Zur Zarenzeit 1890 besuchte der berühmte
russische Schriftsteller Anton Tschechow* die Insel Sachalin ("Die Insel Sachalin", Verlag Rütten &
Loening, Berlin 1982), 1987 zu Sowjetzeiten war ich dort ("Von der Wolga
bis zum Pazifik. Bei Tuwinern, Kalmyken, Niwchen und Oroken", Verlag der
Nation, Berlin 1990), im Jahre 2000 nach dem Zusammenbruch des
Sowjetreichs bereiste der ungarische Publizist György Dalos mit
österreichischer Staatsbürgerschaft "den letzten Winkel
Russlands". Wie man sagt, dass man nicht zweimal in demselben Fluss baden kann, so kann
man auch nicht zwei- bzw. dreimal auf derselben Insel weilen...
Anton Tschechow hatte die zaristische Strafkolonie am Ende der Welt
besucht, um mit eigenen Augen die entsetzlichen Bedingungen zu sehen,
unter denen Menschen dort leben mussten: Kriminelle, politische
Gefangene, manche mit ihren Familien. Ich war hundert Jahre später dort, um im Rahmen der
Völkerschaftsserie in der DDR-Illustrierten FREIE WELT über Niwchen und Oroken zu berichten und auch darüber, wie viel sich für die Urbevölkerung der
Insel Sachalin nach der Oktoberrevolution verändert hatte. György Dalos
begab sich 110 Jahre nach
Tschechow und 10 Jahre nach mir sowohl auf
Tschechows
Spuren als auch auf eigene Erkundungen. Dass
Tschechows Sachalin nicht
"mein" Sachalin sein konnte, war klar, aber dass ich bei Dalos "mein"
Sachalin nicht mehr wieder erkennen würde, dass erschütterte mich doch
zutiefst.
Dalos Reise nach Sachalin besteht aus drei Teilen. Im ersten Teil
"Hundertzehn Jahre" referiert er 110 Jahre Geschichte Sachalins nach
Tschechows Aufenthalt dort. Die Recherchen für dieses Kapitel wurden
erarbeitet von der ungarischen Journalistin Andrea Dunai (die Dalos auch
schon bei seinen früheren "russischen Büchern" "Gast aus der Zukunft",
1996, und "Olga. Pasternaks letzte Liebe",1999, mit ihren Recherchen
behilflich war). Wir erfahren, dass die Japaner 1905 Sachalin erobern,
dass die Insel dann nach dem Frieden von Portsmouth entlang des 50.
Breitengrades geteilt wird, dass 1906 auf Sachalin die Katorga
(ursprüngliche Bedeutung Galeere, später Sammelbegriff für das System
der Verbannung und Zwangsarbeit in den Strafkolonien des zaristischen
Regimes) abgeschafft wird, dass 1920 Japan die Insel
ein zweites Mal besetzt, dass 1925 die ehemalige Demarkationslinie
wieder hergestellt, wird - der klimatisch extreme Norden gehört nun zur
Sowjetunion, der wärmere Süden zu Japan. Am 9. August 1945, dem Tag des
Abwurfs der Atombombe auf Nagasaki, erklärt die
Sowjetunion Japan den
Krieg, am 2. September 1945 kapitulieren die Japaner auf Südsachalin.
Die Japaner werden daraufhin von der Insel vertrieben, und es beginnt
eine große Ansiedlungskampagne. Da diese Ansiedlung mit finanziellen
Anreizen verbunden ist, ist Sachalin bis Anfang der neunziger Jahre ein
Gebiet, in dem es sich trotz des extremen Klimas gut leben lässt... Ich
habe es 1987 selbst erlebt; in meinem Buch "Diesseits und jenseits des
Polarkreises" schreibe ich darüber.
