Den
Namen Galsan Tschinag erhielt Irgit Schynykbaj-oglu Dshurukuwaa in der
Schule - wie der Autor in seinem Geschichtenband "Auf der großen
blauen Straße" erzählt. Geboren wurde er Mitte der vierziger Jahre
(das genaue Datum ist nicht bekannt) in einer Jurte im westmongolischen
Altaigebirge als Vertreter der kleinen Volksgruppe der Tuwa. Schon früh
wurde er in der Schamanenkunst unterwiesen, die er bis heute betreibt. Auf
dem Pferderücken aufgewachsen, war ihm eine Zukunft als Schaf- und
Ziegenzüchter bestimmt. Doch es kam anders - ähnlich wie bei dem
usbekischen Autor Uchqun
Nazarov, der Pferdezureiter werden sollte, aber auch ein Schriftsteller
wurde...
Galsan Tschinag war auf der Schule so wiss- und lernbegierig, dass man dem
begabten Schüler ein Stipendium für Moskau
anbot. Das schlug er aus, um stattdessen 1962 in Leipzig ein
Germanistikstudium zu beginnen. Nach sechs Jahren DDR-Aufenthalt
beherrschte er die Sprache so gut, dass er anfing, auf Deutsch zu
schreiben. Seine ersten Erzählungen schickte er an den Schriftsteller Erwin
Strittmatter. Der erkannte seine literarische Originalität und half ihm,
1981 "Eine tuwinische Geschichte" im Ostberliner Verlag Volk und Welt zu
veröffentlichen. Seitdem sind mehr als ein Dutzend Romane und Erzählbände
von Galsan Tschinag auf Deutsch erschienen, alle wortgewandt,
sprachschöpferisch, phantasievoll...
Die neun Träume des Dschingis Khan ist sein jüngstes Buch. Die Neun
scheint bei den mongolischen Nomaden eine heilige Zahl zu sein: Es sind
neun Männer, die Temüdschin mit achtundzwanzig Jahren zum Khan bestimmen;
es sind neun Verfehlungen, die Dschingis Khan für straffrei erklärt; es
sind neun Widderknöchel, die anlässlich eines Festes geworfen werden; es
sind neun Söhne, die zu zeugen und in seinen Dienst zu stellen ein
Kampfgefährte dem erfolgreichsten Kriegsherrn aller Zeiten verspricht...
Tschinag erzählt in diesem tiefgründigen historisch-psychologischen Roman
das Leben des "weltenberggroßen" Mongolenherrschers Dschingis
Khan. Auch wenn Tschinag ein Tuwa, also kein Mongole ist, so sind ihm Riten
und Kultur, Denkweise und Verhalten der Mongolen durchaus vertraut. In neun
Tag- und Nachtträumen blickt der im Sterben liegende Stammesfürst - da mit
Tschinag etwa gleichaltrig - zurück auf seine Erfolge und Niederlagen, auf
seine Hoffnungen und auf seine Ängste. Auch auf seine Schuld. Der Vater,
ein Halbbruder, Freunde, Weggefähren fallen seinem Misstrauen ebenso zum
Opfer wie seine Feinde. Er ist grausam, heimtückisch, rachsüchtig,
verschlagen, traut nur sehr wenigen, fürchtet ständig Verrat. Niemandem
wagt er sich anzuvertrauen, schottet sein Herz gegen Mitgefühl und Milde
ab, gesteht sich keinerlei Schwäche zu. Das lässt an Stalin denken... "Keine
Chronologie hält die Traumerinnerungen zusammen. Kindheit und Mannwerdung,
erste Schlachten und bittere Verluste, alles zieht bunt durcheinander vor
seinem inneren Auge noch einmal auf", sagte Johannes Kaiser im
Deutschlandradio. Geschickt führt Galsan Tschinag den sterbenden
"ozeangroßen" Fürsten zu Selbsterkenntnissen, lässt ihn
begreifen, dass er sein Reich auf Krieg und Blut gegründet hat. Schließlich
erkennt er, dass er "ein sehender Blinder und hörender Tauber"
ist. Galsan Tschinag zeigt den Mongolenherrscher - "einem
Gipfelfelsen, einer Höhenlärche gleich" - aber auch als Menschen, der
Gefühle hat, den Gewissensbisse quälen. "Wie könnte es auch Gefährten
geben, wenn es nicht mehr das Vertrauen, sondern die Angst ist, wovon sich
ein jeder leiten lässt?"
Längst ist der "himmelgleiche Khanvater" ein Mythos geworden, in
der Mongolei wird Dschingis Khan noch heute fast als Gott verehrt. Er starb
1227 nicht durch Feindeshand, sondern - wie schmachvoll für einen
Reiterfürsten - nach einem Sturz vom Pferd bei der Jagd, sich selbst für
sein unentschuldbares Missgeschick verfluchend. Seine Fieberträume - oft
Albträume - sind in tiefes Rot getaucht: "Roter Himmel und rote Erde.
Dazwischen rot wehende Wälder. Rot schäumende Flüsse. So auch rote Krieger
zu roten Rossen, die her und hin jagten. Zu ihren Füßen die rot dampfenden
dunstenden Eingeweide der hingemetzelten Stadt."
