Sachbuch REZENSIONEN

Der Homo sovieticus war nicht nur ein Vorzeigeterminus für Feiertage

Über den Kyrgysen Aitmatow
Mein Lebensziel ist das Schaffen
Ein Gespräch zur Person und über die Zeit mit Tschingis Aitmatow
Hans Boldt Literaturverlag, Winsen/Luhe und Weimar 1998

Michael Martens ist Journalist. Seinen Interviews für die Reihe "Ein Gespräch zur Person und über die Zeit" gehen gründliche Recherchen voraus - für eine Tageszeitung sind sie nicht konzipiert. Martens interviewt Schriftsteller (z. B. Stefan Heym, Günter Grass), Kabarettisten (z. B. Dieter Hildebrandt), Maler und Architekten (z. B. Friedensreich Hundertwasser), Künstler (z. B. Christo&Jeanne Claude) - alljährlich erscheint eine Ausgabe.  Im vorliegenden Buch interviewt Martens den weltberühmten kyrgysischen Schriftsteller Tschingis Aitmatow, der von seinen Landsleuten als der berühmteste aller Kyrgysen verehrt wird, als einer, "der ihr Land in der Welt bekannt gemacht hat". Von März 1995 bis Juli 1997 hat Martens selbst in Mittelasien gelebt, die längste Zeit davon in Bischkek (früher Frunse), der Hauptstadt Kyrgysstans.

Im vorliegenden Buch äußert sich Aitmatow über den Homo sovieticus, über das Böse, über Religion, über Russland, über Solschenizyn, über die Existenz eines Schriftstellers in Diktatur und Demokratie.

Über den "Sowjetmenschen" (den Homo sovieticus) sagt Aitmatow, dass es ihn gegeben habe, aber dass er dabei sei, ein Anachronismus zu werden: "Unter Sowjetmenschen verstehe ich Menschen, die unter den Idealen der Sowjetunion auftraten und von den entsprechenden politischen und ideologischen Ansichten überzeugt waren. (...) In der UdSSR war dieser Begriff Bestandteil des täglichen Lebens, nicht nur ein Vorzeigeterminus für Feiertage. [Kürzlich las ich die Autobiographie Michail Kalaschnikows, des Erfinders des gleichnamigen Sturmgewehrs. Wenn Kalaschnikow kein Homo sovieticus ist...]  - Über das Böse äußert sich Aitmatow unmissverständlich so: "Die Haltung, das Böse sei nicht auszurotten und daher sei es auch sinnlos, es bekämpfen zu wollen, halte ich für gefährlich. Sie führt dazu, daß der Mensch sich allmählich in ein Tier verwandelt." - Interessant auch der Vergleich zwischen sich und Solschenizyn: "Ich gehöre nicht zu jenen Radikalen, die denken, daß man alles Übel gleich an der Wurzel packen und dadurch die Welt umstülpen kann.  Man muß gewisse Realitäten und Kräfte in dieser Welt erkennen. (...) Deswegen habe ich selbstverständlich auch Kompromisse gemacht. (...) Es wird immer Macht geben, diese oder jene Macht, genauso, wie es immer den Staat und die Gesellschaft geben wird - folglich wird es auch immer Konflikte geben zwischen dem Staat, der Gesellschaft und dem Einzelnen. Zu denken, daß die Demokratie alle unsere Schwierigkeiten aus der Welt schaffen und eine problemlose Existenz ermöglichen wird, halte ich für einen Trugschluß. (...) Solschenizyn hat seinen Weg gefunden, und ich gehe meinen - einen bewußt anderen Weg. Ich fand, mein Weg war vielleicht sanfter und produktiver." - Aitmatows Worte zu Nationalismus und Islam: " (...) das bei weitem Schrecklichste, was dieser Zerfall [der Sowjetunion] mit sich gebracht hat, ist das Wiederaufleben eines aggressiven Nationalismus. (...) Einerseits hilft das ausgeprägte Nationalbewußtsein  den Völkern sich ihrer Identität bewußt zu werden. Das ist eine neue Etappe des nationalistischen Selbstverständnisses, eine Selbsterweckung sozusagen. Andererseits kann das zu einer Verschärfung der Konflikte führen. (...) Es ist leicht, Nationalismus zu entfachen, aber sehr schwer, ihn wieder unter Kontrolle zu bringen." - Und wie schätzt der Schriftsteller den Islam ein? "Der Islam war eigentlich etwas Fremdes für uns. Wir waren weit weg davon. Deshalb empfinde ich es nicht so, daß die islamische Religion auf mich, mein Schaffen und meine Weltanschauung einen großen Einfluß gehabt hätte. Damals herrschte Atheismus, wobei ich natürlich schon verstand, daß der Islam eine der großen Weltreligionen ist, und daß er große, allgemeinmenschliche Werte in sich trägt. Zweifellos ist die östliche Religion, also Mittelasien, oder konkreter Turkestan, nicht ohne Einfluß auf mich geblieben." - Russland, so weiß Aitmatow, könne viel von Europa lernen. Aber umgekehrt könne auch Europa von Russland lernen: "Denn die Überzeugung, die Rechte des Individuums seien wichtiger zu nehmen, als alle anderen, verkennt die Tatsache, daß es in jeder Gesellschaft auch kollektive Interessen gibt. Sich im Gegenteil nur auf kollektive Interessen zu berufen und alle individuellen Rechte auszuschließen, ist ebenso falsch. Es ist eine Weltharmonie der Interessen notwendig". - Auf die Frage, ob Literatur etwas verändern könne, meint Aitmatow: "Literatur bedeutet vor allem individuelles Lesen und Erleben. (...) Ich denke nicht, daß die Kunst grundsätzlich danach streben muß, etwas unmittelbar zu verändern. Sie muß sich im Geist und in der Seele des Menschen verankern. Von dort aus beginnt sie zu wirken."

