Gisela Reller /
www.reller-rezensionen.de * Aus: Gisela Reller,
"Diesseits und jenseits des Polarkreises, Bei den Südosseten,
Karakalpaken, Tschuktschen und Eskimos", Verlag Neues
Leben, Berlin 1985, Seiten 179 - 182 (gekürzt): Sorgen...,
nichts als Sorgen?:
"Bevor
wir weiter ins Tschuktschenland vordringen, empfängt uns Wjatscheslaw
Iwanowitsch Kobez, 1. Sekretär des Tschuktschischen
Bezirksparteikomitees des Magadaner Gebietes, zu einem Gespräch. Seine
Nationalität ist Russe, seine eigentliche Heimatstadt Moskau und seine
Heimat, so sagt er, die ganze Sowjetunion. Sein ewig gefrorenes Reich
ist fast siebenmnal so groß wie unsere DDR. Wie groß sind seine
Probleme?
Wjatscheslaw
Iwanowitsch, ich bin ganz begeistert von Tschukotkas Hauptstadt Anadyr
- mit ihren modernen Steinhäusertn, dem schönen Pionierpalast, dem
komfortablen Filmtheater, dem so geschmackvoll ausgestatteten
Kulturklub, von den Betonstraßen, den Grünflächen mit den wenn auch
kleinen weißen Margeriten... Und all das auf ewigem Frost! Ich habe
mir den `Rand der Welt´ anders vorgestellt.
So? Wie
denn?
Irgendwie
provisorischer...
Zehntausende Menschen kommen durchaus vorübergehend aus allen Gegenden
der Sowjetunion in den hohen Norden. Ein Teil jener Nordländer ist
tatsächlich nicht sehr daran interessiert, `für die Ewigkeit zu bauen,
Grünanlagen zu errichten, die Umwelt zu erhalten und - sauberzuhalten.
Wir sind aber
inzwischen einigen `Zugereisten´ begegnet, die sich hier seit
Jahrzehnten häuslich niedergelassen haben.
Ja, in
den Städten, in Magadan, in Anadyr, auch in Pewek. In vielen
Siedlungen sieht es aber nicht so günstig aus.
Warum nicht?
Das
Hauptproblem für den ganzen Nordosten ist der Wohnungsbau. Wir
brauchen nicht alle paar Jahre neue Anfänger hier, sondern Menschen,
die mit komplizierter Arbeit und enormen Kältegraden bestens vertraut
sind. Leider sind aber im letzten Planfahrfünft vierzig Prozent
weniger Kader als im gleichlangen vorangegangenen Zeitraum in
Magadaner Gebiet gekommen. Hochqualizierte Arbeiter, die
jahrzehntelang bei uns bleiben sollen, wollen in Siedlungen mit
städtischem Komfort wohnen. Und sie haben ein Recht darauf, obwohl
jedes in unserem Landstrich gebaute Haus fünfmal teurer ist als in
Mittelrussland.
Wer sich
entschließt, am Nördlichen Polarkreis zu leben, sollte der nicht auf
den einen oder anderen Komfort verzichten können?
Auf
Luxus ja, auf Komfort nicht. Menschen, die sich hier ansiedeln, reisen
doch mit ihren Familien an oder gründen hier Familien, Kinder kommen.
Sollen sie benachteiligt sein?
Was ist für Sie
Luxus, was Komfort?
Komfort?
Nun, das heißt Strom, moderne Heizung, schöne Möbel, Kühlschrank,
Fernsehanschluß erst einmal, denn Fernseher... Und Luxus? Das wäre zum
Beispiel ein Farbfernseher - sozusagen als Zweitgerät... Sollen sie
zusätzlich auch noch in großer Zahl hergebracht werden? Über den
Nördlichen Seeweg? Auf dem Luftweg? Bei Frost über die vereisten
Flüsse? Auf diesen Wegen muß massenweise Lebensnotwendiges zu uns in
die Arktis gebracht werden - angefangen von Trockenmilch... Besonders
problematisch, daß es ausgerechnet hier im Norden - wo die Menschen
über hundert Prozent mehr verdienen als in klimatisch günstigeren
Gegenden - natürlich niemanden gibt, der nicht genug Geld auch für
Luxusgegenstände hätte.
Wjatscheslaw
Iwanowitsch, welche Sorgen haben Sie mit Tschukotka?
Uns
fehlen stabile Autorstraßen; wir brauchen mehr, viel mehr Fahrzeuge in
`nördlicher Ausführung´, also Motorschlitten, Luftkissenfahrzeuge; es
müssen komfortable fahrbare Rentierzüchterhäuschen mit individueller
Energieversorgung konstruiert werden - statt der Felljarangas mit den
offenen Feuerstellen. Erforderlich ist die sorgfältige Einführung
jeder für den Norden geeigneten neuen Errungenschaft von Wissenschaft
und Technik. Beispielsweise bringt die Freisetzung eines einzigen
Facharbeiters im Bergbau durch Einführung neuer Technik einen
volkswirtschaftlichen Nutzen von etwa neunzehntausend Rubel jährlich!
