Beginnt man zu lesen, ohne vom Inhalt des Buches schon gehört zu haben,
ist man erst einmal baff; denn Hasen flattern von Wipfel zu Wipfel,
einen schwarzen Hasen muss man in sieben Wassern kochen, damit er nicht
giftig ist, den Menschen ist es über, "immer nur Mäuse und Mäuse" zu
essen... Bald versteht man, dass es sich um einen Zukunftsroman handelt
(Science-Fiction im herkömmlichen Sinne ist es nicht...) Kys
spielt nach dem Großen Knall (einer Atomkatastrophe?), der die Welt in
Schutt und Asche gelegt hat. Die Handlung ist in dem elenden Städtchen
Fjodor-Kusmitschsk angesiedelt, vor zweihundert Jahren war es das
strahlende Moskau.
Fjodor-Kusmitschsk, auf sieben Hügeln erbaut, ist von
Feldern umgeben, soweit das Auge reicht. "Im Norden sind tiefe Wälder
mit Knüppelholz, verschlungne Zweige lassen dich nicht durch, stachlige
Büsche fassen nach deinen Hosen, Äste reißen dir die Mütze vom Kopf."
In diesen Wäldern, wissen die alten Leute zu erzählen, haust die Kys.
Sie sitze auf dunklen Zweigen und schreit, wild und klagend:
Kyyyys!Kyyyys! Aber sehen kann sie keiner. "Kommt nur von ungefähr ein
Mensch in den Wald, springt sie ihm von hinten aufs Genick: Hopp! Und
packt mit den Zähnen das Rückgrat: Knack! Und tastet mit der Kralle nach
der größten Ader und reißt sie durch, und der ganze Verstand tritt aus
dem Menschen heraus. Kommt so einer zurück, ist er nicht mehr derselbe."
Nach Westen zu gehen, ist verpönt, nach Süden darf man nicht gehen. Im
Süden leben die Tschetschenen, Leute,
die auf dem Kopf Hörnchen haben.
Wenn die Wächter Tschetschenen erblicken, müssen sie schreien:
"Tschetschenen!
Tschetschenen!" und "dann läuft das Volk aus allen Slobodas [Ansiedlungen]
zusammen und haut mit Stöcken auf Töpfe, um die
Tschetschenen zu
verscheuchen. Und die kriegen einen Schreck und machen, dass sie
fortkommen." Allein nach Osten kann man gehen, da erstrecken sich grüne
Wiesen. Der
Hauptheld von Kys ist Benedikt, einer, der nach dem Großen Knall
geboren wurde. Benedikt Kerpytsch ist ein verträumter junger Mann,
dessen Liebe vor allem der Literatur gilt - auch wenn viele Mädchen ihm
sehnsüchtige Blicke zuwerfen. Er ist kerngesund und sieht blühend aus
- eine Ausnahmeerscheinung in Fjodor-Kusmitschsk. Die Menschen, die den
Großen Knall überlebt haben, heißen "Schätzchen" und werden seit dem
Großen Knall nicht älter. Benedikts Mutter z. B. hat sich im
zweihundertdreiunddreißigsten Lebensjahr durch falsche Feuerlinge
(wohl eine Art Pilze) vergiftet. Das Nicht-Altern ist bei ihnen eine so genannte
Spätfolge. Tatjana Tolstaja sagt in einem Interview über ihren Helden
Benedikt, den die Kys fest "im Blick hat": "Benedikt ist ein schwacher Held.
Er horcht in sich hinein und nimmt seine Ängste besonders stark wahr.
Dadurch wird er zum Sklaven seiner eigenen Psyche. Die zivilisatorischen
Mechanismen, die bei anderen Menschen zum Tragen kommen, funktionieren
bei ihm nicht. Sein Gewissen arbeitet nur unklar, er kann es nicht
benutzen, um bedacht zu handeln, sein Egoismus behindert ihn. Im Zentrum
meines Romans steht Kants moralischer Imperativ, das `Moralgesetz in
uns´ und der `Sternenhimmel über uns´."
