Sachbuch REZENSIONEN

Wie sich die Zigeuner über die Welt verstreuten...

Serbischer Rom (Zigeuner); u. a. über die russischen Roma
Die Literatur der Roma und Sinti
Edition Parabolis, Berlin 2002, 208 S.

Die Geschichte und die Sprache weisen die Roma und Sinti* (Zigeuer) als Abkömmlinge und enge Verwandte einer ursprünglich indischen Bevölkerung aus, deren erzählerisches Kulturgut zugleich die Merkmale dieser Herkunft wie auch die Spuren einer jahrhunderte währenden Wanderung von Indien über den Iran und die Türkei nach Südosteuropa und in den Norden Afrikas trägt. (Von Tatjana W. Mentzel erschien 1988 "Die Zigeunersprache. Nordrussischer Dialekt" im Verlag Enzyklopädie, Leipzig, darin auch Sprichwörter und sprichwörtliche Redensarten.) Zur Zeit wird die Roma-Sprache unter dem Übergewicht der jeweiligen Landessprachen immer weiter zurückgedrängt; in Deutschland gibt es für die Roma-Sprache nicht einmal amtliche Dolmetscher. Übrigens war es die serbische Romni Gina Ranjicic (1831-1890), wie die meisten Roma zweisprachig, die sich offen zu ihrer Herkunft bekannte und ihre Werke in der Roma-Sprache schrieb.

Wie andere Völker auch, erzählen sich Roma und Sinti Mythen über die Schöpfung der Welt und des Menschen sowie über die Herkunft der Urahnen. Dieser Mythos (im Buch von Djuric abgedruckt) berichtet von der Erschaffung der Roma:

"Eines Tages beschloss Gott, den Menschen zu erschaffen. Er nahm Lehm, formte daraus eine Figur und tat sie in ein Gefäß, um sie zu brennen. Dann ging er spazieren. Als er zurückkehrte, war der Mensch ganz verbrannt und vollkommen schwarz. Er wurde der Urahn der Schwarzen. - Gott versuchte von neuem, einen Menschen zu erschaffen. Wieder formte er eine Figur und tat sie in das Gefäß, um sie zu brennen. Aus Angst, sie könnte wieder verbrennen, öffnete er das Gefäß zu früh. Der Mensch war ganz weiß. Er wurde der Urahn der Weißen. - Gott beschloss zum dritten Mal, einen Menschen zu erschaffen. Er formte wieder eine Figur und tat sie in das Gefäß, um sie zu brennen. Dieser Mensch war am besten gebrannt, er hatte die Farbe des Goldes. Er wurde der Urahn der Roma."

Mythen der Roma und Sinti erzählen aber auch, wie der Mensch zu einem sterblichen Wesen wurde oder wie die Dämonen entstanden. Andere Mythen beschreiben das Paradies und die Hölle. Oder sie berichten von der Entstehung `wundertätiger´ Pflanzen, verschiedener Tiere, aber auch von Gegenständen, wie zum Beispiel der Violine. Im Unterschied zu anderen Völkern, insbesondere zu jenen, die in hoch entwickelten Zivilisationsformen leben und ihre eigenen Mythen als "ferne Vergangenheit  betrachten, begreifen die Roma und Sinti ihre Mythen als Geschichten des Gestern, manchmal sogar als Geschichten der Gegenwart" (Rajko Djuric).

Djuric berichtet in seinem Kapitel "Die Volksliteratur der Roma und Sinti" weiter über deren Märchen und Lieder. Viele Märchen erzählen vom sagenhaften Reich der Roma und Sinti, die Helden erscheinen häufig mit Eigenschaften, die sie als Roma kenntlich machen. "Dies sind besondere Namen, die spezifischen historischen und sozialen Umstände, unter denen sie jeweils agieren, oder Symbole, mit denen sie ausgestattet sind."

Auf zehn Buchseiten nennt Rajko Djuric "Sammlungen von Roma-Märchen. "Der Nachtvogel. Zigeunermärchen aus Russland" (Verlag Volk und Welt, Berlin 1986, Aus dem Russischen von Renate Landa, Illustrationen von Karla Woisnitza) ist nicht dabei! Dieses Märchen erzählt, "Wie sich die Zigeuner über die Welt verstreuten":

