Belletristik REZENSIONEN | ||||||
"Warum mir das?" | ||||||
Iwan Gontscharow | Russe | |||||
Für den Zaren um die halbe Welt Eine Reise in Briefen, ergänzt durch Texte aus der "Fregatte Pallas" Aus dem Russischen übersetzt und mit einer Einleitung und einem Nachwort von Erich Müller-Kamp Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2003, 415 S. | ||||||
Ein Mann, dicklich ("Über dem früheren wächst mir ein zweiter Bauch."),
alt ("Obwohl ich erst vierzig Jahre alt bin."), meist träge, oft
faul, geplagt von Hypochondrie, Zahnweh, Rheumatismus und Hämorrhoiden,
begibt sich von 1852 bis 1854 auf Entdeckungsreise
um Europa, Afrika und Asien. Was soll dabei herauskommen? "Eines der
bedeutendsten Werke der Reiseliteratur, von hohem dokumentarischen und
literarischen Rang", meint der NDR-Sender. Ich dagegen habe mehr
erwartet von dem berühmten Autor des berühmten
"Oblomow"
--- wie Anna Grigorjewna Dostojewskaja, die in ihren "Erinnerungen",
Gontscharow mit ihrem Mann im Park
[von Baden-Baden] traf: In seinem Aussehen habe er sie an die
Petersburger Beamten erinnert, auch was er sagte, fand sie mittelmäßig,
"so daß mich die neue Bekanntschaft etwas enttäuschte und ich nicht
glauben wollte, daß dies der Autor von `Oblomow´ sei, eines Romans, der
mich begeistert hatte."
Fjodor Dostojewskij dagegen schätzte an
Gontscharow - laut ihrer Aussage - nicht nur den "großen Verstand, er
hielt auch viel von seinem Talent, hatte ihn aufrichtig gern und nannte
ihn seinen Lieblingsschriftsteller." Aufschlussreich schildert Iwan Gontscharow (1812-1891) in Für den Zaren um die halbe Welt vor allem sich selbst, wie er als Landratte mit dem Meer fertig werden muss. Man kann ihn sich gut vorstellen, wenn bei Sturm die Tassen und Teller aus dem Schrank poltern, wenn er beim Schlingern des Schiffs der Länge nach hinfällt (später kriegt er "Matrosenbeine"), wenn die Schiffsbesatzung auf dem Deck herumtrampelt, und der "Prinz der Faulheit" keinen Schlaf finden kann. "Warum mir das?", stöhnt darob der Autor. Aber wenn Gontscharow über Länder, Inseln, Orte, Menschen... erzählt, sind seine Schilderungen oft farblos. "Ich gehöre (...) zu denjenigen Reisenden, für die jede Fahrt eine Tortur ist." Deshalb auch ist er manches Mal sogar zu faul mit den anderen an Land zu gehen: "Ich vergaß zu sagen, daß wir in Korea gewesen sind. Dorthin ist überhaupt noch kein Europäer gekommen. Ich fuhr im ganzen zweimal an Land, allerdings nur, um ein reines Gewissen zu haben (...) An wilden, unzivilisierten Orten spüre ich besonders, daß ich alles andere als ein Entdeckungsreisender bin." Von Heimweh geplagt, ist Gontscharow Neuem und Fremdem gegenüber voreingenommen und wohl auch von der Überlegenheit der europäischen Zivilisation fest überzeugt: Die Malaien sehen für ihn aus wie Affen; die Chinesen sind schmutzig und stinken; die Japaner sind Japse. "In der Tat: Japse! Ihre Schädel sind geschoren, rückwärts lassen sie ein Zöpfchen stehen; sie tragen Jacken und Röcke, aber keine Hosen und Unterhosen, die Gesichter sind blaß und gelblich, restlos rasiert und glatt wie bei Geldwechslern (...) Ganz ungewöhnliche, seltsame Wesen: weder Mann noch Weib. Obwohl jeder zwei Degen trägt, sind sie feige und kriecherisch, höflich und weich." Gar nicht zu Ende lesen möchte man die gefühllose Schilderung des Tötens eines Hais: "Dort hielten an die zwanzig Mann die Ende der Stricke fest, mit denen das Untier gefesselt war. (...) Kolokolzew ergriff ein Beil und versetzte dem Hai einen Hieb unterhalb des Rachens. Blut quoll hervor und ergoß sich auf das Deck. Eine fast handbreite Wunde war entstanden. Jemand erweiterte sie mit einem großen Messer und führte sie rasch bis zum Bauch. Die Eingeweide traten heraus; sie glichen schmutzigen Lappen. Der Hai lag plötzlich ganz still. Da nahm Baron Schlippenbach eine Handspake (...) und stieß sie dem Hai in den Rachen. Die Handspake verschwand fast im Körper. (...) Der gepeinigte, zerstochene Hai mit dem heraushängenden Eingeweide schnellte sich über die Deckplanken, wand sich wie eine Schlange, beschrieb mit dem Schwanz schnelle, starke Kreise (...)." Oder was ist von einem Text zu halten (auch wenn er einhundertfünfzig Jahre alt ist), in dem (in Südafrika) angeschmiedete Kaffern, Hottentotten, Buschmänner den gleichen Stellenwert haben wie heiße Quellen? Ist es ernst gemeint, wenn Gontscharow schreibt: "Wissensdurst besitze ich nicht. Ich wollte nie mein Wissen erweitern, sondern nur die Welt anschauen und die Bilder meiner Phantasie überprüfen."