Die Bevölkerung in Fjodor-Kusmitschsk
gliedert sich in "Vorige", die der alten "Intelligenzija" gleichen und
über zweihundert Jahre alt sind; in Transgeburten, die an den Typ des
Sowjetmenschen (des "Homo sovieticus")
erinnern; in "Schätzchen", den Nachgeborenen, denen (wie
Benedikt) ein kleines Schwänzchen wächst, weil sie sich nur von Mäusen ernähren.
"Die nach dem Großen Knall Geborenen
haben ganze unterschiedliche Spätfolgen: "Beim einen ist die Hand wie
mit grünem Mehl überzogen, als hätt er in Löffelmelde gewühlt, der andre
hat Kiemen, wieder ein andrer hat einen Hahnenkamm oder sonst was. Es
kommt auch vor, dass einer keinerlei Spätfolgen hat und ihm bloß auf
seine alten Tage Pusteln aus den Augen sprießen oder an einem
verschwiegenen Ort ein Bart zu wachsen anfängt, bis zu den Knien runter.
Oder an den Knien springen Nasenlöcher auf." Bei den Transgeburten ist
das Gesicht wie ein menschliches, der Leib aber ist mit Fell bedeckt,
und sie laufen auf allen vieren.
Warum es den Großen Knall gegeben hat?
"Es scheint, die Menschen haben zu viel mit ihren ROHRKETEN [Raketen] rumgespielt."
In dieser neuen Welt gibt es im Laden
"Staatswurst aus Mäusefleisch, Mäusespeck, Mehl aus Löffelmelde, Federn
eben, dann noch Walenki (Stiefel aus Filz), natürlich, Topfgabeln,
Linnen, Steintöpfe - wies halt kommt." Und es ist in der neuen Welt
verboten, Bücher zu besitzen. Dennoch wird eifrig gelesen. Alle Werke werden,
vom Klassiker bis zum Abzählreim einem einzigen Autor zugeschrieben: dem
Tyrannen Fjodor Kusmitsch - "gepriesen sei er!" Erstaunlich, dass sich
niemand über Kusmitschs - "gepriesen sei er!" - unerschöpfliche Schreibwut
wundert. Auch Benedikt nicht, obwohl er, von Beruf Schreiber, unentwegt
die Meisterwerke Kusmitschs - "gepriesen sei er!" - kopiert. Niemand
wundert sich auch, dass der "Großmursa" - übrigens ein
Dreikäsehoch - alles erfand, was man nur
erfinden kann: das Rechenbrett, das Rad, das Tragjoch, die Mausefalle, den Schlitten,
das Feuer... Die Macht des "Großmursas" unterstützen "Untermursas",
seine Sicherheit garantieren "Sanitäter". Weil sich
Benedikt auf eine Heirat mit der verführerischen Tochter des Geheimdienstchefs
(des "Obersanitäters")
einlässt, gerät er in größte Gefahr, die Kys liegt auf der Lauer. Um an weitere Bücher
heranzukommen, unterstützt er die Gewaltherrschaft seines
Schwiegervaters. So sieht er widerstandslos zu, wie ein Querdenker
mitsamt dem verbotenen Puschkin verbrannt wird. Als der Scheiterhaufen
schon lodert, sucht er noch immer nach dem Buch "wo drinsteht, wie man
leben soll". Benedikt, durchschauen wir, hat nicht erkannt, wie tief die
schreckliche Kys - das Symbol für Angst und Duckmäusertum - in ihm
selber steckt.
In Kys verbindet die Tolstaja
märchenhafte Elemente mit schwarzer Komödie und düster-realistischen
Visionen. Man erkennt in diesem Roman die gegenwärtige europäische Welt
mit allen ihren Ängsten und Hoffnungen. In einem Interview äußerte sich
Tatjana Tolstaja in diesem Zusammenhang zum heutigen
Russland:
"Bei uns bildet jede Ethnie, ja beinahe jeder Ort letztlich eine Welt für
sich. Jeder manifestiert seine Eigenständigkeit dadurch, dass er die
gesamte restliche Welt als etwas Anderes, Fremdartiges ablehnt. Das gilt
meiner Ansicht nach allerdings nicht nur für das heutige
Russland. Zum
Beispiel gibt es solche Tendenzen in den heutigen USA nicht minder. Über
Russland kann ich mich aber besser äußern."
Was, so fragte ich mich während des
Lesens, hat es mit Nikita Wanytsch und Lew Lwowitsch auf sich?
