröffentlicht wurden Turgenevs Zeichnungen im Almanach "Literaturnoe
nasledstvo", Band Nr. 76, erstes Buch, Moskau 1967. Dort reproduziert
sind nur die Bildunterschriften von Ivan Turgenev und Pauline, nachdem
die Handschriften der anderen, z. T. unbekannten Spielteilnehmer nicht
mehr zu ermitteln waren. Zu ihnen gehörten die Töchter Paulines, zu
denen Turgenev ein inniges Verhältnis hatte, aber auch Gäste des Hauses,
u. a. Theodor Storm, Bertold Auerbach, Ludwig Pietsch.
Ich habe nun drei Veröffentlichungen der Friedenauer Presse genossen
(Guro, Lieder der Stadt;
Charms, Briefe aus Petersburg 1933; Turgenev / Viardot,
Rätsel-Spiele). Ja, genossen, was Inhalt, Herausgeberschaft und
Ausstattung anbelangt - schön gestaltete, Faden geheftete französische Broschuren, gesetzt in der Perpetua-Antiqua.
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Gisela Reller / www.reller-rezensionen.de
* Peter Urban ist
der erste Preisträger des russischen Turgenev-Preises, den er im
Dezember 2008 erhielt. Der Preis wurde ihm für seine herausragenden,
weithin gewürdigten Übersetzungen aus dem Russischen verliehen.
**
Jürgen Kesting zitiert in seinem Buch
"Maria Callas" (List Taschenbuch, München, 2002) den Komponisten
Camille Saint-Saëns. Er sagt über
Pauline Viardot: "Ihre Stimme war ungeheuer kraftvoll, reich in ihrem
Umfang. Sie bewältigte alle technischen Schwierigkeiten des Singens.
Doch erfreute diese wunderbare Stimme nicht alle Hörer, denn sie war
keineswegs geschmeidig und samtig. In der Tat war sie ein wenig
harsch, und man kann ihren Geschmack vergleichen mit dem bitterer
Orangen. Aber es war eine Stimme für eine Tragödie oder für ein Epos,
weil es eine übernatürliche Stimme war und keine einfach menschliche.
Sie gab tragischen Partien eine unvergleichliche Grandeur..., und
leichtere Partien wurden vollständig verwandelt, wurden das Spielwerk
einer Amazone oder einer Riesin."
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- Anthologie, Märchen-Samowar, (Darin: Nikolaj
Gogol, Der Jahrmarkt von Sorotschinzy; Anton Tschechow, Kaschtanka;
Nikolaj Gogol, Die Nase;
Alexander Puschkin, Das Märchen vom Zaren Saltan.), Kinderbuch.
- Lydia Awilowa, Tschechow, meine Liebe. Erinnerungen.
- Jean Benedetti (Hrsg.), Mein ferner lieber Mensch.
- Iwan Bunin, Liebe und andere Unglücksfälle.
- Iwan Bunin, Mitjas Liebe.
- Ivan Bunin, Čechov
(Tschechow). Erinnerungen eines Zeitgenossen.
- Anton Čechov
(Tschechow), Freiheit von Gewalt und Lüge.
- Anton Čechov
(Tschechow), Ein unnötiger Sieg.
- Anton Čechov
(Tschechow), Zwei Erzählungen. (Die Dame mit dem Hündchen / Rothschilds Geige), Hörbuch.
- Anton Čechov (Tschechow), Kaschtanka und andere Kindergeschichten. (Ein Hund, ein Ganter, ein Schwein, ein paar Katzen,
ein Pferd, eine
Wölfin, ein Welpe...)
- Fjodor Dostojewskij
(Dostojewski), Meistererzählungen.
- Fjodor Dostojewski
(Dostojewskij), Der Spieler, Hörbuch.
- F. M. Dostojewski
(Dostojewskij), Meistererzählungen, Hörbuch. (Polsunkow / Der kleine Knabe "mit dem Händchen" / Der kleine
Knabe am Weihnachtsabend beim Herrn Jesus).
- Nikolaj Gogol, Die Nase,
Kinderbuch.
- Nikolaj Gogol, Petersburger Geschichten.
- Gogols Petersburger Jahre, Gogols Briefwechsel mit Aleksandr Puškin
(Alexander Puschkin).
- Nikolaj Gogol, Meistererzählungen.
- Ivan Gončarov (Iwan Gontscharow), Die Schwere Not.
- Iwan Gontscharow (Ivan Gon
(Ivan Gončarov), Oblomow.
- Iwan Gontscharow (Ivan Gončarow),
Für den Zaren um die halbe Welt.
- Kjell Johansson, Gogols Welt.
- Wolfgang Kasack, Dostojewski. Leben und Werk.
- Alexander Kuprin, Die schöne Olessja. Eine Liebesgeschichte aus dem alten Rußland.
- Nikolai Leskow, Der Gaukler Pamphalon.
- Vladimir Odoevskij, Prinzessin Mimi / Prinzessin Zizi.
- Aleksandr Puškin (Alexander
Puschkin), Das einsame Häuschen auf der Basilius-Insel.
- Alexander Puschkin (Aleksandr Puškin),
Pique Dame, Hörbuch.
- Lew N. Tolstoj, Hadschi Murat. Eine Erzählung aus dem Land der Tschetschenen.
- Leo Tolstoj, Anna Karenina, Hörbuch.
- Anton Tschechow
(Čechov), Kaschtanka.
- Anton Tschechow
(Čechov), Der Kirschgarten, Hörbuch.
- Anton Tschechow
(Čechov), Drei Schwestern, Hörbuch.
- Anton Tschechow
(Čechov), Von der Liebe, Hörbuch.
- Maria Tschechowa, Mein Bruder Anton Tschechow
(Čechov).
- Gustave Flaubert / Ivan Turgenjev, Eine Freundschaft in Briefen, Hörbuch.
- Ivan Turgenev, Aufzeichnungen eines Jägers.
- Ivan Turgenev, Klara Milič.
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