Belletristik REZENSIONEN |
Die späten Novellen - eine dichterische Kür...
|
Ivan Turgenev |
Russe |
Klara Milič
Zwei
Novellen
Aus dem
Russischen übersetzt und mit Anmerkungen sowie einem Nachwort versehen
von Dorothea Trottenberg |
Dörlemann Verlag, Zürich 2006, 175 S.
Der Schweizer Dörlemann Verlag, 2003 gegründet, ist ein kleiner,
feiner Literaturverlag - mit besonderem Augenmerk auf die russische
Literatur. Klara Milič,
gebunden in silbergrauem Leinen mit einem Bildaufdruck "Bildnis einer
Dame mit Fächer" von Eugène Verdyen, in schmalem Format liegt angenehm in der Lesehand; den Buchtext leitet ein Altersporträt von Turgenev ein. Auch der
Satzspiegel mit der 12 Punkt großen Schrift und den breiten Rändern
bereitet ein ästhetisches Lesevergnügen. Das Vorsatzpapier beeindruckt
mit einer liebevoll ausgewählten Zeichnung eines "Künstlerischen Abends bei Turgenev in Baden-Baden", am Klavier
Pauline Viardot. Aber:
Warum auf dem Vorsatz- und Nachsatzpapier dieselbe Szene?
Ivan Turgenev (1818-1883), der einem
alten Adelsgeschlecht im Gouvernement Orël entstammte, schrieb am
Anfang seiner literarischen Laufbahn Gedichte und Poeme im
romantischen Geist. Neben seinen späteren Romanen (1856 "Rudin", 1859
"Ein Adelsnest", 1860 "Am Vorabend", 1860 "Väter und Söhne", 1867
"Rauch", 1877 "Neuland") schrieb er während seiner langen
Schaffenszeit auch immer wieder Erzählungen, beginnend mit den
"Aufzeichnungen eines Jägers".
In seinem Spätwerk entfaltet der inzwischen in ganz Europa bekannte
und geschätzte russische Autor seine novellistische Begabung.
Pëtr
Kropotkin schreibt in seiner 1905 erstmalig erschienenen
Literaturgeschichte: "Im künstlerischen Aufbau, in der Eleganz und
Schönheit seiner Novellen war Turgenev höchstwahrscheinlich der größte
Novellist seines Jahrhunderts." Turgenevs Novellen mit einem
jeweils klar umrissenen Grundmotiv waren seine dichterische Kür, bei
der er sich seinen Lieblingsthemen - Liebe, Natur, Kunst, der
Phantastik und dem Okkultismus - überlassen konnte. Zwei der späten
Novellen sind in dem bibliophilen Bändchen des (Sabine) Dörlemann
Verlages enthalten, neu übersetzt von Dorothea Trottenberg, die in Köln und
Leningrad
Slawistik studiert hat; zuletzt erschien in ihrer
Übersetzung Iwan Bunins Revolutionstagebuch "Verfluchte Tage". Ihre
Übersetzungen zeichnen sich besonders dadurch aus, dass sie zeitgemäß
sind, ohne den Autoren des 19./20. Jahrhunderts
Gewalt anzutun.
Die erste Novelle - Das Lied der triumphierenden Liebe -
erschien zwei Jahre vor Turgenevs Tod im Jahre 1981. Der Musiker Muzio und der Maler Fabio
werben beide um Valeria, das schönste Mädchen von Ferrara. Valeria
entscheidet sich, dem Rat ihrer Mutter folgend, für den freimütigen,
heiteren Fabio. Muzio, der Düstere, verlässt die Stadt und kehrt erst
nach fünf Jahren, die er im Orient verbracht hat, nach Ferrara zurück.
Freudig wird er von dem glücklichen Paar empfangen. Anfangs scheint
es, als habe Muzio seiner Liebe zu Valeria entsagt, doch als er den
Gastgebern auf seiner indischen Geige das leidenschaftliche "Lied der
triumphierenden Liebe" vorspielt, steht Valeria unter dem Bann des Heimgekehrten,
dessen magisch-zauberischen Kräften sie sich willenlos fügt. Jede
Nacht bei Mondschein ruft Muzio sie zu sich in den Rosengarten; in
einer traumartigen Trance gehorcht sie seinem Befehl. Auch diese Novelle verrät
eine besondere Seite von Turgenevs Künstlertum: seine Traumkunst. Kaum
ein anderer russischer Künstler bewahrte in seinen Erzählungen und
Novellen soviel Träume und Traumähnliches auf wie er. Sie waren für
ihn das Mittel, die dunklen Seiten der Seele auszudrücken, den
unerklärlichen, irrationalen Rest des Lebens wiederzugeben. Klaus Städtke verweist in diesem Zusammenhang in seiner
"Russischen Literaturgeschichte"
auf den Einfluss Schopenhauers, und was die Stimmung des Unheimlichen und Übersinnlichen angeht, auf E. T. A.
