Das vorliegende Büchlein, gebunden als Wolffs Broschur, mit einem
Umschlag von dem bekannten Zeichner Horst Hussel, liegt in
seinem knappen DIN A 5-Format griffig in der Hand. Eine Augenfreude. Zu den Lesefreuden
gehören Urbans fundierte Vorbemerkung, der Briefwechsel zwischen
Alexander Puškin
(Puschkin) und Nikolaj Gogol, der ergänzt
wird durch öffentliche Äußerungen beider
Schriftsteller übereinander sowie durch Briefzitate gegenüber Dritten,
eine editorische Notiz, eine Zeittafel bis 1937 (Puschkins Todesjahr)
und den typisch urbanschen Anmerkungen, reichhaltig, erklärend und ergänzend.
Beeindruckend. Allerdings verwundert,
dass Peter Urban trotz seiner geradezu sprichwörtlichen Akkribi die in
den Briefen öfter vorkommende Vokabel "kleinrussisch" nicht erläutert,
zumal Gogol nach damaligem Sprachgebrauch ein "Kleinrusse" war; denn
Nikolaj Gogol stammte aus einem rein ukrainischen Geschlecht von Geistlichen und
Gutsbesitzern. Die
Ukrainer sind wie die
Russen und die Bjelarussen (Weißrussen)
Ostslawen, aber keine Russen. Es war das
zaristischen Russland, dass das freie Kosakenvolk der
Ukraine zu russifizieren und es sogar
seines Volksnamens zu berauben trachtete, indem es die
Ukrainer kurzerhand "Kleinrussen" nannte, wie um darzutun, dass es
sich nicht um ein selbständiges Volk mit eigener Sprache handelt (die
bis 1905 auch nicht gesprochen werden durfte). Vergeblich gesucht habe ich in
den Anmerkungen auch eine Erklärung für die Abkürzungen SPb., was sicherlich
St. Petersburg bedeutet,
und P.B., "wo man
Gogol mehr liebt als in
Moskau." Tja, aber wo?
Die vier Briefe
Puschkins an
Gogol und die neun Briefe Gogols an
Puschkin werden in Gogols Petersburger Jahre erstmals "auf deutsch
zueinander ins Verhältnis gesetzt". Dieser Briefwechsel beleuchtet "ein
Verhältnis, das gekennzeichnet ist von gegenseitiger Achtung und
Zuneigung", schreibt Peter Urban. "Jeder von beiden erkennt das Talent
des anderen an und begrüßt es freudig." Es sei, meint Urban, eine
ungewöhnliche Freundschaft zwischen zwei Schriftstellern. Mir fällt da spontan der
Briefwechsel des russischen Schriftstellers Iwan Turgenjew
mit dem französischen Schriftsteller Gustave Flaubert ein, die sich
ebenfalls freundschaftlich zugetan waren. Waren Flaubert und
Turgenjev
als Schriftsteller gleichermaßen anerkannt, so täuschen (auch) die
Briefe von Puschkin und Gogol nicht darüber hinweg, dass sich mit ihnen
zwei Ungleiche gefunden hatten: einerseits der zehn Jahre ältere, im
Zenit seiner Entwicklung stehende Meister, "Klassiker zu Lebzeiten",
andererseits der schüchterne, unsichere Student der Geschichte, mit
zwanzig Jahren aus der "kleinrussischen" (ukrainischen) Provinz nach
St. Petersburg gekommen - sogar noch ungewohnt Russisch sprechend. Der
Briefwechsel zwischen Gogol und Puschkin erstreckt sich über sechs
Jahre, von 1831 bis 1836. "Kaum ein wichtiger Titel der Puškinzeit,
der nicht erwähnt würde, stamme er nun von Puškin
selbst, von Gogol, Žukovskij (Shukowskij)*
oder dem Fürsten Odojevskij** (Odojewskij).
Nachdem Gogol vom Tod Puschkins erfahren hatte, schrieb er an Pletnëv
(Pletnjow)*** aus Rom : "Kein Monat, keine Woche vergeht ohne einen neuen
Verlust, aber ich hätte keine schlimmere Nachricht aus
Rußland erhalten
können. Jede Freude meines Lebens, jede meiner erhabenen Freuden ist mit
ihr verschwunden. Nichts habe ich unternommen ohne seinen Rat. Keine
einzige Zeile ist geschrieben worden, ohne daß ich mir ihn vorgestellt
hätte. Was er sagte, was er anmerkte, worüber er lachte, wozu er seine
unzerstörbare und ewige Ermunterung gab, nur das hat mich interessiert
und meine Kräfte beseelt. (...) Mein jetziges Werk, das er mir
eingegeben hat, ist sein Geschöpf... Ich habe nicht die Kraft, es
fortzusetzen. Einige Male griff ich zur Feder - und die Feder fiel mir
aus den Händen. Unsagbare Schwermut..."
