Obgleich er ein Dichter sei, halte er
nichts von Pfuscharbeit, bedeute ihm jedes Detail viel, schreibt
Iosseb Grischaschwili (1889- bis 1965) in Niemals hat der Dichter eine
Schönere erblickt... Und da ich, die ich eine Journalistin bin,
ebenfalls nichts von Pfuscharbeit halte, bedeutet auch mir
jedes Detail sehr viel. Und darum, genau darum halte ich dieses
detailreiche Buch über die alte Stadt Tbilissi, für kultur-historisch so außerordentlich wertvoll.
Grischaschwilis Buch ist eine vergnügliche (und informative)
Lektüre - ein Geflecht aus Reiseberichten, Märchen, Legenden,
Sprichwörtern, Szenarien, Porträts, Versen..., die dem Leser das
unverwechselbare Georgien nahe bringen. "Ich hänge an jeder
Einzelheit", gesteht der Autor, "da ich mir nun mal zum Ziel gesetzt
habe, nicht mehr Existierendes wiederzugewinnen." Und so erzählt
Grischaschwili von einer georgischen Fürstin, die als Gefangene dem
persischen Schah zugeführt wird, von den Aschugen - den Liederdichtern
und Sängern, die besonders gern von der Liebe singen - vom Karatschocheli und dem Kinto, ohne die "sowohl Tbilissis Straßen als
auch der Maidan als auch die Volksfeste unvorstellbar waren."
Grischaschwili lässt uns alles wissen über das Chansfest (Keenoba),
den Faustkampf (Kriwi), das Zunfthandwerk (Amkroba) und die
Zunfthandwerker (Amkari): "Niemandes Neider zu sein und üble Nachrede
gegen einen Zunftbruder zu unterlassen, war das ungeschriebene Gebot
der Amkari. So lebten die Zünfte seit unvordenklichen Zeiten in
Freundschaft und Eintracht." Aber flugs kommt Grischaschwili eine
Legende über die schöne alte Burg Chertwissi in Südgeorgien in den Sinn: "Die Burg besitzt zwei hohe
Türme. Königin Tamar war es, die zwei Maurern befohlen hatte, diese
Türme zum Schrecken und zum Neid der Feinde zu errichten. Darauf baute
der eine, der Meister, den östlichsten Turm, und sein Schüler baute
den westlichen. Bald ging im Volk die Rede, daß der westliche Turm
anmutiger und zugleich wehrhafter sei als der östliche. Diese Rede
gelangte bis zur Königin. Tamar begab sich hin, um die Türme zu
besichtigen, das Werk des jungen Handwerkers gefiel ihr, und sie
beschenkte ihn großzügig. Der Meister ließ sich die Kränkung nicht
anmerken, doch in seinem Herzen wuchs die Mißgunst. Er wartete, bis
sein Schüler den letzten Stein auf dem Turm vermauerte - da stieß er
die Leiter, die an der Turmwand lehnte, um. Ohne die Leiter war eine
Rückkehr zur Erde nicht möglich..."- "Wie schlimm ist doch Mißgunst",
kommentiert Grischaschwili.
Breiten Raum nehmen im Buch die georgischen Sitten und Bräuche ein.
Wenn Grischaschwili zum Beispiel über die Mitgift plaudert, von den
angehenden Ehemännern "Bestechungsgeschenke" genannt, so gibt er auch
einige "Aussteuer-Lieder" dazu und gewährt uns Einblick in mehrere
"Aussteuerverzeichnisse" - mit Wäsche, Kleidern, Schmuck, Badezubehör,
Geschirr, jedes Stück genau beschrieben. Und fast immer sind Bücher
dabei "welche dem Verstande [der Braut]
angemessen..." Hier das Aussteuerverzeichnis eines nicht sehr wohlhabenden Vaters:
"Meiner innigst geliebten Tochter gebe ich alles mit, was ich nur habe:
Eine Puppe nebst Anputz
eine Chiffoniere aus Nußbaumholz
vier Kissen samt Bezügen
vier Vorhänge für Fenster und Türen
ein Brotschränkchen
zwei Hakenstangen zum Heraufholen des Brotes aus dem Tone-Backofen
einen Backtrog mitsamt Schabeisen
ein Dutzend Löffel von guter Fabrikation
einen kupfernen Mörser samt Stößel
einen georgischen Mdiwanow-Kalender
einen Badeziegel aus Bimsstein für die Füße
ein ärmelloses Hemd für das Badehaus
sechzehn Kapitel des `Karaman-Buches´!
mehrere Mausefallen
eine Nähmaschine Marke `Singer´
zwölf Spulen Nähgarn
zwei Harnabflußvorrichtungen für die Wiege - für einen Jungen und für ein Mädchen
ein silbernes Tablett von achteinhalb Pfund Gewicht
eine Konfitürenschüssel
ein kupfernes Becken mit Wasserkanne
ein halbes Dutzend gelber Kutaissier Besen
ein Sieb
einen großen Rosenkranz aus Bernstein
für den Schwiegervater eine Schnupftabakdose mit dem Bildnis des Schahs
für die Schwiegermutter ein schwarzes Seidenkleid
für die Schwägerin einen teuren Seidenschal
eine Wäscheschüssel, drei Kessel, einen Feuerbock
sechs grüne Seidentücher
eine Duftschale
ein Paar Schlummerrollen mit Wollefüllung
zwei Bettstellen mit Matratzen
zwei Teppichläufer und dazu Ausklopfer
eine Wäscheleine und Klammern
einen Karabadini, das Heilkundebuch
fünf Klumpen Ziegenfett
Henna und weiße Farbe, untermischt mit getrockneter Granatapfelschale, hilfreich bei Kopfschmerz
getrocknete Wildbirne gegen Magenerkrankungen...