"Es ist nun schon lange her, da war ein Zigeuner mit seiner Familie unterwegs. Sein schwächliches, klapperdürres Pferd mußte einen vollbeladenen Leiterwagen ziehen, denn der Zigeuner hatte eine große Familie, eine ganze Schar Kinder. Wie sollte er sie alle satt bekommen? Auch das Pferd wollte fressen, aber nirgends war Heu zu ergattern. Der Zigeuner mußte stehlen, doch das klappte nicht immer. So zog er durch die Welt und litt große Not. Auf den Wagen durften nur die kleineren Kinder sitzen, sonst hätte sich das Pferd nicht mehr von der Stelle gerührt. Wer älter war, mußte hinter der Fuhre hergehen. Der Wagen war so überladen mit Hausrat und Kindern, daß er schwer zu lenken war. Er schwankte mal nach links, mal nach rechts, mal viel ein Topf herunter, mal ein barfüßiges Kind. Bei Tage, wenn alles gut zu sehen war, sammelte der Zigeuner Topf und Kind wieder ein, im Dunkeln aber konnte er nicht alles im Auge behalten. Wie sollte er auch bei den vielen Kindern? Er wäre mit dem Zählen gar nicht nachgekommen. Also gab er dem Pferd die Peitsche und ging immer geradeaus. - Und so geschah es denn: Da blieb ein Kind zurück, dort ein zweites. Der Zigeuner durchstreifte die ganze Welt, fuhr kreuz und quer durch alle Länder, und überall hinterließ er Kinder. Seit damals haben sich die Zigeuner über die ganze Welt verstreut."

In der Volksdichtung der Sinti und Roma ist das alltägliche Leben eines der zentralen Themen. Armut und Mangel, Völkerwanderungen, Herumirren und Verfolgung, Folter und Leid sind die Themen vieler Lieder. In anderen kommen besonders historische Ereignisse, die Namen der an ihnen beteiligten Personen und der Orte des Geschehens vor, so dass die Lieder "wie im lyrischen Ton erzählte, komprimierte Chroniken wirken". In den durch das alltägliche Leben inspirierten Liedern ist die Liebe eines Mädchens zu einem jungen Mann, und umgekehrt, die Liebe eines jungen Mannes zu einem jungen Mädchen, ein beliebtes Motiv. Auch Themen aus dem Familienleben und dem Leben der Gemeinschaft finden sich in großer Zahl in Wiegenliedern, Liedern zur Hochzeit oder Sterbeliedern. Von besonderer Schönheit sind die Lieder, in denen die Liebe zu Vater und Mutter besungen wird.

Von diesen allgemeinen Gedanken geht Djuric zur Literatur verschiedener Länder über: zur UdSSR und ihren Nachfolgestaaten Russland, Weißrussland (Belarus), die Ukraine, Moldawien und Lettland; zu Jugoslawien und seinen Nachfolgestaaten Mazedonien, Bundesrepublik Jugoslawien, Bosnien-Herzegowina, Kroatien, Slowenien; zu Bulgarien; zu Rumänien; zu Ungarn; zur Tschechischen und Slowakischen Republik; zu Polen; zu Österreich; zu Deutschland; zur Schweiz; zu Italien; zu Frankreich; zu Spanien; zu Großbritannien; zu Schweden und Finnland.

Entsprechend der Thematik meiner Homepage beschäftige ich mich bei dieser Rezension ausschließlich mit der ehemaligen Sowjetunion. Von den fünfzehn Republiken der einstigen UdSSR, in denen eine große Zahl von Völkern und nationalen Minderheiten lebt, sind Russland, die Ukraine und Moldawien am bedeutendsten für die Literaturgeschichte der Roma. Die Roma kamen bereits Ende des 14.Jahrhunderts auf die Krim und nach Moldawien; in Russland und in der Ukraine (Da gehörte die Krim noch zu Russland.) leben sie seit dem 15. Jahrhundert. Nach Rumänien und Ungarn waren Russland und Moldawien die von Roma am stärksten besiedelten Länder. Von den in Russland angesiedelten Stammes- und Dialektgruppen sind die zahlreichsten die Kelderari-Zigeuner (Djuric nennt sie Kelderasi.) 1985 hatte ich als Journalistin die Kelderari-Zigeunerfamilie Demeter in Moskau kennen gelernt, auch den Sohn von Istvan Demeter (1879-1969), der in diesem Buch als Rezitator von Gedichten und Geschichten der Roma aus Russland und von der Krim genannt ist. Von dem Sohn, Roman Stepanowitsch Demeter, erhielt ich mit Widmung "Folklore der Kelderari-Zigeuner" (auf Russisch) mit Märchen, Liedern, Sprichwörtern... (Geschrieben habe ich über diese Roma-Familie in der Illustrierten FREIE WELT 22/85.)