Und an Pogodin**** schrieb Gogol: " (...) Ich spreche nicht von der Größe dieses
Verlusts. Mein Verlust ist größer als der aller. Du trauerst als Russe,
als Schriftsteller, ich... ich kann nicht einmal ein Hundertstel meiner
Trauer in Worte fassen. Mein Leben, mein höchster Genuß ist mit ihm
gestorben. Meine lichten Minuten meines Lebens waren diejenigen, in
denen ich schuf. Wenn ich schuf, sah ich vor mir nur Puškin.
(...) mir teuer war sein ewiges und
unwiderlegliches Wort. Nichts unternahm, nichts schrieb ich ohne seinen
Rat. Alles, was ich an Gutem habe, all das verdanke ich ihm. Er nahm mir
den Eid ab zu schreiben, und keine Zeile wurde geschrieben, ohne daß er
mir währenddessen vor meinen Augen erschienen wäre. Ich tröstete mich
mit dem Gedanken, wie zufrieden er sein werde, und das war meine höchste
und erste Belohnung. Jetzt habe ich diese Belohnung nicht mehr vor mir!
Was ist mein Werk? Was ist jetzt mein Leben?"
"Ich wäre weniger erschüttert gewesen", legt der schwedische
Biograph
Kjell Johansson Nikolaj Gogol in den Mund, "wenn meine Mutter gestorben
wäre." Das, da bin ich sicher, hätte Nikolai Gogol nie gesagt!
Zehn Jahre später, 1847, schrieb Gogol in seiner
"Beichte": "Puškin
ließ mich die Sache ernsthafter sehen. Er hatte mich schon länger zu
überreden versucht, mich an ein großes Werk zu begeben, und schließlich,
einmal, als ich ihm den kurzen Entwurf einer kurzen Szene vorgelesen
hatte, die ihn jedoch mehr beeindruckte als alles zuvor Gelesene, sagte
er zu mir: `Wie kann man bei dieser Fähigkeit, den Menschen zu erraten
und ihn in wenigen Zügen plötzlich ganz, wie lebendig darzustellen, wie
kann man sich bei dieser Fähigkeit nicht an ein großes Werk begeben. Das
ist einfach eine Sünde!´ Danach begann er mir meine schwache
Konstitution vorzustellen, meine Gebresten, die meinem Leben früh ein
Ende setzen könnten (...) und schließlich überließ er mir ein eigenes
Sujet, aus dem er eine Art Epos machen wollte und das er, nach seinen
eigenen Worten, niemals einem andern überlassen hätte. Es war das Sujet
der toten Seelen. (Der Gedanke des Revisors gehört ebenfalls ihm.)"
Ironie des Schicksals? Obwohl sich Puschkin um Gogols Gesundheit
sorgte, hat er Puschkin (der im Duell gefallen ist) um neunzehn
Jahre überlebt. Nikolai Gogol starb 1856 (Er verweigerte die
Nahrungsaufnahme.), mit dreiundvierzig
Jahren; Alexander Puschkin ist siebenunddreißig Jahre alt geworden.
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Gisela Reller /
www.reller-rezensionen.de
* Wassilij Andrejewitsch Shukowskij, 1783 - 1852, Lyriker, Übersetzer,
Begründer der romantischen Dichtung in Russland, Mentor vieler Autoren
der Puschkinzeit; als Erzieher des Thronfolgers bei Hof eine
einflussreiche Person.
** Fürst Vladimir Fjodorowitsch Odoevskij, 1803 - 1869, Schriftsteller,
Musikkritiker, galt als einer der gebildetsten Männer seiner Zeit, neben
Puschkin und Gogol originellster Prosaautor der 1830er Jahre, Begründer
der psychologischen Analyse.
*** Pjotr Alexandrowitsch Pletnjow, 1792 - 1862, Kritiker, enger Freund Puškins,
ab 1932 Professor für Literatur an der Universität St. Petersburg,
Rektor 1840 - 1861. Ihm gewidmet sind die Eingangsverse zu Puschkins
"Eugen Onegin", von Pletnjow stammt eine der besten Kritiken zu den
"Toten Seelen"; Pletnjow machte Gogol am 20. Mai 1831 auf einer Soiree
in seinem Hause mit Puschkin bekannt.