Sehr amüsant Grischaschwilis Kapitel über "Das Badehaus", in dem er
Alexander Puschkin zitiert aus seiner "Reise nach Erzurum während des
Feldzuges im Jahre 1829: "Im ganzen Leben traf ich weder in
Rußland noch in der
Türkei etwas Wundervolleres an wie die Bäder von Tiflis. Ich will sie
eingehender beschreiben: Der Hausherr überließ mich der Obhut des
Badeknechts, eines Tataren. (...) Hassan begann damit, daß er mich auf
den warmen Steinfußboden legte; sodann ging er daran, mir die
Gliedmaßen zu brechen, an meinen Gelenken zu zerren, mit harten
Fäusten auf mich einzuschlagen. (...) (Die asiatischen Badeknechte
geraten bisweilen in Extase, sie springen einem auf die Schultern,
gleiten mit den Füßen über die Hüften und vollführen auf dem Rücken
einen Hochtanz..." Dem gegenüber gestellt ein kleiner Auszug aus Egon
Erwin Kischs Reportage aus den Schwefelbädern in Tiflis (zitiert nach:
EUROPA ERLESEN, Georgien, Hrsg. von Fried Nielsen, Wieser Verlag,
Klagenfurt 2006): "Nachdem du dich auf den Bauch gelegt hast (...) hat
sich der Moslem [der "Badeknecht"]
auf dich gestellt, als wärest du eine Gebetmatte, dreht sich oben in
rhythmischen Bewegungen, dreht sich auf seinen Fersen, fühlt sich
sauwohl auf deinem Rückgrat und hüpft vergnügt von einem Bein aufs
andere. Du möchtest ihn aufmerksam machen: Hallo, das ist meine
Wirbelsäule, jedoch er würde dich nicht hören, denn der Kerl singt,
bei Allah, er singt. (...) Endlich verläßt er deinen Revers, aber nur
um mit seiner Ferse in deine Kniekehle ein Loch zu bohren..."
Interessante Einzelheiten teilt uns Grischaschwili auch über bei
uns unbekannte georgische Dichter mit: über Hasira, Giorgi Skandarnowa,
David Giwischwili, Beglar Achospireli (übersetzte Maxim Gorkis
"Nachtasyl" ins Georgische), Anton Gandshiskareli, Ietim Gurdshi
- immer verbunden mit Vers-Beispielen.
Schon 2002 hatte ich in Leonhard Kossuths
"Autobiographisches
Zeugnis von einem legendären Verlag" (Volk & Welt) von
"einer Entdeckung in Georgien" gelesen: eine Kollektion farbiger Ansichtskarten
über die alte Stadt Tbilissi - die bis 1936 offiziell Tiflis hieß -
von Oskar Schmerling (1863-1938); der georgiendeutsche Maler und Graphiker
gilt auch als Begründer der georgischen Karikatur. "Diese Karten", schreibt Kossuth
in den neunziger Jahren,
"schienen mir genau das zu sein, was ich an Illustrationen zu einem
schon lange für die Herausgabe geplanten Buch gesucht hatte." Für
diese Edition hatten Kristiane Lichtenfeld als Übersetzerin und
Leonhard Kossuth als Herausgeber noch Anfang 1989 Verträge mit dem
Berliner "Buchverlag Der Morgen" unterschrieben. Doch dann stellte
dieser Verlag - der Wende geschuldet - seine Arbeit ein. Nun liegt das Buch,
fast zwei Jahrzehnte später, dennoch vor, zu verdanken der
(mir schon seit fast fünfzig Jahren vertrauten) Kossuthschen
Hartnäckigkeit. Schmerling hatte seine Postkartensammlung 1910
herausgegeben und sie 1928 Grischaschwili gebracht, doch dessen Buch
war bereits 1927 erschienen. Bedauernswert, denn es scheint, als hätte Schmerling seine Typen des alten Tbilissi auftragsgemäß für das
Buch von Grischaschwili geschaffen: Hier finden sich Klatschbasen und
Zecher, Politiker und Teppichverkäufer, Surnabläser und
Mazoniverkäufer, arme Händler, reiche Sommerfrischler und ein
georgisches Fürstenpaar, Melonenverkäufer und Schaschlykbrater,
Stutzer und Schuhmacher, Kohlenverkäufer, Tänzer und plaudernde alte Männer auf
einer Parkbank...
Des Deutschen Leonhard Kossuth Verdienst ist es, den georgischen
Text-Autor Iosseb Grischaschwili und den georgiendeutschen Zeichner siebzig
Jahre später zu dem sehr lesens- und ansehenswerten Buch Niemals
hat der Dichter eine Schönere erblickt... doch noch vereint
zu haben.
Fast scheue ich mich, es zu schreiben: Gegenwärtig weiß ich mehr
über das alte Tbilissi als über das alte Berlin...
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