Belletristik REZENSIONEN |
Skizzen aus dem russischen Dorfleben des 19. Jahrhunderts
|
Ivan Turgenev |
Russe |
Aufzeichnungen eines Jägers |
Samt drei "Jäger-Skizzen" aus dem Umkreis
Aus dem Russischen übersetzt und mit einem Nachwort von Peter Urban
Manesse Verlag, Zürich 2004, 702 S.
Wer weiß heute noch, dass
Ivan Turgenev als einzigem
russischen
Autor noch zu Lebzeiten eine deutsche Werkausgabe in zwölf Bänden
zuteil wurde? Wer weiß heute noch, dass
Ivan Turgenev von 1850 bis zu
seinem Tode 1883 in Westeuropa als erster Repräsentant
Russlands
gegolten, und dass er eine Mittlerrolle zwischen seinem Vaterland und
der westlichen Zivilisation innehatte? "Über Jahrzehnte hinweg", schreibt
Peter Urban in seinem Nachwort, "erschien jede neue
Erzählung, jeder neue Roman Turgenevs zeitgleich mit der russischen
Ausgabe in deutscher, französischer und englischer Übersetzung.
Turgenevs Briefwechsel mit Flaubert
belegt die hohe Meinung des großen Franzosen von der Erzählkunst des russischen Kollegen."
Aufzeichnungen eines Jägers - auf Deutsch einst "Jäger-Skizzen"
genannt -
gilt als eines der größten Werke der klassischen russischen Literatur,
erschienen 1852. Zwar bildet die Jagd den Rahmen der einzelnen
Geschichten, doch geht es in ihnen um alles andere als um Jägerlatein;
der irreführende Titel war gewählt worden, um die Zensur zu täuschen.
Alle Jäger-Skizzen handeln von dem menschenunwürdigen Leben der
leibeigenen Bauern und dem ökonomischen und moralischen Verfall
des kleinen und mittleren Landadels der vierziger Jahre des
19. Jahrhunderts. Dabei muss man wissen, dass es in Russland seit 1842
verboten war, die Frage der Leibeigenschaft öffentlich zu
diskutieren. In einer Zeit finsterster Reaktion, wie sie die
Herrschaft Nikolaus I. (reg. 1825-1855)
darstellte, wurde das Buch in erster Linie als politisches Werk
begriffen. "Turgenev beschrieb nicht solche Greuel der
Leibeigenschaft, die als bloße Ausnahme der allgemeinen Regel hätte
betrachtet werden können", schreibt Fürst
Pëtr Kropotkin
1906 in seiner Literaturgeschichte. "Er idealisierte auch nicht
etwa den russischen Bauern; aber dadurch, daß er lebendige Porträts
von vernünftigen, denkenden, liebenden Wesen gab, die unter dem Joch
der Leibeigenschaft niedergebeugt sind, zusammen mit lebenden Bildern
von der Hohlheit und Niedrigkeit des Lebens der Sklavenhalter - selbst
der besten unter ihnen -, dadurch brachte er das Unrecht des Systems
zum Bewußtsein." Jede dieser Szenen, meint Kropotkin, sei soviel wert
wie ein guter Roman.
Im Jahr des Verbots, öffentlich über die Leibeigenschaft in
Russland zu sprechen, fielen die schriftstellerischen Anfänge Turgenevs.
Nach einem Studium der Literatur und Philosophie in
Moskau 1834 und
Petersburg (1835-1837) sowie in Berlin (1838-1841)
war Turgenev in den Staatsdienst eingetreten, wo er für den Innenminister 1842 die
Denkschrift "Einige Bemerkungen über die russische Wirtschaft und über
den russischen Bauern" verfasste. In diesem Memorandum sprach er
von notwendigen Veränderungen, von der "Befreiung der Bauern" als dem
"zahlreichsten und dem, was immer man sagen mag, stärksten, dem
kräftigsten aller Stände"; er forderte eine Klasse von Landwirten, die
gleichzeitig auch Landbesitzer sind. 1843 nahm Turgenev seinen
Abschied, um sich ganz der Literatur zu widmen. Er schrieb
romantisch-lyrische Reimgedichte "voller klischeehaft elegischer
Reflexionen über Liebe und Leben" (Ilse von Werner in "Hauptwerke der
russischen Literatur") und lyrisch-dramatische Verspoeme. Einen
Wendepunkt im Schaffen Turgenevs bringt das Jahr 1847, da hat er -
neunundzwanzig Jahre alt - mit der skizzenhaften Erzählung "Chor und
Kalinyč" seinen eigenen Stil
gefunden. Der Erfolg in der literarischen Öffentlichkeit war so groß,
dass der Autor - selbst ein adliger Gutsbesitzer - in den
folgenden Jahren weitere solcher Skizzen schrieb. Achtundzwanzig Geschichten sind
in diesem Buch abgedruckt, davon erscheinen drei "Jäger-Skizzen"
erstmals in deutscher Übersetzung.