Ferner werden mit vielen interessanten Fakten diese Literaten vorgestellt: Adam Tikno (1875-1948), mit dem die Geschichte der russischen Roma beginnt; Alexandro Germano (1893-1955), der mit seinen Erzählungen, Novellen, Gedichten, Dramen als Begründer der Roma-Literatur in der ehemaligen UdSSR gilt, und u. a. Puschkins Poem "Die Zigeuner" sowie die Erzählungen "Makar Tschudra" und "Die alte Isergil" von Maxim Gorki ins Romanes übersetzte; Nikolai Pankow (1895-1959) schrieb Gedichte, verfasste 1934 die erste Fibel in Romanes, 1938 ein romanes-russisches Wörterbuch; Michailo Besljudsko (1901-1989) wurde 1930 Mitglied des Schauspielerensembles des Theaters "Romen", er schrieb Gedichte und Dramen; Iwan Iwanowitsch Rom-Lebedew (1903-1989) war ein bedeutender Dramatiker, verfasste fast dreißig Theaterstücke, wovon ich - Dank meiner russischen Freundin Raissa - mit großer Anteilnahme "Hochzeit im Lager", "Feurige Pferde" und "Wir Zigeuner"  gesehen habe, ich ließ, wenn ich in Moskau weilte, keine Möglichkeit aus, in "mein" geliebtes Zigeuner-Theater zu gehen; Nina Dudarowa (1903-1977) war wie Olga Pankowa (1911-1983) Dichterin, von Pankowa stammte das erste gebundene Buch in der Geschichte der Literatur  der Roma aus der Feder einer Frau; Nikolai Satkewitsch (1917-1978)  schrieb Gedichte, Balladen und Poeme und verfasste eine Bibliographie von Büchern und Artikeln über die Roma, die zwischen 1624 und 1966 entstanden waren; Ilko Mazuro (1939 in Moldawien geboren) schrieb Gedichte, Sonette, Poeme; Karlo Rudevic (1939 in Lettland geboren) schrieb Gedichte; "während des Zweiten Weltkrieges erschossen die Deutschen fünf Brüder seines Vaters und zwei Onkel seiner Mutter zusammen mit ihren Familien**; Iwan Michailowitsch Pantschenko (Ivan Romano, geboren 1941 in einem Dorf des Altaigebirges) schrieb Gedichte; Aleksandar Belugin (Leksa Manusch, 1941-1997) schrieb ebenfalls Gedichte; Michailo Grigorowitsch Kosimirenko (geboren 1938 in der Ukraine) schrieb Gedichte und übersetzte den ukrainischen Nationaldichter Taras Schewtschenko ins Romanes; der Ukrainer Stepan Kelar Pilipovis (geboren 1939) hat sich, obwohl selbst kein Rom, in Bezug auf die Förderung der Literatur der Roma in der Ukraine, in Russland und ganz Europa große Verdienste erworben; Waldemar Kalinin (1941 in Witebsk, Weißrussland, geboren, arbeitet neben seiner schriftstellerischen Arbeit an einer Übersetzung der Bibel ins Romanes; Jurij Osipovič Dombrovskij (1909-1978) gilt als herausragender russischer Roma-Schriftsteller, er wurde durch die Romane "Hüter der Altertümer" und "Fakultäten der unnötigen Dinge" bekannt, als Verfolgter der Stalin-Diktatur wurde er zwischen 1933 und 1957 dreimal in Lager verschleppt, verbrachte dort insgesamt zwölf Jahre seines Lebens, 1966 wurde er rehabilitiert.

Mit diesem Buch unternimmt Rjako Djuric, selbst Rom, erstmals den (gelungenen) Versuch, die Literatur der Roma und Sinti von ihrem Anfängen bis zur Gegenwart zu erfassen und zu systematisieren. "Die besondere Herausforderung eines solchen Unternehmens", schreibt Djuric, "liegt in der Tatsache, dass es sich bei den Roma und Sinti nicht um ein einheitliches Volk mit einer gemeinsamen kulturellen Erinnerung handelt. Der gegenwärtig in vielen europäischen Ländern zu beobachtende Prozess des politischen Aufstrebens der Roma und Sinti zeigt jedoch deutlich, welche außerordentliche Bedeutung einer eigenen literarischen Tradition im Hinblick auf die kulturelle Identität dieses Volkes zukommt."

Die vorliegende Literaturgeschichte - die, so hoffe ich, viel zur Überwindung von Vorurteilen, Unkenntnis und kultureller Marginalisierung beitragen wird -  ist das Ergebnis einer langjährigen und umfassenden Forschungsarbeit seit Beginn der achtziger Jahre und bietet Informationen über Autoren und Werke sowie einen Überblick über Gattungen und Genres und ihre sozialgeschichtlichen Bedingungen. Ich wünschte mir, dass Djurics Publikation  von jungen Wissenschaftlern als Ansatzpunkt verstanden wird, weiterzuforschen und noch mehr in die Tiefe zu dringen.

