Belletristik REZENSIONEN

Das Hohelied der Faulheit

Russe
Oblomow
Aus dem Russischen von Clara Brauner
Mit einem Nachwort von Fritz Ernst
MANESSE Bibliothek der Weltliteratur
Manesse Verlag, Zürich 1998, 686 S.
 
"Mein Großvater mütterlicherseits, der wie ein richtiger Tatar aussah", schreibt Nina Berberova in ihrer Autobiographie, "gehörte (...) der freiheitsliebenden Städtevertretung von Twer an (...) Er hieß Iwan Dmitrijewitsch. Sein Vater, Dmitri Lwowitsch, war das Vorbild für Gontscharows `Oblomow´, und einmal, als der Dichter bei seinem Helden zu Gast war, vergaß er ein perlenbesticktes Uhrenetui, und damit habe ich später als Kind gespielt. Das Etui war zerschlissen und furchtbar speckig, und man erlaubte mir nicht, es in den Mund zu nehmen, aber es gelang mir doch. Sein Geschmack erinnerte an Hühnerkotelett." Mich wundert, dass diese interessante Tatsache in keinem Oblomow-Nachwort und in keiner mir zugänglichen Literaturgeschichte angemerkt ist...

Iwan Gontscharow (sprich: Gontscharów) hat einige Geschichten, ein Reisebuch und drei Romane geschrieben - kein gerade fruchtbarer Autor. Bereits in seiner ersten Geschichte "Die Schwere Not" (1838 erschienen) agiert ein Oblomow-Typ, wenn auch noch nicht als Hauptheld. Die drei im Abstand von jeweils einem Jahrzehnt erschienenen Romane Gontscharows ("Eine gewöhnliche Geschichte", Oblomow, "Die Schlucht") bilden eine thematische Einheit. "Sie alle sind dem Typus des begabten, gebildeten, wirklichen Idealen verpflichteten (...), jedoch zu welt- und lebensferner Wirkungslosigkeit verurteilten russischen Adligen gewidmet", schreibt Christoph Koch in "Hauptwerke der russischen Literatur".

Gontscharows bedeutendster Roman Oblomow erschien 1859; die Zeit der Handlung ist etwa die der fünfziger Jahre des 19. Jahrhunderts. Der etwa dreißigjährige Gutsbesitzer Oblomow hat vergeblich versucht, eine befriedigende Beschäftigung im zaristischen Staatsdienst zu finden. Er quittierte den Dienst und lebt nun ohne jede Beschäftigung. Er verbringt den Tag liegend mit unnützen Überlegungen und mit nicht ausgeführten Plänen, vertilgt große Mengen Essbares, schläft wie ein Murmeltier. Nichts und niemand vermag, ihn von seinem Ruhelager zu vertreiben: Immer wieder kehrt er zu seinem Sofa, seinem Schlafrock und seinen Pantoffeln zurück.

tr Kropotkin, dem wir neben seinen revolutionären Schriften auch eine Russische Literaturgeschichte zu verdanken haben, nannte Gontscharows Hauptwerk das "Hohelied der Faulheit - einer Faulheit, die durch ein ganzes Leben alt gewohnten Landbesitzertums geschaffen worden war." Nur für kurze Zeit gibt Oblomow die Liebe zu der energievollen Oljga Iljuskaja Kraft zu neuer Aktivität. Doch als diese wieder dahin ist, verlässt sie ihn. Und er, den ihre Liebe zugleich rührt und erschreckt, lässt es geschehen. In die Buchheldin Oljga verliebten sich damals, als das Buch erschien, Tausende junger Leute, und ihr Lieblingslied "Casta Diva" (das auch den Musikliebhaber Oblomow zu Tränen rührte) wurde ihrer aller Lieblingsmelodie.

Nach mehr als einem Jahr heiratet Oljga den "deutschen Halbrussen" Andrej Iwanowitsch Stoltz. Der talentierte und strebsame Geschäftsmann Stoltz, der Freund Oblomows aus Kindheitstagen, scheint von Gontscharow als Gegenpart zu Oblomow angelegt. Aber ist er als solcher gelungen? Der bedeutende russische Kritiker und Publizist Nikolaj Dobroljubow (1836-1861) lehnt ihn als Ideal einer fortschrittlichen Gestalt ab. Und Kropotkin schreibt gar: " (...) Dieser Stoltz ist eher das Symbol einer intelligenten Tatkraft als ein lebendiger Mensch. Er ist konstruiert, und ich übergehe ihn."  Ich auch.