Die demoralisierende Auswirkung der Leibeigenschaft zeigt sich in
den Aufzeichnungen eines Jägers zum
Beispiel in der Gestalt des Kammerdieners Viktor, der voller Hochmut
und seelischer Grausamkeit seine Liebesbeziehung zu einem einfachen
Dorfmädchen abbricht ("Stelldichein"). Sozialkritische Züge weist auch
die Gestalt des Fischers Kuzma auf, der nach der Laune seiner Herren
verkauft oder vererbt wird, andere Namen anzunehmen und die
unterschiedlichsten Berufe auszuüben hat. "Eindrucksvoll", schreibt
Ilse von Werner, "wird [in "Lgov"] die
Degradierung des Menschen zur Sache demonstriert." In nahezu allen
Erzählungen sind die Bauerngestalten von passiver
Gesinnung. Am erschreckendsten wird sie zum Ausdruck gebracht von dem
Bauernburschen Vasja, der von seinem Gutsherrn wegen einer Nichtigkeit
verprügelt, dennoch ein Loblied auf ihn singt. Der einzige positiv
gezeichnete Vertreter des Landadels, Čertopchanov, ein von
Gerechtigkeitssinn und einem beinahe übertriebenen Ehrgefühl
beherrschter Mensch, endet in Vereinsamung, Verwahrlosung und
materieller Verarmung ("Čertopchanov und Nedopjuskin", "Čertopchanovs
Ende"). Mich hat am meisten die Geschichte von der seit Jahren dahinsiechenden Lukerja
bewegt, die ihr Schicksal in unbegreiflicher Demut erträgt ("Die lebende Reliquie").
Die einzige Skizze, die einen offenen, gewalttätigen Aufruhr
leibeigener Bauern gegen ihren Herren zum Inhalt hat, ist Plan
geblieben.
Einen breiten Raum nehmen in den
Aufzeichnungen eines Jägers - größtenteils in Paris entstanden -
Natur- und Landschaftsschilderungen ein. Es ist die Landschaft
Mittelrusslands, der der Autor selbst entstammt. Turgenevs Stil hat
nichts Ornamentales, sondern ist Puschkins Ideal der Knappheit und
Genauigkeit verpflichtet. Die Übersetzer, beklagte Turgenev, würden
oft zur Aufblähung solcher unprätentiösen Schlichtheit neigen. Wenn er
schreibe: "und ich floh", dann mache der Übersetzer
daraus: "und ich floh in wilder, verstörter Flucht". Turgenev hat
unter solchen Entstellungen seines Textes gelitten. Berühmt ist seine
Anekdote vom Übersetzer, der ein ungewöhnliches Wort für "Pfütze"
nicht kennt, und sich an ein ähnliches hält, das leider "Baum"
bedeutet. Woraus sich das nächste Problem ergibt: Wieso ist der Baum
"schmutzig"? Der Übersetzer macht "schattig" daraus. Doch weshalb
"plätschern" im schattigen Baum "Enten"? Der Übersetzer verwandelt die
Enten kurzerhand in Tauben. So werde aus dem Satz "Enten plätschern in
einer schmutzigen Pfütze" schließlich "Tauben gurren im schattigen
Baum".
Das natürlich kann einem Peter Urban -
der nun eine Neuübersetzung der Aufzeichnungen eines Jägers
vorgelegt hat - nicht passieren; denn er kennt auch die seltensten
russischen Ausdrücke. Seine Treue zum Original geht so weit, dass er viele
Vokabeln für entsprechungslos hält und lieber gleich das russische
Wort beibehält. Erläutert sind solche Worte dann meist in den
Anmerkungen, was den Lesefluss erheblich stört. Muss das zum Beispiel wirklich
sein: "Der Burmistr erschien. Er trug einen dunkelblauen
Armjak, gegürtet mit einem roten Kusak." Oder: muss man
wirklich aus jedem "Kirchenwärter" um den Preis einer Genauigkeit, an
welcher die meisten Leser nur per erläuternder Fußnote teilhaben
können, einen Ktitor machen? Kann man für eingemachtes Obst,
auch wenn es nach "typisch russischem" Rezept hergestellt ist,
tatsächlich nur Varenje sagen? Geradezu witzig wird es, wenn
Apollonyč "im Winter wie im Sommer in einem gestreiften wattierten
- wissenschaftlich transkribierten -
Šlafrok" umherwandert. Von dieser Original-Übertreibung abgesehen,
ist Peter Urban eine herausragende Übersetzung gelungen, "die den
einfachen Stil Turgenevs nicht bombastisch aufbläht, nicht unzulässig
modernisiert" (Wolfgang Schneider). Sie liest sich geschmeidiger als alle bisherigen,
darunter auch die vergleichsweise sorgfältige von Herbert Wotte, zu
DDR-Zeiten im Berliner Aufbau-Verlag erschienen. |
Gisela Reller /
www.reller-rezensionen.de
Weitere Rezensionen zu "Titel der klassischen russischen Literatur":
|
- Anthologie, Märchen-Samowar, (Darin: Nikolaj
Gogol, Der Jahrmarkt von Sorotschinzy; Anton Tschechow, Kaschtanka;
Nikolaj Gogol, Die Nase;
Alexander Puschkin, Das Märchen vom Zaren Saltan.), Kinderbuch.