Galsan Tschinag ist Stammes-Oberhaupt der mongolischen turksprachigen Tuwa,
die verwandt sind mit den westsibirischen Tuwinern.1996 erfüllte er sich
einen seiner Lebensträume, zur Rettung der alten Stammeskultur der Tuwa
beizutragen. In dreiundsechzig Tagen führte er Teile des Volkes der Tuwa,
die im Zuge kommunistischer Planwirtschaft im Norden der Mongolei
angesiedelt worden waren, in einer riesigen Karawane mit einhundertdreißig
schwer beladenen Kamelen, mit Schafen, Hühnern, Hunden und dreihundert Pferden
über fast zweitausend Kilometer zurück in ihre ursprüngliche Heimat, in das
Altai-Gebirge. Diese größte Karawane seit Dschingis-Khan erregte großes
Aufsehen in der Öffentlichkeit und stärkte das Selbstbewusstsein der
jahrzehntelang entwurzelten und unterdrückten tuwinischen Nomaden. Das Volk
der Tuwa in der Mongolei wird von Galsan Tschinag als "Insel der
Menschheit der vergangenen Jahrtausende" bezeichnet.
Den größten Teil des Jahres lebt Galsan Tschinag in der Landeshauptstadt
Ulaanbaatar (früher Ulan-Bator) und die restlichen Monate abwechselnd als
Nomade in seiner Sippe im Altai (Kürzlich besucht von dem Bergsteiger
Reinhold Messmer mit Sohn.) und auf Lesereisen im Ausland. Galsan Tschinag
erhielt 1992 den Adelbert-von-Chamisso-Preis und 2002 das
Bundesverdienstkreuz. Der Adelbert-von-Chamisso-Preis der Robert Bosch
Stiftung wird seit 1985 durch die Bayerische Akademie der Schönen Künste
verliehen. Mit diesem Literaturpreis wird das deutschsprachige, bereits
publizierte Werk von Autoren ausgezeichnet, die nichtdeutscher
Sprachherkunft sind, wie es auch Adelbert Chamisso war.
Ich gestehe, dass es mich Anstrengung gekostet hat, mich auf den Inhalt von
Die neun Träume des Dschingis Khan zu konzentrieren, da ich
hingerissen von Galsan Tschinags deutschen Wortschöpfungen bin, vor allem
von solchen unwiderstehlichen Adjektiven wie: alptraumfinster
[albtraumfinster], läuseklein, mäusedumm, mittagssonnenhell,
lockerzüngig, klecksklein, schafknöchelgroß, wachkeck, steinherzig,
bockstirnig, luchswach, gertenbiegsam, herztascheneng, atemheiß, haar- und
hautdicht, bleichverfroren, handtellerwinzig, glaubsüchtig, graugreise,
hexenschön, halsstur, piekschmuck... Aber auch seine zusammengesetzten
Substantive gefallen: Untierbauch, Machtteiler, Murmeltiermensch, Hosenlaus
und Himmelsadler, Schmausabend... Auch solche Formulierungen haben es mir
angetan: statt ein bisschen später, ein "Zeitchen" später, statt
vor langer Zeit "urlängst"; parallel zum Duzen kreiert Tschinag
das "Ihrzen"... Sicher, manchmal darf man an einem Neuwort auch
zweifeln. Rechtfertigt z. B. die gewünschte dreimal gleiche Anfangssilbe be
"beschnupperte ihr Haar, beküsste ihren Nacken, betätschelte
ihre Arme"?
Manchmal, ganz selten, hätte aber doch der Verlagslektor eingreifen sollen,
z. B., wenn es heißt, dass die Katze um die heiße Brühe (statt: um
den heißen Brei) herumschleicht oder wenn da unverständlich steht:
"Abgesehen von den Tausenden von Leben unserer Söhne, die hierzuecken
der Erde erlöschen mussten"(S. 165)...
In einem "Welt"-Interview (online) sagt Tschinag: "Siebzig
Jahre lang war es verboten, Dschingis Khan zu erwähnen." Nun, nach der
Rehabilitierung widere ihn die Instrumentalisierung des als heilig
geltenden Ahnen allerdings an. Besonders schlimm sei es 2006 gewesen, als
die Mongolei das achthundertjährige Jubiläum ihrer Reichsgründung feierte.
"Alle vereinnahmten den großen Stammesführer. Überall entstehen seine
Denkmäler. Nicht nur Banknoten und Briefmarken zeigen sein Porträt. Auch
Pulverkaffee, Bier- und Wodkamarken werben mit seinem Namen." Er
wollte den armen Kerl retten, sagt Tschinag, deshalb habe er das Buch Die
neun Träume des Dschingis Khan geschrieben.
Tschinags Roman basiert auf der "Geheimen Geschichte der
Mongolen", der einzigen zeitgenössischen mongolischen Biographie.
"Fast auswendig" habe er das zu Sowjetzeiten verbotene Buch
gelernt, gesteht Tschinag. Der Leipziger Mongolist Manfred Taube hat die
"Geheime Geschichte der Mongolen" ins Deutsche übertragen,
Tschinag hatte ihn während seines Germanistikstudiums (1962-1968) in
Leipzig kennengelernt. Galsan Tschinags in sprachgewaltigem
Deutsch geschriebener Roman ist keine Biographie des Dschingis Khan,
sondern eine Charakterstudie der Macht, die die meisten Menschen
(ver-)formt. Niemand vor noch nach Dschingis Khan hat ein solches Weltreich
begründet: Er eroberte mit seinen Reitertruppen nicht nur China und das
gesamte asiatische Land, sondern auch Russland und
halb Europa. Doch diese Machtfülle machte ihn einsam, beraubte ihn
menschlicher Nähe und aufrichtiger Freundschaft.
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