Zeitweise hat man das Gefühl, der Roman Der Spieler müsste "Die
Spielerin" heißen, so verbissen zockt am Rouletttisch in Roulettenburg
(Womit Wiesbaden gemeint ist; Städtke schreibt in seiner
Literaturgeschichte
falsch, es handle sich um Bad Homburg.) die resolute Erbtante (voluminös
gesprochen von Jennifer Minetti, 1940 in Berlin geboren, von 1977 bis
2001 Ensemblemitglied der Münchner Kammerspiele). Die deutschen Kurstädte von Bad Homburg bis
Baden-Baden und natürlich Wiesbaden sind in der zweiten Hälfte des 19.
Jahrhunderts in ganz Europa groß in Mode. "Die Deutschen (...) sorgten dafür, daß nicht nur
die kostbaren Quellen, sondern auch die Einnahmen" sprudelten. Jede
Kurstadt bekam ihr eigenes Spielkasino; die Spielbank von Wiesbaden
wurde von Fürst Carl von Nassau-Usingen erstmals 1771 konzessioniert.
Der Spieler erschien laut Kasacks
"Hauptwerke der russischen Literatur" 1867, laut Nachwort von Ralf
Schröder (in "Der ewige Ehemann", Ausgewählte Prosa, Aufbau-Verlag
Berlin und Weimar 1971) schon 1866. Fjodor Dostojewski - der neben
Tolstoj bekannteste, produktivste und einflussreichste russische
Schriftsteller - wurde 1821 als jüngster Sohn einer verarmten
Adelsfamilie in Moskau geboren. Nach dem Tod der Mutter übersiedelte die
Familie nach St. Petersburg, wo
er an der Militärakademie studierte. Ab 1844 war er als freier Autor in
St. Petersburg
tätig. Nach ersten schriftstellerischen Erfolgen - wenige Autoren sind
schon von ihrem ersten Auftreten in der Literatur so gut aufgenommen
worden - wurde er 1849 wegen angeblich staatsfeindlicher Aktionen
im Kreis um Petraschewskij, einer Gruppe von jungen,
sozialistisch-orientierten Intellektuellen, denunziert, verhaftet und
zum Tode verurteilt. Zar Nikolaus I. begnadigte ihn auf dem Richtplatz
zu Verbannung mit Zwangsarbeit. 1859 kehrte er nach
St. Petersburg
zurück, wo in den folgenden Jahren seine bekannten Romane entstanden.
1867 floh er vor seinen Gläubigern nach Europa und kehrte erst 1871 nach
Russland zurück. Fjodor Dostojewski starb 1881 nach einem Blutsturz. An
der Trauerfeier nahmen sechzigtausend Trauergäste teil; er war auch
Swetlana Stalins Lieblingsschriftsteller.
Dostojewski war 1863 nach Westeuropa gereist,
mit dem Ziel, sich in Paris mit seiner Geliebten Polina (Apollinarija) Suslova zu treffen. Durch das Verbot der von ihm
mit herausgegebenen Zeitschrift "Wremja" (Die Zeit) war er in
finanzielle Schwierigkeiten geraten. Sie waren wohl der Anlass zu seinem
Besuch in der Wiesbadener Spielbank. Dort kam Dostojewskis
verhängnisvolle Spielleidenschaft zum Ausbruch. Welche fatalen,
auch bemitleidenswerten Auswirkungen seine Spielsucht hatte, darüber
erfährt der Leser in Karla Hielschers Buch
"Dostojewski in Deutschland"
viele Einzelheiten - auch über den glanzvollen Spiel-
und Kurbetrieb der deutschen Kurorte im 19. Jahrhundert.
1863 war Dostojewski vorübergehend nach
Russland
zurückgekehrt. Doch schon im Sommer 1865 zog es ihn wieder nach Wiesbaden an den Rouletttisch. In
kurzer Zeit verspielte er dort dreitausend Rubel, Geld, das ihm sein
Verleger für die Rechte an einer Ausgabe seiner bisherigen Werke und
unter der Bedingung, dass er bis zum 1. November 1866 einen neuen Roman
vorlege, vorgeschossen hatte. Unter dem Druck dieser vertraglich
festgelegten Forderung diktierte er im Oktober 1966 in knapp vier Wochen
den "Spieler" seiner späteren zweiten Frau Anna Grigorjewna.
Sie schreibt in ihren "Erinnerungen": "Am 29. Oktober fand unser letztes
Diktat statt. Der Roman `Der Spieler´ war beendet. Vom 4.-29 Oktober
[1866], also in sechsundzwanzig Tagen,
hatte Fjodor Michailowitsch einen Roman von sieben großformatigen
Druckbogen zu zwei Spalten geschrieben."
In der Hauptgestalt des fünfundzwanzigjährigen Erzählers Alexej
Iwanowitsch (überzeugend gesprochen von Milan Peschel, geboren 1968 in
Berlin; mir gefiel er besondern in seiner
Fernsehrolle in "Stauffenberg", 2003) porträtiert sich
Dostojewski selbst.