Tschingis Aitmatow wird von seinen heutigen Lesern oft vorgeworfen, dass er sich zu sehr von seinen Wurzeln entfernt habe, und dass er jetzt, da das Land sich mit den Geburtswehen der Selbständigkeit plage, nicht Stellung nehme, sich nicht einmische. Viele Kyrgysen sagten zu Michael Martens, wie sehr sie bedauerten, daß er die problematische Gegenwart seines Landes nicht literarisch verarbeite.

Das Büchlein Mein Lebensziel ist das Schaffen wird mit biografischen Daten Aitmatows ergänzt und mit einem Verzeichnis seiner in Deutsch lieferbaren Titel. Hier wäre mir allerdings eine Auflistung aller seiner auf Deutsch erschienenen Werke lieber gewesen - schließlich gibt es ja  auch Antiquariate.

Michael Martens, 1973 in Hamburg geboren, bereiste außer Kyrgysstan auch andere Regionen der ehemaligen Sowjetunion: So war er auch einige Zeit  in Tadshikistan und Usbekistan. Er veröffentlicht seine Reportagen, Feuilletons und Interviews in zahlreichen bekannten Zeitungen und Zeitschriften in Deutschland, Österreich und in der Schweiz.

Warum - so  frage ich  mich - bleibt Michael  Martens hartnäckig dabei, Aitmatows Heimat Kirgisien zu nennen, obwohl   Tschingis Aitmatow  stets von Kyrgysstan (Kyrgyzstan) spricht - so umbenannt nach der Unabhängigkeit  dieser ehemals Sozialistischen Sowjetrepublik.

Als gute Ergänzung zu diesem Buch bietet sich "Begegnung am Fudschijama" an, ein Dialogbuchbuch zwischen dem Kyrgysen Tschingis Aitmatow und dem Japaner Daisaku Ikeda.


Gisela Reller / www.reller-rezensionen.de

 

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Am 26.05.2005 ins Netz gestellt. Letzte Bearbeitung am 12.01.2017.

Das unterschiedliche Schreiben von Eigennamen ist den unterschiedlichen Schreibweisen der Verlage geschuldet.

  
Reitertasche:
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Kyrgysen
aus

Leder.

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