Hoffmann und E. A. Poe. Auch Reinhard Lauer spricht in seiner
"Kleinen
Geschichte der russischen Literatur" von "Schopenhauers
pessimistischen Maximen" und dessen Einfluss auf Turgenevs zunehmend pessimistische Weltsicht. Als Fabio hinter die Stelldicheine
von Muzio und Valeria kommt, lauert er dem Freund im Garten auf und
erdolcht ihn. Das Lied der triumphierenden Liebe - vorgeblich
nach einer italienischen Handschrift des 16. Jahrhunderts - ist dem Gedenken
Gustave Flauberts gewidmet;
als Leitmotiv vorangestellt, sind Friedrich Schillers Worte "Wage Du zu irren und zu träumen!"
Die zweite Novelle - Klara Milič
- erschien im Todesjahr Turgenevs, im Jahre 1883, sie beruht auf
einer wahren Begebenheit: Die begabte junge Sängerin und
Schauspielerin Evlalija Kadmina nahm 1881 im Theater von Charkov in
einem Drama von Aleksandr Ostrovskij auf offener Bühne Gift und
verstarb. Vladimir Alenicyn, ein Magister der Zoologie, der die
Kadmina zu ihren Lebzeiten nur einmal auf der Bühne gesehen hatte,
verfiel ihr nach ihrem Tod in pathologischer Liebe. Turgenev hatte den
Unglücklichen bei Žozefina
Polonskaja kennengelernt, der er im Dezember 1881 schrieb: "Eine
überaus interessante psychologische Tatsache... Daraus ließe sich eine
halbphantastische Erzählung im Stile von Egar Allan Poe machen". Im
August 1882 verarbeitete Turgenev diese Geschichte zu einer Novelle,
die er zunächst "Nach dem Tode" nannte. In der später umbenannten Novelle Klara Milič
ist es der sensible Student der Naturwissenschaften Jakov Aratov, der bei einer Gesellschaft die junge
Sängerin Klara Milič kennen lernt,
und die sich kurz darauf das Leben
nimmt. Aratov bleibt nichts als eine Fotografie von ihr, die bald eine
magische und noch größere Faszination auf ihn ausübt, als die lebende
Klara es vermocht hatte. Er verfällt ihrem Bildnis und - stirbt,
glückselig, weil er weiß, dass die Liebe stärker als der Tod ist. In dieser letzten Novelle Turgenevs tritt seine
Aufmerksamkeit für das Abgründige und Phantastische noch einmal in den Vordergrund.
"Das Interesse Turgenevs an den Grenzzonen des menschlichen
Verstandes", schreibt Dorothea Trottenberg in ihrem Nachwort, "an den
unlösbaren Fragen von Willen, Liebe und Tod (...) greift nicht nur auf
die Fragen zurück, mit denen sich die russische Literatur des
neunzehnten Jahrhunderts (und besonders natürlich
Dostoevskij) immer
schon beschäftigt hatte."
Wer Turgenev liest, weiß, dass er auf herrliche Frauenporträts stoßen
wird, die Turgenevs männlichen Helden - finde ich - an Interessantheit
überlegen sind. "Vielleicht hat es solche Frauen, wie Turgenev sie zu
zeichnen pflegte, gar nicht gegeben", sagte
Lew Tolstoj, "aber nachdem
er sie gezeichnet hat, begannen sie in Erscheinung zu treten." Ein
tolles Kompliment eines Großen an einen Großen - zumal Turgenev
Jahrzehnte damit verbrachte, hinter der großen Liebe seines Lebens, der
verheirateten Opernsängerin Pauline Viardot, herzureisen.