Rajko Djuric, vor allem als Lyriker und Essayist hervorgetreten, wurde 1947 in Malo Orasje (Serbien) geboren. Er legte in Belgrad sein Philosophiediplom ab und promovierte mit einer Studie über Kulturgeschichte und Bräuche der Roma. Bis 1991 arbeitete er als Journalist und Redakteur für die Belgrader Tageszeitschrift "Politika". Bei Ausbruch des Krieges emigrierte er als Pazifist und Gegner des Milosevič-Regimes nach Deutschland, wo 130 000 Roma leben. Von 1990 bis 2000 war Djuric Präsident der Internationalen Romani-Union; bis heute ist er Generalsekretär des Roma PEN.Zentrums.

Im Verlag Parabolis erscheinen Sachbücher, Arbeitshefte und Zeitschriften über Migration, Rassismus, Nationalismus und ethnische Minderheiten, 2002 brachte der Verlag Parabolis - auch von Rajko Djuric - das Buch "Die Symbole der Roma und Sinti" heraus.

Gisela Reller / www.reller-rezensionen.de

    * In Berlin soll 2006 nahe des Berliner Reichstags ein Sinti- und Roma-Mahnmal aufgestellt werden - von dem Künstler Dani Karavan aus Israel.

  ** In mancher Hinsicht ist das Schicksal von Juden und Roma ("Rom" heißt Mensch) vergleichbar: Beide Völker lebten über Jahrhunderte als Nationen ohne Staat in vielen Ländern verteilt. Jahrhunderte lang wurden sie von den "Seßhaften" verachtet, verflucht, gehetzt und vertrieben, weil sie   a n d e r s   waren, weil sie ihr eigenes, alten Stammesgesetzen und -bräuchen gehorchendes Leben lebten, blieben sie Ausgestoßene, Unbekannte. Den grausamen Höhepunkt des Hasses bedeutete für beide Völker die Herrschaft der Nazis. Als "brothers in smoke", wie der Schriftsteller - selbst Jude und Rom - es bezeichnet, fielen die Menschen beider Völker dem Holocaust zum Opfer. Man spricht von 500 000 Opfern in ganz Europa. In der Aufarbeitung dieser Katastrophe aber unterscheidet sich vieles. Während Juden nach dem Krieg ihren eigenen Staat gründeten, die Shoah umfassend erforscht und thematisiert, Täter verurteilt und Opfer "entschädigt" wurden, hatte der Massenmord an einer halben Million Roma und Sinti über lange Zeit kaum Folgen. Einen Grund dafür sieht Rajko Djuric, Vorsitzender des Romano Rats und Präsident des Romano PEN-Zentrums, darin, dass Roma und Sinti selbst (Man spricht von 145 000 Überlebenden.) sich bisher wenig mit dem Verbrechen an ihrem Volk auseinander gesetzt haben. Die dazu erforderlichen Bildungs- und Forschungsmöglichkeiten fehlten ihnen. Das hat sich in den vergangenen Jahren geändert. Immer mehr Roma erobern die Hochschulen und entdecken ihre Identität. - Anlässlich des 60. Jahrestages der Errichtung des "Zigeunerlagers" in Auswitz-Birkenau veranstaltete der Romani Rat im Berliner "Haus der Kulturen der Welt" ein "Europäisches Festival der Musik der Roma und Sinti", in dessen Zentrum eine Wochenendkonferenz über den Holocaust stand. Es war die erste Tagung dieser Art in Europa und nicht nur für die 12 Millionen hier lebenden Roma ein wichtiges Ereignis. - Erfreulich auch, dass Schüler einer 11. Klasse der Berlin-Marzahner Leonard-Bernstein-Oberschule sich 2003 anlässlich des Geschichtswettbewerbs des Bundespräsidenten  mit dem "Zigeunerlager Marzahn" beschäftigten. (Nähere Einzelheiten in: "Neues Deutschland" vom 31.10.2003.)

 

Weitere Rezensionen zum Thema "Zigeuner":

  • Lalja Kuznetsova / Reimar Gilsenbach, Russlands Zigeuner. Ihre Gegenwart und Geschichte.

Am 06.12.2005 ins Netz gestellt. Letzte Bearbeitung am 12.01.2017.

Das unterschiedliche Schreiben von Eigennamen ist den unterschiedlichen Schreibweisen der Verlage geschuldet.

Wenn einer nach dir mit einem Stein wirft, dann bewirf du ihn mit Brot.
Sprichwort der russischen Zigeuner

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