Verkörpern sie Russlands Intelligenz? Und da entdecke ich, ebenfalls in
einem Interview mit der Tolstaja, dass Nikita und Lew als Vertreter der beiden Strömungen
der russischen Intellektuellen auftreten. "Die Aufteilung in zwei Lager,
die so genannten Westler und Slawophilen, gab es in der russischen
Kultur schon immer, und im Prinzip gibt es sie auch heute noch. Die
einen, die slawophilen Intellektuellen, verfolgen den russischen
`Eigenen Weg´, die anderen orientieren sich an Europa und der Moderne.
Diese beiden Gruppen sprechen völlig verschiedene Sprachen, sie verstehen
sich nicht und liegen ständig im Konflikt miteinander. Auch Benedikt
begreift nicht, was sie sagen."
Interessant ist auch die Machart des
Buches. Die originellen Kapitelüberschriften des Romans bezeichnen
altkirchenslawische kyrillische Buchstaben, von denen viele, aber nicht
alle bedeutungstragend sind. Das altkirchenslawische Alphabet entstand
im IX. Jahrhundert und fand vor allem in sakralen Texten Verwendung,
doch auch in alten russischen Handschriften. Das weltliche russische
Alphabet wurde 1708 und später 1918 reformiert, aber manche Bedeutungen
des Altkirchenslawischen haben sich bis heute erhalten. Die erste
Kapitelüberschrift lautet "AS". Die Erklärung in den Anmerkungen: "Das
As - das A im kirchenslawischen Alphabet - bedeutet im übertragenen
Sinne auch `Anfang´, ferner im Kirchenslawischen das Pronomen `Ich´."
Einige Begriffe sind im Text der Tolstaja ein bisschen verändert [Es ist
schließlich eine andere Zeit.]: Ehornwälder sind Ahornwälder, Rohrketen sind Raketen, Osfalt ist
Asphalt, Entellegenzja ist Intelligenzia, Trodizion ist Tradition... Kys
ist ein Sprachkunstwerk, das Märchensprache und Straßenslang in
sich vereint, und in dem von Goethe bis
Puschkin auch unzählige
Andeutungen zur Weltliteratur auftauchen. Die "Times Literary
Supplement" schreibt: "`Kys´ ist ein literarisches Ereignis, dass die
Tolstaja in den Rang eines
Gogol oder
Nabokov erhebt."
Kys ist der erste Roman der
Prosaistin, Publizistin und Kritikerin Tatjana Tolstaja, 1951 (in einer
Familie mit sieben Kindern) in
Leningrad (heute St. Petersburg)
geboren. Sie stamme, schreibt der
Verlag, aus der Schriftstellerfamilie der Tolstojs. Recht hat, wer an
Lew
Tolstoj
denkt, denn sie ist dessen Großnichte, und Recht hat auch,
wer an Alexej Tolstoi, den "roten Grafen" denkt, denn sie ist dessen Enkelin. Die Tolstaja
studierte Altphilologie und war kurze Zeit als Lektorin tätig. 1987
erschien ihr erster Erzählungsband "Stelldichein mit einem Vogel". Sie - Mitglied des russischen
PEN-Zentrums - gilt international als eine der bedeutendsten Autorinnen
der Gegenwart. Ihre Werke wurden u. a. ins Deutsche, Englische,
Französische, Schwedische übersetzt, sie erhielt den "Triumph"-Preis der 14. Internationalen
Moskauer
Buchmesse. Mit der Arbeit an Kys begann sie 1986 in
Moskau, schrieb dann in Priceton, Oxford, Tiree -
Hebriden, Athen, Panormo und
Moskau weiter. Es dauerte vierzehn
Arbeitsjahre, bis ihr Roman im Jahre 2000 auf Russisch erschien. Von
1989 bis 2000 war sie in die USA gegangen, wo sie an Universitäten in
New York und New Jersey russische Literatur lehrte.
"Guten Tag" hat mir Tatjana Tolstaja
2003 in den Berliner Sophiensälen auf Deutsch ins Buch geschrieben.
Danke! Auch ich wünsche ihr, deren voluminöse, artikulierte Stimme ich
noch im Ohr habe, "Dobrij denj" und weitere thematisch
und sprachlich so einmalige Romane.
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