- Lydia Awilowa, Tschechow, meine Liebe. Erinnerungen.
- Jean Benedetti (Hrsg.), Mein ferner lieber Mensch.
- Iwan Bunin, Liebe und andere Unglücksfälle.
- Iwan Bunin, Mitjas Liebe.
- Ivan Bunin, Čechov
(Tschechow). Erinnerungen eines Zeitgenossen.
- Anton Čechov
(Tschechow), Freiheit von Gewalt und Lüge.
- Anton Čechov
(Tschechow), Ein unnötiger Sieg.
- Anton Čechov
(Tschechow), Zwei Erzählungen. (Die Dame mit dem Hündchen / Rothschilds Geige), Hörbuch.
- Anton Čechov (Tschechow), Kaschtanka und andere Kindergeschichten. (Ein Hund, ein Ganter, ein Schwein, ein paar Katzen,
ein Pferd, eine
Wölfin, ein Welpe...)
- Fjodor Dostojewskij
(Dostojewski), Meistererzählungen.
- Fjodor Dostojewski
(Dostojewskij), Der Spieler, Hörbuch.
- F. M. Dostojewski
(Dostojewskij), Meistererzählungen, Hörbuch. (Polsunkow / Der kleine Knabe "mit dem Händchen"/Der kleine
Knabe am Weihnachtsabend beim Herrn Jesus).
- Nikolaj Gogol, Die Nase,
Kinderbuch.
- Nikolaj Gogol, Petersburger Geschichten.
- Gogols Petersburger Jahre, Gogols Briefwechsel mit Aleksandr Puškin
(Alexander Puschkin).
- Nikolaj Gogol, Meistererzählungen.
- Ivan Gončarov (Iwan Gontscharow), Die Schwere Not.
- Iwan Gontscharow
(Ivan Gončarov), Oblomow.
- Iwan Gontscharow (Ivan Gončarow),
Für den Zaren um die halbe Welt.
- Kjell Johansson, Gogols Welt.
- Wolfgang Kasack, Dostojewski. Leben und Werk.
- Alexander Kuprin, Die schöne Olessja. Eine Liebesgeschichte aus dem alten Rußland.
- Nikolai Leskow, Der Gaukler Pamphalon.
- Vladimir Odoevskij, Prinzessin Mimi / Prinzessin Zizi.
- Aleksandr Puškin (Alexander
Puschkin), Das einsame Häuschen auf der Basilius-Insel.
- Alexander Puschkin (Aleksandr Puškin),
Pique Dame, Hörbuch.
- Lew N. Tolstoj, Hadschi Murat. Eine Erzählung aus dem Land der Tschetschenen.
- Leo Tolstoj, Anna Karenina, Hörbuch.
- Anton Tschechow
(Čechov), Kaschtanka.
- Anton Tschechow
(Čechov), Der Kirschgarten, Hörbuch.
- Anton Tschechow
(Čechov), Drei Schwestern, Hörbuch.
- Anton Tschechow
(Čechov), Von der Liebe, Hörbuch.
- Maria Tschechowa, Mein Bruder Anton Tschechow
(Čechov).
- Gustave Flaubert / Ivan Turgenjev, Eine Freundschaft in Briefen, Hörbuch.
- Ivan Turgenev, Rätsel-Spiele.
- Ivan Turgenev, Klara Milič.
|
Weitere Rezensionen zu "Bücher aus der Reihe MANESSE Bibliothek der Weltliteratur":
|
- Nikolaj Gogol, Meistererzählungen.
- Iwan Gontscharow, Oblomow.
- Maxim Gorki, Meisternovellen.
- Vladimir Nabokov, Die Venezianerin.
- Vladimir Odoevskij, Prinzession Mimi / Prinzessin Zizi. Zwei Novellen.
Am 27.06.2007 ins Netz gestellt. Letzte Bearbeitung am
26.11.2019.
Das unterschiedliche Schreiben von Eigennamen ist den unterschiedlichen Schreibweisen der Verlage geschuldet. |
Mach du deins und lass den Nachbarn seins. |
Sprichwort der Russen |
|
|