Hörbuch REZENSIONEN

Wie aus einem Kätzchen ein junger Kater wird...

Russe
Meistererzählungen
Polsunkow / Der kleine Knabe "mit dem Händchen" / Der kleine Knabe am Weihnachtsabend beim Herrn Jesus
Lesung
Nach der Übersetzung von Hermann Röhl
Sprecher: Gerd Wameling
Regie: Torsten Feuerstein, Aufnahme: Audio Vision Studios
Argon-Hörbücher, Argon Verlag, Berlin 2005, 1 CD, Laufzeit: etwa 58 Minuten

(Rezensiert, entsprechend dem Gästebuch-Eintrag von Dirk S.)

Mit Fjodor Dostojewski (1821-1881) trat einer der größten russischen Romanautoren auf den Plan. Wer hat nicht schon von "Arme Leute", "Der Doppelgänger", "Erniedrigte und Beleidigte", "Schuld und Sühne", "Der Spieler", "Der Idiot", "Die Dämonen", "Der Jüngling", "Die Brüder Karamasow"... gehört? Auch viele seiner Erzählungen sind allseits bekannt, z. B. "Die Sanfte", "Eine dumme Geschichte", "Eine fremde Frau und der Ehemann unter dem Bett"...

Erfreulich, dass es der Argon-Verlag gewagt hat, zwei seiner weniger bekannten Erzählungen (die zweite und die dritte Geschichte ergeben eine Erzählung) als Hörbuch herauszubringen.

In Polsunkow, zwanzig Seiten lang, 1848 erschienen, erzählt Ossip Michailytsch Polsunkow einer Zuhörermenge - für Geld - wie es dazu kam, dass er seine Auserwählte nicht heiratete. Dostojewski - der Sohn eines Moskauer Armenarztes - interessierte sich vornehmlich für die charakterlichen Eigenschaften des Milieu geprägten Mannes, der nicht zu den Durchschnittstypen seiner sozialen Schicht gehört. Im Nachwort zum zweiten Buch der zwanzigbändigen Werkausgabe (Aufbau-Verlag Berlin und Weimar 1981) schreibt der Mitherausgeber Michael Wegner, dass der Held dieser Erzählung eine tragikomische Variante der in sich gekehrten, von krankhaften Ambitionen beherrschten, misstrauischen Menschen aus den untersten Gesellschaftsschichten sei, die bei der Verteidigung ihrer bedrohten Menschenwürde auf verlorenem Posten ständen. Ja, sehr detailliert beschreibt Dostojewski sowohl das Äußere des kleinen Mannes, als auch seine feinsten Regungen, Gefühle und Gedanken. Der Bühnenschauspieler Gerd Wameling - 1948 in Paderborn geboren, seit 1994 freiberuflich, auch in vielen Film- und Fernsehproduktionen zu sehen, u. a. im "Tatort" - liest diese Erzählung mit seiner warmen, angenehmen Stimme. Köstlich, wie er die Zurufe aus der Menge "schauspielert".

Die Erzählung Polsunkow ist in der genannten Werkausgabe übersetzt von Georg Schwarz. Die Übersetzung der Hör-Erzählung nahm Hermann Röhl vor.  Bei ihm "verflüchtigt sich" niemand, sondern "geht fort", "verdrückt sich" keiner, sondern "geht weg", bei ihm wird aus einem "Tropf" ein "Dummkopf", aus einem "Schnupftuch" ein "Taschentuch", aus "Herzensgüte" wird "Gutherzigkeit", aus "ganzes Fleisch und Blut" wird "Individualität", aus eine "abgestempelte Person" eine "respektable Persönlichkeit" und "ein bestochener Bestecher" wird "ein bestechlicher Beamter"... Es macht Spaß und stimmt an vielen Stellen nachdenklich, wie unterschiedlich Schwarz und Röhl Polsunkow übersetzt haben. Was, so habe ich mich (auf S. 9) denn doch gefragt, ist ein "Schlafittich"? Gemeint ist doch wohl ein "Schlafittchen" (nur noch in der Wendung "jemanden beim Schlafittchen kriegen, packen" gebräuchlich; bei Roth wird daraus ein "Nacken".). Es scheint bei den Korrekturen aber nicht nur um Stilfragen gegangen zu sein. Denn wie sonst kann aus einem "Zipfel Wurst" ein "Stück Semmel" werden, aus einem "Kätzchen" ein "junger Kater"? Sehr gefreut hat mich Liebhaberin vom Genitiv-s und Dativ-e, daß der Korrektor der Röhlschen Hörbuch-Übersetzung das Dativ-e wieder eingeführt hat. Und so wird für mich zum Ohrenschmaus "aus seinem Munde", "unter dem Kopfe", "hinter dem Holze"...

In "Der ewige Ehemann" (Ausgewählte Prosa, Aufbau-Verlag, Berlin und Weimar 1971) ist schwarz auf weiß "Der Junge beim Herrn Jesus zur Weihnacht" zu lesen, übersetzt von Hermann Röhl. Vierunddreißig Jahre später wurde daraus, ebenfalls in der Übersetzung von Röhl "Der kleine Knabe am Weihnachtsabend beim Herrn Jesu". Auch im ganzen Hör-Text ist das vielmals vorkommende Wort "Junge" in "Knabe" umgewandelt. Vom Übersetzer? Vom Verlag? Ich jedenfalls empfinde diese Korrektur als eine Verbesserung. Auch die weiteren behutsamen Korrekturen haben der Jahrzehnte alten Übersetzung gut getan.

In dieser sehr zu Herzen gehenden Geschichte "Der kleine Knabe am Weihnachtsabend beim Herrn Jesu" erfriert ein kleiner, sehr armer Knabe, sechs Jahre alt hinter einem Holzstapel - nachdem er hinter den Fensterscheiben reicher Leute wunderbar geschmückte Weihnachtsbäume erblickte, lustige "lebendige" Puppen bestaunte und von seiner gerade erst verstorbenen Mutter träumte... In "Tagebuch eines Schriftstellers" erwähnt Fjodor Dostojewski diese knapp acht Seiten lange Geschichte: "Die `Peterburgskaja gaseta´ (`Petersburger Zeitung´) beeilte sich, der Leserschaft in einem Leitartikel ins Gedächtnis zu rufen, daß ich für Kinder und Jugendliche und für die junge Generation keine Liebe empfinde, und in der gleichen Nummer druckte sie unten, im Feuilleton, eine ganze Erzählung aus meinem `Tagebuch´ ab: `Der Junge beim Herrn Jesus zur Weihnacht´, die zumindest davon zeugt, daß ich Kinder nicht ganz und gar hasse." Hasse? Lieben würde ich sagen, lieben, lieben, lieben... Diese Weihnachtsgeschichte, die ich bisher nicht gelesen hatte, reihe ich unumstößlich in meine Dostojewskischen Lieblingsgeschichten ein.


Gisela Reller / www.reller-rezensionen.de
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Am 06.12.2005 ins Netz gestellt. Letzte Bearbeitung am 04.01.2017.

Das unterschiedliche Schreiben von Eigennamen ist den unterschiedlichen Schreibweisen der Verlage geschuldet.

Gesprungene Töpfe halten am längsten.
Sprichwort der Russen

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