Was Dalos und Dunai hier auf 154 Seiten zusammengetragen haben, ist interessant, liest sich gut, wenn
man auch auf einige Zahlen durchaus hätte verzichten können. Aber wehe, man kennt - wie ich - einen
Zeitabschnitt aus der Geschichte der Insel Sachalin aus eigener
Anschauung. Dann nämlich ist man platt, denn Dalos lässt auch an der
Zeit, in der es Zugereisten und Einheimischen relativ gut ging, kaum
einen guten Faden. Vielleicht, weil er sich nicht vorstellen kann, dass ein
Gebiet innerhalb von einem Jahrzehnt so heruntergewirtschaftet werden
kann. Es kann: durch unüberlegte Privatisierungen, durch Stilllegung
ganzer Produktionszweige, durch Ausfall von Elektroenergie, durch Arbeitslosigkeit,
durch den Rückgang der Bevölkerungszahl... Ich wundere mich, dass weder Dalos noch
Dunai bei ihren Recherchen auf das deutsche Handelshaus
Kunst & Albers gestoßen ist. Es
wäre doch interessant gewesen zu erfahren, dass sich die deutsche Firma
in Gestalt von Adolph Dattan in diese weit entfernte Welt aufgemacht hat,
um darüber zu verhandeln, auf der Sträflingsinsel Sachalin eine
Großhandelsvertretung einzurichten. Seit 1894 dann belieferte Kunst &
Albers die Insel mit Mehl und anderen Lebensmitteln; denn obwohl Sachalin damals nur 20 000 Bewohner hatte - die
meisten Sträflinge -, war die Insel nicht annährend in der Lage
sich selbst zu versorgen. In einer unnummerierten Anmerkung im ersten Teil,
auch ohne Bezug zum fortlaufenden Text, schreibt Dalos, dass Brynner
(gemeint ist der bekannte Schauspieler Yul Brynner**als Sohn eines
schweizerisch-mongolischen Ingenieurs am 11. Juli 1920 in Wladiwostok
geboren wurde. Viel mehr kann man wiederum aus dem Buch "Kunst und
Albers. Wladiwostok" erfahren...
Im zweiten Titel "Dreizehn Tage" berichtet Dalos über seinen
dreizehntägigen Aufenthalt auf Sachalin (wieder in Begleitung seiner
ungarischen Mitarbeiterin, von der auch die Schwarz-Weiß-Fotos im Buch stammen). Wie einst
Tschechow
fährt auch Dalos von Ort zu Ort, um sich
über den Zustand der Industrieanlagen und der Verkehrswege, über die
Stromversorgung und die Architektur, über die Folgen des Klimas auf die
Gesundheit, die Kindergärten und Schulen, die Kirchen
und die Religionsausübung, über Museen, die Presse und die Literatur auf
Sachalin zu informieren. Er trifft den Gouverneur, einige Bürgermeister,
spricht mit dem Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde, besucht das
Sozialamt und recherchiert im Zentralarchiv. Natürlich kennen alle, mit denen er spricht,
Anton Tschechow:
Es gibt ein Tschechow-Museum, ein
Tschechow-Denkmal,
jährliche Tschechow-Lesungen.
Aber von wem eigentlich stammt Györgys Dalos Information, dass die Niwchen während der Sowjetära ihre niwchische
Muttersprache nicht benutzen durften? Wladimir Sangi, der bekannte
Schriftsteller der Niwchen, hat in den siebziger Jahren eigens für seine
etwa viertausend Landsleute eine Schriftsprache entwickelt. Aber viele
niwchische Eltern wollten ihre Kinder nicht auf ein Internat schicken,
wollten sie bei sich haben und gaben sie auf russische Schulen. Außerdem
sprachen viele Eltern selbst nicht mehr niwchisch und waren zufrieden,
wenn ihre Kinder gut russisch sprachen. Aber sie hätten durchaus niwchisch
sprechen dürfen! Als ich dort war, war man gerade dabei, für
die etwa 320 Oroken eine Schriftsprache zu entwickeln. Für 320 Oroken?