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Michail Petrowitsch Pogodin, 1800 - 1875, Historiker, Archäologe, Professor für
Geschichte an der Universität Moskau, Herausgeber der Zeitschriften "Moskowskij
westnik" (Moskauer Bote) 1827 - 1830, "Moskowskij nabljudatel" (Moskauer
Beobachter) 1835 - 1840, "Moskwetjanin" (Der Moskauer) 1841 - 1856.
Gogol hatte Pogodin im Sommer 1932 in Moskau kennen gelernt.
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- Anthologie, Märchen-Samowar, (Darin: Nikolaj
Gogol, Der Jahrmarkt von
Sorotschinzy; Anton Tschechow, Kaschtanka;
Nikolaj Gogol, Die Nase; Alexander Puschkin, Das Märchen vom Zaren Saltan.),
Kinderbuch.
- Lydia Awilowa, Tschechow, meine Liebe. Erinnerungen.
- Jean Benedetti (Hrsg.), Mein ferner lieber Mensch.
- Iwan Bunin, Liebe und andere Unglücksfälle.
- Iwan Bunin, Mitjas Liebe.
- Ivan Bunin, Čechov
(Tschechow). Erinnerungen eines Zeitgenossen.
- Anton Čechov
(Tschechow), Ein unnötiger Sieg.
- Anton Čechov
(Tschechow), Freiheit von Gewalt und Lüge.
- Anton Čechov
(Tschechow), Zwei Erzählungen. (Die Dame mit dem Hündchen/Rothschilds Geige), Hörbuch.
- Anton Čechov (Tschechow), Kaschtanka und andere Kindergeschichten. (Ein Hund, ein Ganter, ein Schwein, ein paar Katzen,
ein Pferd, eine
Wölfin, ein Welpe...)
- Fjodor Dostojewskij
(Dostojewski), Meistererzählungen.
- Fjodor Dostojewski
(Dostojewskij), Der Spieler, Hörbuch.
- F. M. Dostojewski
(Dostojewskij), Meistererzählungen, Hörbuch. (Polsunkow/Der kleine Knabe "mit dem Händchen"/Der kleine
Knabe am Weihnachtsabend beim Herrn Jesus).
- Nikolaj Gogol, Die Nase,
Kinderbuch.
- Nikolaj Gogol, Petersburger Geschichten.
- Nikolaj Gogol, Meistererzählungen.
- Ivan Gončarov (Iwan Gontscharow), Die Schwere Not.
- Iwan Gontscharow (Ivan Gon
(Ivan Gončarov), Oblomow.
- Iwan Gontscharow (Ivan Gončarow),
Für den Zaren um die halbe Welt.
- Kjell Johansson, Gogols Welt.
- Wolfgang Kasack, Dostojewski. Leben und Werk.
- Alexander Kuprin, Die schöne Olessja. Eine Liebesgeschichte aus dem alten Rußland.
- Nikolai Leskow, Der Gaukler Pamphalon.
- Vladimir Odoevskij, Prinzessin Mimi/Prinzessin Zizi.
- Aleksandr Puškin (Alexander
Puschkin), Das einsame Häuschen auf der Basilius-Insel.
- Alexander Puschkin (Aleksandr Puškin),
Pique Dame, Hörbuch.
- Lew N. Tolstoj, Hadschi Murat. Eine Erzählung aus dem Land der Tschetschenen.
- Leo Tolstoj, Anna Karenina, Hörbuch.
- Anton Tschechow (Čechov), Kaschtanka.
- Anton Tschechow (Čechov),
Der Kirschgarten, Hörbuch.
- Anton Tschechow
(Čechov), Drei Schwestern, Hörbuch.
- Anton Tschechow
(Čechov), Von der Liebe, Hörbuch.
- Maria Tschechowa, Mein Bruder Anton Tschechow
(Čechov).
- Gustave Flaubert/Ivan Turgenjev, Eine Freundschaft in Briefen, Hörbuch.
- Ivan Turgenev, Aufzeichnungen eines Jägers.
- Ivan Turgenev, Rätsel-Spiele.
- Ivan Turgenev, Klara Milič.
Am 24.05.2007 ins Netz gestellt. Letzte Bearbeitung am
20.11.2019.
Das unterschiedliche Schreiben von Eigennamen ist den unterschiedlichen Schreibweisen der Verlage geschuldet. |