Worum geht es in diesem
Buch, dessen Autor von Friedrich Nietzsche als der "tiefste Psychologe"
der Weltliteratur" bezeichnet wird und als der "einzige Psychologe", von
dem er "etwas zu lernen hatte". In "Roulettenburg" wartet die Familie
eines hoch verschuldeten russischen Generals voller Ungeduld auf die
Nachricht, dass die Erbtante endlich gestorben ist. Doch statt des
sehnsüchtig erwarteten Geldes trifft die mopsfidele Tante persönlich
ein. In wenigen Tagen verspielt sie fast ihr ganzes Vermögen. In dieser
verzweifelten Situation sucht Polina, die Tochter des Generals
(abwechselnd verständnisvoll und abweisend gesprochen von Brigitte Hobmeier,
geboren 1976 in München; 2004 erhielt sie den Mario-Adorf-Förderpreis)
die Nähe des Erzählers, des Hauslehrers - "was für eine unbedeutende
Person (...) in Rußland". Nachdem sie von ihrem Liebhaber, dem
jungen Franzosen des Grienx (eine für das Hörbuch stark eingekürzte
Rolle, gesprochen von Robert Hunger-Bühler, geboren 1953, brillierte z.
B. in der Rolle des Mephisto in der "Faust"-Mammutinszenierung 2003)
verlassen wurde, gesteht sie Alexej Iwanowitsch ihre Liebe. Zu spät? Obwohl die Hassliebe zu Polina
bisher sein eigentlicher Lebensinhalt war, stürzt er fort, setzt das
letzte Goldstück und gewinnt. Zwar kehrt er zu Polina zurück, doch beide
wissen, dass eine unbezähmbare Sucht ihn wieder zum Spieltisch treiben
wird. ("Warum soll denn das Spiel schlechter sein als irgendein anderes
Mittel des Gelderwerbs, zum Beispiel als der Handel?") Der arme
Hauslehrer Alexej Iwanowitsch wird zum Spieler, um soziale
Unabhängigkeit und Glück zu erlangen, aber durch seine (anfänglich)
märchenhaften Gewinne verfällt er dem Spielteufel. Polina verlässt
Alexej, als sie erkennt, dass er dem Spiel rettungslos verfallen ist.
Und sie tat gut daran, denn Alexej Iwanowitsch - ein vielseitiger, aber
unfertiger Charakter, der die Universität besucht hat - gerät in den
Schuldturm und fristet sein Leben zeitweise als Diener. Anna Grigorjewna
Majakowskaja sagt in ihren "Erinnerungen", dass ihr späterer Mann
voll und ganz auf seiten des `Spielers` stand, und er vieles von dessen
Gefühlen und Eindrücken an sich selbst erfahren habe: "(...) man
könne sehr wohl einen starken Charakter besitzen, dies mit seinem Leben
beweisen und dennoch nicht die Kraft aufbringen, die Leidenschaft für
das Roulettspiel zu bezwingen."
Ich finde, dass man spürt, dass dieses Werk unter Zeitdruck
geschrieben wurde. Es erscheint eher improvisiert als durchkomponiert.
Und dies schreibt Anna Grigorjewna in ihren "Erinnerungen": "Die
Kritiker warfen Fjodor Michailowitsch oftmals die mißlungene Form seiner
Romane vor, tadelten, in einem Roman seien im Grunde mehrere enthalten,
die Ereignisse häuften sich und vieles bleibe unvollendet. Die
gestrengen Kritiker wußten wahrscheinlich nicht, unter welchen
Bedingungen Fjodor Michailowitsch schreiben mußte. Es kam vor, daß die
ersten drei Kapitel eines Romans schon gedruckt waren, das vierte
gesetzt, das fünfte soeben mit der Post abgeschickt, das sdechste
geschrieben wurde, die übrigen aber noch nicht einmal konzipiert waren."
Trotz aller Improvisation klingen im "Spieler" bereits Zentralmotive von
Dostojewskis späteren großen
Romanen an: die Hassliebe - die Alexej und Polina verbindet, wie sie im
Leben Dostojewski und die Suslova verband - und die mit Reichtum
einhergehende Machtgier. Der Spieler ist ein Werk des Übergangs
vom novellistischen Frühschaffen zu den großen Spätromanen Dostojewskis.
Der Roman hat den "Charakter eines Schlüsselwerks" (Ralf Schröder).
Wahrlich in Starbesetzung kommt das Hörbuch Der Spieler daher.
Neben den schon genannten Schauspielern sprechen ihre Rollen besonders
eindrucksvoll als Mademoiselle Blanche Sophie von Kessel (geboren 1968
in Mexico City. Von 1997 bis 2001 war sie an den Münchner Kammerspielen
engagiert, gegenwärtig spielt sie in zahlreichen Fernseh- und
Kinofilmen), als General Christoph Bantzer (geboren 1936 in Marburg an
der Lahn, seit 1985 hat er ein Engagement am Thalia Theater in
Berlin). Was nervt, sind die Geräusche (die rollenden Kugeln?) am
Rouletttisch...
Das Hörbuch hat seinen Siegeszug noch lange nicht beendet. In den
ersten neun Monaten des Jahres 2005 ist der Umsatz von Hörbüchern um
fast 20 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum gewachsen. Die
Verlage hoffen nach geschätzten 60 Millionen Euro Vorjahresumsatz im
laufenden Jahr die Marke von 100 Millionen Euro zu erreichen. Den
größten Zuwachs verzeichnete die Belletristik mit plus 34,6 Prozent.
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