Wladimir Sangi antwortete mir bei unserem Treffen in
Moskau 1988 auf
meine verwunderte Frage: "Als ich mein literarisches Debüt gab, schrieb
mir der russische Schriftsteller Konstantin Fedin, dass mir die Ehre
zuteil geworden sei, anderen Völkern Herz und Seele meines Volkes nahe
zu bringen. Die Sprache aber, in der die Seele eines Volkes spricht, ist
seine Muttersprache, die Sprache der Vorfahren. Auch 320 Oroken haben
ein Herz und eine Seele!" Dalos bedauert in seinem Buch, dass ihn "der
greise Nationaldichter Sanggi" (warum mit zwei g?) in der Stadt Nogliki
wegen eines Trauerfalls in der Familie nicht empfangen konnte. Ich habe
mich mit Wladimir Sangi zweimal getroffen, auf einer meiner Reisen im Hotel, auf
einer anderen in seiner Wohnung in
Moskau. Da empfing
uns der in Russland sehr bekannte Schriftsteller
im blauen Taiman, einer Art Hauskittel aus Fischhaut, am Gürtel ein mit
niwchischen Ornamenten besticktes Beutelchen, ein Cerdolik, angefertigt
noch von der Großmutter. In solchen Beutelchen bewahren die Niwchen
Steinchen auf, die von Generation zu Generation an den jeweiligen
Stammhalter weitergereicht werden. Wladimir Sangi hatte zwei solcher
gelb-durchsichtiger Steinchen, beide etwa vierhundert Jahre alt. Ich
wollte meinen Augen und Ohren nicht trauen, als er mir eines davon als
Geschenk überreichte. Ich entschloss mich erst, diese noch heute für
mich unfassbare Gabe anzunehmen, nachdem mir Wladimir Sangi diese
Geschichte erzählt hatte: "Bei den Niwchen ist es Tradition, einem
verehrten Gast einen Schlittenhund zu schenken. Als eines Tages
Tschingis Aitmatow bei mir zu Besuch weilte, wußte ich nicht, was
ich ihm schenken sollte, denn ich habe in
Moskau doch keine
Schlittenhunde. Da fiel mir ein, dem
kyrgysischen Schriftsteller eine
wahre niwchische Geschichte zu schenken. Tschingis Aitmatow schrieb
daraufhin die Novelle "Scheckiger Hund, der am Meer entlangläuft" (erschienen beim
Ostberliner Verlag Volk und Welt). Tschingis
Aitmatow übrigens hat dieser Geschichte eine Widmung für Wladimir Sangi
vorangestellt; inwischen ist diese Novelle auch im Unions Verlag,
Zürich, erschienen. Ist Wladimir Sangi mit seiner
Familie für immer nach Sachalin zurückgekehrt oder war er wegen der
Beerdigung auf Sachalin? (Keine zwei Jahre mehr, dann ist Dalos übrigens so alt
wie der im Jahr 2000 von ihm als greiser Nationaldichter bezeichnete
Wladimir Sangi: sechsundsechzig Jahre.) Schade jedenfalls, dass keine
Begegnung zwischen Sangi und Dalos stattgefunden hat. Obwohl Sangi selbst sehr
kritisch gegenüber den Errungenschaften der modernen Zivilisation ist, hätte Dalos´ zweiter Teil sicherlich eine wahrheitsgemäßere Gewichtung
bekommen. Und Dalos, der sich beklagt, dass es keinen Niwchen mehr gibt,
mit dem er Legenden hätte austauschen können, hätte jemanden gehabt, der
ihm "einen ganzen Rucksack voll niwchischer Legenden hätte erzählen können".
Im dritten Teil "Sechs Monate" stammen fast alle Informationen aus
dem Internet, "da andere Arten des Kontaktes mit Sachalin wegen
schlechter Kommunikationsnetze schwierig und mit einbrechendem Winter
meist unmöglich waren". Da nun finden sich bewegende Geschichten von
Menschen, die heutzutage - 1047 Kilometer von Moskau entfernt, vom sowjetischen Regen in die demokratische Traufe gekommen
- in ihren Wohnungen wegen unzureichender Öfen
erfrieren, verbrennen oder ersticken, von Menschen, deren einziges
Heizmittel der Wodka ist, Geschichten von Schneestürmen, von
Stromausfällen, die Produktion und Verkehrswege lahm legen und die
Versorgung der Bevölkerung unmöglich machen. Trotzdem: ein aus dem
Internet zusammengeschriebenes Kapitel ohne Eigenerlebnisse des Autors -
das kommt beim Leser nicht gut an.
Der Autor, 1943 in Budapest geboren, studierte in
Moskau deutsche
Geschichte. (Warum hat er, der russischen Sprache also kundig, die
Recherchen nicht selbst erarbeitet? ), war Mitglied der ungarischen
kommunistischen Partei bis 1968, wurde im selben Jahr wegen
staatsfeindlicher Aktivitäten verurteilt, erhielt Berufs- und teilweise
Publikationsverbot, lebt heute in Berlin und Wien.
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