? Oft bin ich geneigt, dem Autor zuzustimmen, wenn er schreibt: "Aber alles, was ich geschrieben habe, ist so belanglos, daß es peinlich wäre, es vorzuzeigen." Oder: "Plötzlich erschienen mir [diese Arbeiten] nicht des Druckens wert, weil ich keine Tatsachen mitteile, sondern nur Eindrücke und Beobachtungen, matt und ungenau, blasse und eintönige Bilder." Oder: "Zuweilen schaue ich meine Aufzeichnungen von der Reise durch: nackt und leer. Nichts Wissenschaftliches, nicht einmal statistische Angaben, Ziffern, gar nichts." Warum überhaupt hat sich Iwan Gontscharow auf diese beschwerliche Reise eingelassen? Admiral Putjatin, als Seemann und Diplomat bewährt, hatte 1852 von der russischen Regierung den Auftrag erhalten, mit der Fregatte "Pallas", einem in der Ostsee stationierten Kriegsschiff, das nach zwanzig Dienstljahren in der Zarenmarine kaum noch als hochseetüchtig galt, eine Erdumseglung zu unternehmen, um die nordamerikanischen Kolonien Russlands zu visitieren, wie es amtlich hieß. In Wirklichkeit sollte er versuchen, Handelsbeziehungen mit Japan anzuknüpfen. Gontscharow, der es bis 1852 zum Kollegien-Assessor gebracht hatte, verkehrte (fast täglich) bei den Majkows, sie ersetzten ihm seine Familie. Der kleine, unscheinbare und gefügige Beamte, ein äußerlich träger und verdrossener Junggeselle errang die Sympathie des Hausherrn Nikolaj Appolonowitsch und dessen Frau Jewgenija Petrowna (Die meisten Briefe sind an sie gerichtet.). Damals war Gontscharow bereits ein bekannter Schiftsteller, sein Roman "Eine alltägliche Geschichte" war 1847 erschienen. In dem gastfreundlichen Haus der Majkows verkehrten auch Dostojewskij, Nekrassow, Polonskij, Turgenjew, der Fürst Odojewskij u. v. a. (Majkow war übrigens der Pate aller Dostojewski-Kinder.) Der Admiral brauchte einen schreibgewandten Sekretär, Majkow empfahl seinen Freund Gontscharow. Gontscharow hoffte, dass ihm eine solche Reise gut tun würde: Er konnte für eine Weile seinem langweiligen Dienst entrinnen und: Vielleicht würde sein unvollendeter Oblomow-Stoff reifen... Er sagte zu. Und so kam es, dass er mit der Cholera in Berührung kam, mit der Schiffsbesatzung auf Grund lief, überhaupt viele Gefahren überstand, die er - unerfahren mit dem Meer - als solche gar nicht immer erkannte... 1873, zwanzig Jahre nach seiner Reise schrieb er darüber. Im Grunde seines Herzens scheint Gontscharow ein guter Mensch gewesen zu sein: Schon in seinem "Oblomow" war mir sein schmuddliger, tollpatschiger Diener Sachar ans Herz gewachsen. Und jetzt, auf dem Schiff, ist es sein Diener Faddejew, der besonders liebenswert dargestellt ist. Diener und Herr werden unzertrennlich und duzen sich! Zurück kehrt Gontscharow auf dem Landweg vom Fernen Osten (bei fast 40 Grad Kälte) über Sibirien nach St. Petersburg, wo er am 25. Februar 1855 eintrifft: Einige Tage zuvor war Zar Nikolaus gestorben, der Krimkrieg war in vollem Gange, um Sewastopol wurde heiß gekämpft. Während seiner Heimreise über Land kommt er durch jakutisches Gebiet und teilt uns das eine oder andere interessante über Jakutien und die Jakuten mit; die Jakutinnen - apropos Voreingenommenheit - bezeichnet er als Kühe auf zwei Beinen! Sehr interessant fand ich Gontscharows Mitteilung, dass die in Jakutien ansässigen Russen fast alle "bis zu einem unstatthaften Grad" Jakutisch sprechen (sogar untereinander) und auch begannen, die Bräuche der Jakuten anzunehmen. Für den Zaren um die halbe Welt besteht aus Briefen an die Freunde, ergänzt durch charakteristische Episoden aus der "Fregatte Pallas", erschienen 1858. Die Briefe allein, in denen Gontscharow viel von seinem nicht vorhandenen Wohlbefinden berichtet und immer wieder seine Hoffnung zum Ausdruck bringt, dass ihm die Freunde gewogen bleiben mögen, hätten auch wahrlich für ein heutiges Buch nicht ausgereicht. "Meine bescheidenen Briefe wollen nur wie in einem Panorama die Außenseite unserer Fahrt zeigen und setzen sich keine höheren Ziele." Doch erfreulicherweise schrieb der erfrischt heimgekehrte Gontscharow während seiner Kur in Marienbad tatsächlich den letzten Teil des "Oblomow", den er so lange unfertig mit sich herumgetragen und um die halbe Welt geschleppt hatte, "wie nach dem Diktat" nieder. Der Stoff war ausgereift. Die Gestalt stand. Für immer. Für den Zaren um die halbe Welt ist zeithistorisch interessant und gibt ein Bild vom Leben und Leiden Gontscharows auf seiner Halbe-Welt-Reise. Es kann biographisch und literaturhistorisch als Schlüssel zu seinem Romanwerk ("Eine alltägliche Geschichte", "Oblomow", "Die Schlucht") gelesen werden. | ||||||
Gisela Reller / www.reller-rezensionen.de |
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Am 24.10.2006 ins Netz gestellt. Letzte Bearbeitung am 20.11.2019. Das unterschiedliche Schreiben von Eigennamen ist den unterschiedlichen Schreibweisen der Verlage geschuldet. | |
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