Sachbuch REZENSIONEN | ||||||
Die Literatur - ein großer Tiegel, in dem alte Motive umgeschmolzen werden? | ||||||
Michael Maar | Deutscher; über "Lolita" von dem Russen / Amerikaner Vladimir Nabokov | |||||
Lolita und der deutsche Leutnant | ||||||
Suhrkamp Verlag, Frankfurt / Main
2005, 100 S. |
Ich bin keine "Nabokovianerin", die aufschreit, wenn es jemand wagt,
Vladimir Nabokov
(literarisch) anzugreifen. Und so kann ich Michael Maar*
und sein literaturkritisches Buch Lolita und der deutsche Leutnant
sachlich zur Kenntnis nehmen und mich an des Autors Beweisführung
erfreuen. Worum geht es?
Michael Maar (1960 in Stuttgart geboren, Studium der Germanistik und der Psychologie, lebt in Berlin) entdeckte zufällig "Die verfluchte Gioconda", eine Sammlung von fünfzehn Erzählungen von Heinz von Lichberg (eigentlich: Heinz von Lichberg-Eschwege). In diesem 1916 erschienenen Buch gewahrte er u. a. eine Erzählung, in der sich ein Mann - in einer Pension im Ausland wohnend - in ein blutjunges Mädchen verliebt, das am Ende stirbt. Der Name des Mädchens und der Erzählung ist Lolita. Wahrlich, erstaunliche Ähnlichkeiten mit Nabokovs "Lolita". Heinz von Lichberg findet sich in keinem Lexikon, und auch in den Literaturarchiven, schreibt Michael Maar, fände sich von ihm kaum eine Spur. Die einzige Enzyklopädie, die ihn aufgenommen habe, gibt seine Lebensdaten - von 1897 bis 1937 - falsch an; denn Heinz von Lichberg lebte von 1890 bis 1951, war Feuilletonist, Rundfunkreporter (Vielleicht hat der eine oder andere Betagte noch dessen enthusiastische Stimme im Ohr, als er am 30. Januar 1933 über den Fackelmarsch zur Reichskanzlei berichtete...), Autor trivialer Erzählungen und vor allem ein recht bekannter Journalist, der auch für den "Völkischen Beobachter" schrieb. Karriere machte er auch in der Wehrmacht, genauer im Geheimdienst, dort war er Oberstleutnant. Die erste Frage, die sich Maar in seinem Buch Lolita und der deutsche Leutnant stellt, ist natürlich die, ob Nabokov die Erzählung "Lolita" von Heinz Lichberg gekannt haben könnte. Maar bejaht die Möglichkeit, denn Nabokov lebte fünfzehn Jahre lang - von 1922 bis 1937 - als Emigrant in Berlin und konnte die deutsche Sprache lesen. Warum sollte ihm die "Lolita" von Lichberg also nicht in die Hände gefallen sein? Maar zieht alle Register, um die bemerkenswerte "Übereinstimmung von Handlungskern, Erzählperspektive, Namenswahl und Titel" zu beweisen. (Wir wissen, dass es bei Nabokov einige Lolita-Vorgängerinnen gibt: in "Ein Märchen", 1926; in "Gelächter im Dunkel",1932; in "Der Zauberer", 1939). Ein außerordentlich überzeugender Hinweis, dass Nabokov von Lichbergs Erzählungssammlung "Die verfluchte Gioconda" gelesen haben muss, ist m. E. die Tatsache, dass in Nabokovs Drama "Walzers Erfindung" (1938) ein Männerpaar namens Walzer auftritt. Auch in von Lichbergs "Lolita", der neunten Erzählung des Sammelbandes, heißen die beiden Brüder Walzer. "Selbst der graue Bart, bei Lichberg mit roten Strähnen durchsetzt, fehlt bei Nabokov nicht." Maar nennt diese Namensübereinstimmung dann auch die "frappierendste" Übereinstimmung. Bleibt die Frage, ob Nabokov seine weltberühmt gewordene Lolita geklaut, ob er Plagiat begangen hat? Maar hält es erstens aber auch durchaus für möglich, dass Nabokov Lichbergs Erzählung -
trotz alledem - nie gelesen hat und eine der zufälligen Koindenzen
(Zusammentreffen zweier Ereignisse) vorliegt, "wie sie in der Geschichte
der Kunst und Wissenschaft immer wieder passieren". Es gehöre laut
Aristoteles, schreibt er, zu den Gesetzen der Wahrscheinlichkeit, dass
Unwahrscheinliches geschieht.
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Gisela Reller / www.reller-rezensionen.de * Die "Berliner Zeitung" berichtet am 03.02.2010, dass der Essayist und Literaturkritiker Michael Maar den Heinrich-Mann-Preis der Berliner Akademie der Künste erhält. Maar sei der "Detektiv unter den Essayisten", heißt es in der Jurybegründung. Er könne Texte wiederbeleben, "die wir in oberflächlich-abschließender Bewunderung im Archiv abgelegt und nie mehr befragt hatten." Maars Stil sei makellos, unangestrengt und fließend mit einer Sogwirkung, der der Leser sich nicht entziehen könne. Michael Maar wird die Auszeichnung am 28. März 2010 entgegennehmen. - Maar veröffentlichte zahlreiche Bücher, darunter "Thomas Mann und die Schuld", "Warum Nabokov Harry Potter gemocht hätte" und "Proust Pharao".
** Dmitri Nabokov, der einundsiebzig Jahre
alte Sohn und Nachlassverwalter
Vladimir Nabokovs, kämpft gegenwärtig
mit sich, ob er das letzte Romanfragment seines Vaters "The Original of
Laura" wie von ihm verfügt, unveröffentlicht verbrennen soll. "Ich
habe", so sagte er im November 2005 der
Moskauer Tageszeitung "Iswestija", noch keine
endgültige Entscheidung getroffen und weiß nicht, ob die Sohnestreue
siegen wird, oder ob dieses originelle und wunderbare, wenn auch
unvollendete Kunstwerk leben wird." Jüngste Ereignisse würden ihn
eher in der Absicht bestärken, fuhr er fort, den Willen des Autors zu erfüllen und "Laura" zu
verbrennen. Der Ärger des in Montreux (Schweiz) lebenden Dmitri Nabokov
richtet sich vor allem gegen Deutungen, der vor fünfzig Jahren
erschienene Nabokov-Welterfolg von "Lolita" fuße auf eigene
Erfahrungen des Schriftstellers - wie aus dessen Tagebuch von 1974
hervorgehen soll. | |
Weitere Rezensionen zur Person "Nabokov": | |
Am 13.09.2005 ins Netz gestellt. Letzte Bearbeitung am 12.01.2017. Das unterschiedliche Schreiben von Eigennamen ist den unterschiedlichen Schreibweisen der Verlage geschuldet. | |
Mit wem du dich abgibst, den lädst du dir auf. | |
Sprichwort der Russen |
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