Eher ist Oljga, die sich alle Mühe gibt, Oblomow aus seinem schläfrigen Dahinvegetieren zu reißen, der positive Held. Sie versucht, in ihm ein Interesse für Kunst und Literatur hervorzurufen und ihm sein Leben so zu gestalten, dass seine begabte Natur ein Tätigkeitsfeld hätte finden können. Wenige Monate nachdem Oljga und Oblomow auseinander gehen, heiratet Oblomow seine ungebildete Vermieterin, die Witwe mit zwei Kindern Agafja Pschenizina. Sie ist ihm voll ergeben, bekocht und umsorgt ihn und flickt geduldig seinen Schlafrock. Mit Agafja verbringt Oblomow sein weiteres Leben "in einem Goldrahmen" - in ungestörter Bequemlichkeit "ohne süße und bittere Tränen", wie bei Oljga. Die außerordentlich fleißige und reinliche, die gütige und sanfte Agafja liebt Oblomow von ganzem Herzen, auch noch über seinen Tod hinaus. Und er, Oblomow? Er betrachtet sie mit demselben Vergnügen, mit dem er des Morgens den heißen Käsekuchen anschaut. Als Stoltz erfährt, dass sein langjähriger Freund "die Hausfrau" geheiratet und mit ihr einen dreijährigen Sohn hat, tut sich ihm "ein Abgrund auf" und es erhebt sich "eine steinerne Mauer". Sein Freund ist für ihn verloren. Doch dieser bittet ihn, seinen Sohn Andrej nicht zu vergessen, wenn "ich nicht mehr da bin". Zwei Jahre später stirbt Oblomow an einem wiederholten Schlaganfall und sein Sohn wird von Stoltz und seiner Frau Oljga an Kindes statt angenommen. Besonders wichtig für die Motivierung der Titelgestalt ist das neunte Kapitel des ersten Teils mit dem Titel "Oblomows Traum", das der Autor zehn Jahre vor der Veröffentlichung des ganzen Romans gesondert herausgab. In Form eines Traumes werden Kindheit und Jugend des Helden nachgetragen. "Detail um Detail trägt das Kapitel die Eindrücke des wohlhabenden, gesicherten Gutsbesitzermilieus auf die empfindsame Psyche des Kindes zusammen, welche bewirkten, daß sich früh alle Aktivität und Energie des Knaben nach innen, auf das eigene Ich richteten." (Christoph Koch)

"Oblomowerei" nennt Stoltz das faule Leben seines Freundes, des Edelmannes Oblomow. Bis heute hat sich dieser Begriff erhalten als Anklage gegen die herrschende Gesellschaft der Gutsbesitzer, des Land- und des Dienstadels. Besonders einprägsam finde ich die Gestalt des schmuddligen und tollpatschigen Dieners Sachar. Er, ein negativer Vertreter der Leibeignen, ermöglicht seinem adligen Herrn das Leben eines überflüssigen Nichtstuers. "Sachar ist der Typ des korrumpierten Untertanen, der sich bei aller Kritik an seinem Herrn das eigene Dasein nicht anders denn als Unterwerfung und als Dienen vorzustellen vermag", schreibt Christoph Koch.

Iwan Gontscharow (1812-1891) bekam seine Bildung bei einem Landpopen, dann in einem Internat, dann auf der Moskauer Universität; mit dreiundzwanzig Jahren trat er eine Staatsstelle in Petersburg an. Er war im Finanzministerium beamtet, später Direktor eines offiziellen Blattes, zuletzt Zensor. Alle diese Funktionen, die zuweilen sehr anstrengend waren, hat er gewissenhaft erfüllt. Am gefährlichsten war das Zensoramt - denn der Zensor war seinerseits auch wieder der Zensur unterworfen. Ein bisschen hat Oblomow vom Autor - der sich selbst als "ein Schriftsteller von ziemlicher Leibesfülle, mit apathischem Gesicht und sinnenden, gleichsam schläfrigen Augen" beschreibt.

Geradezu ein Aha-Erlebnis hatte ich, als ich in Tatjana Kuschtewskajas " Die Poesie der russischen Küche" las, wie man Oblomows Lieblingsschnaps "Wodka auf Johannisbeerblättern" herstellt. Leider findet sich bei der Autorin kein Rezept für Oblomows "Lieblingssuppe mit Gekröse".

Das Gegenteil von einem Aha-Erlebnis hatte ich, als ich in Bunins "Erinnerungen eines Zeitgenossen" einen Brief von Anton Čechov fand, den er Anfang Mai 1889 an seinen Verleger und Freund Suvorin schrieb: "Unter anderem lese ich Gončarov und staune. Ich staune über mich selbst: wieso habe ich Gončarov bis heute für einen erstrangigen Schriftsteller gehalten? Sein Oblomov ist eine ganz unbedeutende Sache. Ilja Iljič, eine outrierte Figur, ist jedenfalls nicht so groß, daß es sich lohnte, seinetwegen ein ganzes Buch zu schreiben. Ein aufgedunsener Faulpelz, wie es viele gibt, unkompliziert von Natur, durchschnittlich, klein; ihn zu einem Typus der Gesellschaft zu erheben, das ist zu viel der Ehre. Ich frage mich: wenn Oblomov kein Faulpelz wäre, was wäre er dann? Und ich antworte: nichts. Und wenn das so ist, dann soll er doch weiterschlafen."


Gisela Reller / www.reller-rezensionen.de
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Am 16.12.2004 ins Netz gestellt. Letzte Bearbeitung am 01.01.2017.

Das unterschiedliche Schreiben von Eigennamen ist den unterschiedlichen Schreibweisen der Verlage geschuldet.

Der Faule wird fleißig, wenn die Sonne schlafen geht.
Sprichwort der Russen

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