Belletristik REZENSIONEN

Monologe, die unter die Haut gehen...

Russe
Der Zeuge
Aus dem Russischen von Ingeborg Schröder
Verlag Volk & Welt, Berlin 1996, 175 S.

Ilja Mitrofanow hat alle drei ins Deutsche übersetzten Bücher in gleicher Machart geschrieben: als Monologe. In "Zigeunerglück" erzählt eine alte Zigeunerin einem schönen Jüngling, dem sie aus der Hand liest, ihr Leben voller unvorstellbarer Demütigungen; in "Wassermann über Odessa" berichtet ein grundanständiger Taucher einem zufälligen Reisenden, wie es dazu kam, dass er seinen Schwiegervater ermordete; in Der Zeuge schildert ein schlichter Friseurmeister sein tragisches Leben.

Alle drei Erzählbände sind sprachlich außerordentlich dichte Sprachportraits und fesseln den Leser mit ihrem Geschehen von der ersten bis zur letzten Seite. (Dass der Verlag diese Bücher als Romane ausgibt, ist aber wohl dem vermeintlich besseren Absatz geschuldet.)

Der Zeuge spielt 1940 in Bessarabien, einem zwischen den verschiedensten Mächten hin und her geschobenen Fleckchens Erde zwischen Pruth, Dnestr und der unteren Donau. Bis 1812 war das Gebiet Teil des Fürstentums Moldau, danach wurde es von Russland annektiert. Unter dem Namen Bessarabien bildete es ein eigenes Gouvernement. 1918 wurde eine Moldauische Republik ausgerufen, 1919 erklärte eine Art Parlament den Anschluss an Rumänien. Im Juni 1940 musste Rumänien das Gebiet unter dem Druck eines stalinschen Ultimatums an die Sowjetunion abtreten.

Mit der Sowjetmacht, hofft das einfache Volk Bessarabiens - Moldauer, Kleinrussen, Bulgaren, Gagausen - komme die Macht des Volkes, zum Wohle des Volkes. Rein äußerlich stellt sich die Sowjetisierung im Ort Kotlowina so dar: Auf dem Marktplatz wird das Carol-Denkmal gegen ein Denkmal des Führers aller Völker ausgetauscht, das Restaurant "Ocol vietii" in "Teestube" umbenannt, "obwohl die einfachen Leute hier nie Tee tranken", das einzige Bild des rumänischen Königs gegen zwei Reihen Stalin-Bilder an jeder Wand ausgewechselt, "wie Ikonen in der Kirche".

Danach geht es "bei der Wiedervereinigung des bessarabischen Volkes mit der Mutter Russland" so richtig zur Sache: Bevormundung und Einmischung, Beschneidung bescheidenster individueller Freiheiten, Abgaben über Abgaben, häufig zur persönlichen Bereicherung des sowjetischen Genossen "Stadthalters" und seiner Familie, die bald schon ein fettes Leben führt. Die aus Kotlowina und Umgebung werden immer ärmer, bald schon reicht es nur noch für Borschtsch ohne Fleisch. So schlecht ist es ihnen noch unter keiner Macht ergangen.

Wegen einer Missernte kommt es dann auch noch zu einer entsetzlichen Hungersnot. Wie der Friseurmeister Fjodor Petrowitsch Pokora und seine bessarabischen Landsleute das Hungern erleben, werde ich nach dieser Lektüre nie mehr vergessen. Als die vor Hunger wahnsinnigen Menschen - "Ein Satter weiß nicht, wie einem Hungrigen zumute ist." - das Haus des Genossen "Stadthalters" stürmen, finden sie Berge von gehorteten Lebensmitteln. Sie plündern und rächen sich für das Erlittene an der fetten Tochter. Die Antwort: Scharfschützen, ein Strafkommando...

Auch die Familie des Friseurmeisters verhungert: seine beiden kleinen Töchter und die Frau. Um seine Frau Maria und seine Tochter Olja zu beerdigen, fehlt ihm die Kraft, er legt sie in den Flur. Bald bedecken "Läuse ihre Gesichter: Augen, Stirn, Hals. Auf ihren Köpfen wimmelt es vor Läusen. Eine lebendige, sich bewegende Mütze..."

Ich weiß nicht, wann Mitrofanow - 1948 bei Odessa geboren, 1994 bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen - dieses Buch geschrieben hat. Aber das weiß ich: Mitrofanow war sich da schon sicher, dass das Experiment Kommunismus misslingen würde...

Gisela Reller / www.reller-rezensionen.de

 

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Am 18.01.2002 ins Netz gestellt. Letzte Bearbeitung am 23.11.2019.

Das unterschiedliche Schreiben von Eigennamen ist den unterschiedlichen Schreibweisen der Verlage geschuldet.

 
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