Hörbuch REZENSIONEN

Monder liebt Tirkyneu, die Tochter des Sonnenherrschers

Tschuktsche
Der Mondhund
Lesung
Aus dem Russischen von Antje Leetz.
Sprecher: Karl Menrad
Hörbuchbearbeitung: Franziska Paesch
Ton: Jens Kronbügel, Produktion: Ulrich Maske, WunderWelt Studio Hamburg
Goya LiT, Zürich 2005, 2 CDs, Laufzeit: etwa 150 Minuten

Vor einundfünfzig Jahren entdeckte ich für mich mit dem Erzählungsband "Menschen an unserem Gestade" den tschuktschischen Schriftsteller Juri Rytchëu. Der Ostberliner Verlag Kultur und Fortschritt", bei dem ich Buchhändlerin lernte, hatte den in Leningrad (heute: St. Petersburg) lebenden Autor 1956 erstmalig in deutscher Sprache herausgegeben. Seitdem habe ich Juri Rytchëu, den ich 1981 persönlich kennen lernte, nicht mehr aus meinen (literarischen) Augen gelassen. Zu DDR-Zeiten erschienen bei den Verlagen Kultur und Fortschritt und Volk und Welt noch viele, mich begeisternde Bücher von ihm; 1980 endlich gelang es mir, die Halbinsel Tschukotka als Journalistin zu bereisen - obwohl sie militärischer Sperrbezirk war.

Nach der Wende übernahm der Zürcher Unionsverlag die Rechte an den Werken des in dreißig Sprachen übersetzten tschuktschischen Autors. Im Unionsverlag erschienen bisher: "Wenn die Wale fortziehen", "Teryky", "Unter dem Sternbild der Trauer", "Die Suche nach der letzten Zahl", "Die Reise der Anna Odynzowa", "Unna", "Traum im Polarnebel", "Im Spiegel des Vergessens", "Der letzte Schamane", "Der Mondhund".

Juri Rytchëu - 1930 als Sohn eines Jägers in Uelen (sprich: U-e-len) im äußersten Nordosten Tschukotkas geboren* - ist der einzige Vertreter der Nationalliteraturen der indigenen Völker des russischen Nordens, dem es gelang, auch international Bekanntheit zu erlangen, während die meisten anderen indigenen Literaten - wie die Niwchen Tschuner Taksami und Wladimir Sangi, der Chante Jeremej Aipin und der Manse Juwan Schestalow - heute leider weitgehend in Vergessenheit geraten sind. War das Sujet seiner Werke vor der Perestroika die "lange Reise" der indigenen Völker aus der Rückständigkeit in die sowjetische Zivilisation, so änderte sich in den achtziger Jahren der Ton seiner Werke, zum Beispiel, in dem er das Wort Zivilisation in Anführungszeichen setzt und die Figur des Schamanen zu einem positiven Helden erhebt. Während und nach der Perestroika übt Rytchëu - wie andere Nationalschriftsteller auch - offene Kritik an der Behandlung der angestammten sowjetischen Völker. Während einer Buchlesung im Berliner "Haus der Kulturen der Welt" wies Rytchëu allerdings auch darauf hin, dass die kleinen Völker des Nordens vom "Regen in die demokratische Traufe" gekommen seien.

Nun hat der inzwischen siebenundsiebzigjährige Autor mit "Der Mondhund" ein sehr poetisches Buch geschrieben über die große Liebe und über viele Fragen des Lebens. Der Goya LiT Verlag - dem Zürcher Unionsverlag angegliedert - hat dieses tschuktschische Märchen für Erwachsene als Hörbuch herausgegeben. Sein Inhalt: Ein Polarhund beißt ein Stück von der Mondscheibe ab und erlangt dadurch die Kunst, sich in ein anderes Lebewesen zu verwandeln. So wird der Polarhund, der jetzt Monder heißt, erst eine Robbe, dann ein Rabe, eine Mücke, ein Rentier, ein Vielfraß und zuletzt ein Mensch. Nach jeder Verwandlung erlebt er viel Neues, Gutes und Böses und erfährt viel über die Tücken des Lebens. Als Mensch verliebt sich Monder in Tirkyneu (sprich: Tir-ky-ne-u), die Tochter des Sonnenherrschers. Wegen dieser Liebe will Monder nun für immer ein Mensch bleiben...

Der in Wien lebende Karl Menrad - 1944 in Neustadt (Schwarzwald) geboren, spielt seit vierzig Jahren auf Theaterbühnen in Deutschland, Österreich und der Schweiz, das Fernsehpublikum kennt ihn zum Beispiel aus der ORF/ZDF-Serie "Schlosshotel Orth" - liest den bewegenden Text Rytchëus mit angenehmer, sanft ins Ohr gehender Stimme. Beeindruckend, wie Menrad die Tierstimmen wiedergibt, wie seine liebevoll-sonore Stimme sich in die krächzenden Laute der Raben verwandelt und in das Säuseln der lebensfrohen kleinen Mücken. Als störend empfand ich, dass Menrad statt Jaranga falsch Jeranga liest und bei ihm die Moltebeeren zu Multbeeren mutieren.

In dem den CD´s beigelegten bescheidenen Textheftchen sind tschuktschische Begriffe erklärt und ist die Widmung des Autors abgedruckt: "Beendet am 26. Juli 2003, am vierzehnten Tag nach dem Tod meiner Tirkyneu mit Namen Galja. Dieses Buch, das in der schwersten Zeit ihrer Leiden entstand, ist ihr gewidmet. Viele Seiten konnte sie noch selbst hören." Ich kannte Rytchëus Frau Galja, die er meine Tirkyneu nennt, und weiß von ihr, dass sie zu den Überlebenden der Leningrader Blockade gehörte. Zwei Einsame, eine Russin und ein Tschuktsche, hatten sich für immer zusammengefunden.


Gisela Reller / www.reller-rezensionen.de

 * Juri Rytchëu starb mit 78 Jahren in St. Petersburg im Mai 2008.

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Am 24.05.2007 ins Netz gestellt. Letzte Bearbeitung am 04.01.2017.

Das unterschiedliche Schreiben von Eigennamen ist den unterschiedlichen Schreibweisen der Verlage geschuldet.

In einer Herde braucht´s Beine statt Arme.
Sprichwort der Tschuktschen

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