Besonders unerfreulich finde ich es, wenn sich in einem so liebevoll
verlegten Buch gravierende Fehler einschleichen. So schreiben sich die Tataren
richtig mit einem "r" (S.127) und der in den Anmerkungen genannte
Übersetzer heißt richtig Hugo Huppert und nicht Hupper (S. 161). Sehr
unschön auch, das sich die Selbstmörderin im Nachwort der Trottenberg
Evlalija (S. 171) schreibt, und in den Angaben zum Buch (S. 175)
Eulalia. Da kommt man auf die Idee, dass im Verlag die rechte Hand
nicht immer weiß, was die linke tut...
|
Gisela Reller /
www.reller-rezensionen.de | Weitere Rezensionen zu "Titel der klassischen russischen Literatur":
|
- Anthologie, Märchen-Samowar, (Darin: Nikolaj
Gogol, Der Jahrmarkt von Sorotschinzy; Anton Tschechow, Kaschtanka;
Nikolaj Gogol, Die Nase;
Alexander Puschkin, Das Märchen vom Zaren Saltan.), Kinderbuch.
- Lydia Awilowa, Tschechow, meine Liebe. Erinnerungen.
- Jean Benedetti (Hrsg.), Mein ferner lieber Mensch.
- Iwan Bunin, Liebe und andere Unglücksfälle.
- Iwan Bunin, Mitjas Liebe.
- Ivan Bunin, Čechov
(Tschechow). Erinnerungen eines Zeitgenossen.
- Anton Čechov
(Tschechow), Freiheit von Gewalt und Lüge.
- Anton Čechov
(Tschechow), Ein unnötiger Sieg.
- Anton Čechov
(Tschechow), Zwei Erzählungen. (Die Dame mit dem Hündchen / Rothschilds Geige), Hörbuch.
- Anton Čechov (Tschechow), Kaschtanka und andere Kindergeschichten. (Ein Hund, ein Ganter, ein Schwein, ein paar Katzen,
ein Pferd, eine
Wölfin, ein Welpe...)
- Fjodor Dostojewskij
(Dostojewski), Meistererzählungen.
- Fjodor Dostojewski
(Dostojewskij), Der Spieler, Hörbuch.
- F. M. Dostojewski
(Dostojewskij), Meistererzählungen, Hörbuch. (Polsunkow / Der kleine Knabe "mit dem Händchen"/Der kleine
Knabe am Weihnachtsabend beim Herrn Jesus).
- Nikolaj Gogol, Die Nase,
Kinderbuch.
- Nikolaj Gogol, Petersburger Geschichten.
- Gogols Petersburger Jahre, Gogols Briefwechsel mit Aleksandr Puškin
(Alexander Puschkin).
- Nikolaj Gogol, Meistererzählungen.
- Ivan Gončarov (Iwan Gontscharow), Die Schwere Not.
- Iwan Gontscharow
(Ivan Gončarov), Oblomow.
- Iwan Gontscharow (Ivan Gončarow),
Für den Zaren um die halbe Welt. č
- Kjell Johansson, Gogols Welt.
- Wolfgang Kasack, Dostojewski. Leben und Werk.
- Alexander Kuprin, Die schöne Olessja. Eine Liebesgeschichte aus dem alten Rußland.
- Nikolai Leskow, Der Gaukler Pamphalon.
- Vladimir Odoevskij, Prinzessin Mimi / Prinzessin Zizi.
- Aleksandr Puškin (Alexander
Puschkin), Das einsame Häuschen auf der Basilius-Insel.
- Alexander Puschkin (Aleksandr Puškin),
Pique Dame, Hörbuch.
- Lew N. Tolstoj, Hadschi Murat. Eine Erzählung aus dem Land der Tschetschenen.
- Leo Tolstoj, Anna Karenina, Hörbuch.
- Anton Tschechow
(Čechov), Kaschtanka.
- Anton Tschechow
(Čechov), Der Kirschgarten, Hörbuch.
- Anton Tschechow
(Čechov), Drei Schwestern, Hörbuch.
- Anton Tschechow
(Čechov), Von der Liebe, Hörbuch.
- Maria Tschechowa, Mein Bruder Anton Tschechow
(Čechov).
- Ivan Turgenev, Aufzeichnungen eines Jägers.
- Gustave Flaubert / Ivan Turgenjev, Eine Freundschaft in Briefen, Hörbuch.
- Ivan Turgenev, Rätsel-Spiele.
|
Am 27.07.2007 ins Netz gestellt. Letzte Bearbeitung am
08.01.2017.
Das unterschiedliche Schreiben von Eigennamen ist den unterschiedlichen Schreibweisen der Verlage geschuldet. |
Schlechte Nachricht reist schnell. |
Sprichwort der Russen |
|