Es gibt doch
hochleistungsfähige Geländewagen, mit denen man durch die sumpfige
Tundra, durch flache Seen, über steinige Hügel sicher fahren kann.
Die
schweren Raupenfahrzeuge, von denen Sie so angetan scheinen,
entsprechen sehr gut unseren Bodenbedingungen, aber sie zerstören die
Vegetationsdecke der Tundra erbarmungslos. Die Moose und Flechten -
die einzige Nahrung der Rentiere - wachsen jährlich einen Millimeter.
Verstehen sie, einen Millimeter. Unsere Tundra - und mag sie noch so
groß sein - ist jedoch im wesentlichen erschlossen. Es gibt so gut wie
keine neuen Weideflächen mehr. Die vorhandenen müssen gehegt und
gepflegt werden! In Alaska beispielsweise zählte man noch vor etwa
dreißig Jahren eine Million Rentiere. Der Raubbau an den Weiden führte
dazu, daß heute nur noch etwa fünfzigtausend Tiere Nahrung finden.
Eine glückliche Zukunft der Polargebiete ist aber ohne Rentier, das
dem Menschen Fleisch, Milch, Leder liefert und auch als Last- und
Reittier dient, unmöglich!
Zurück also zum
Hundeschlitten?
Der
Hundeschlitten ist ein über Jahrhunderte bewährtes Transportflugzeug.
Jedenfalls kommt es darauf an, eine vernünftige Verbindung zu finden
zwischen technischen Neuerungen und althergebrachten Lebensformen.
Haben Sie
Nachwuchssorgen bei der Rentierzucht?
Auch
das. Viele junge Tschuktschen, Eskimos, Ewenen, Tschuwanzen, Jukagiren
wollen sich in anderen als den traditionellen Wirtschaftszweigen
beweisen. Und es werden ihnen - selbstverständlich zu Recht - alle
Bildungsmöglichkeiten gegeben. Andererseits wird die einheimische
Bevölkerung unbedingt in diesem uralten, unsagbar komplizierten
Wirtschaftszweig, der Rentierzucht, gebraucht. Früher wurden die
`Geheimnisse´ der Rentierzucht von Generation zu Generation sorgsam
überliefert: wie man eine Raststelle für die Herde wählt und die
Schlittenhunde anlernt. Heute muß ein Rentierzüchter aber auch noch
verstehen, ein Funkgerät zu bedienen, eine Geländefahrzeug zu lenken
und mit der Impfkanüle umzugehen. Doch leider verlieren viele
Jugendliche, die unter den trefflichen Bedingungen des Internats
erzogen werden, das Interesse an den traditionellen Berufen. Deshalb
wurden schon an vielen Schulen Zirkel für Pelztierzüchter und Zirkel
für die Anfertigung von Kleidungsstücken aus Fellen eingerichtet. In
Prowidenija gibt es eine Berufsschule, an der Fahrer für Traktoren und
geländegängige Fahrzeuge sowie Funker ausgebildet werden, in Ola haben
Sie den landwirtschaftlichen Ausbildungssowchos ja selbst besucht.
Wjatscheslaw
Iwanowitsch, welche Freuden haben Sie mit Tschukotka?
Unsere
Geologen entdecken Bodenschatz um Bodenschatz, kürzlich erst bei
Anadyr Erdöl und Erdgas; wir lernen, die vielen heißen Quellen zu
nutzen, so daß wir schon einheimische Vitamine - grüne Gurken,
Tomaten, Radieschen; Eier - zu uns nehmen können; wir decken einen
Teil unseres Kartoffelbedarfs und Kohlverbrauchs von Feldern auf
ewigem Frostboden; Hunderte Kühe haben sich bei uns im letzten
Jahrzehnt akklimatisiert, in vielen Kindergärten und Krankenhäusern
gibt es schon frische Milch. Für all die Waren, die wir selbst
produzieren, können andere Güter zu uns transportiert werden. Es
klappt immer besser mit der Schichtarbeit der Rentierzüchter im
Zwanzigtagerhythmus, wir haben nur noch fünf Prozent echte Nomaden;
ein ganz neuer Wirtschaftszweig ist die Pelztierzucht, besonders
geeignet für die einheimischen Frauen, die ja heute durchaus nicht
mehr alle ihre Männer in die Tundra begleiten; na, und daß `meine´
Margeriten blühen... Den Samen hatte ich im Gepäck aus Moskau als
`Antrittsgeschenk´ mitgebracht; die Erde mußte allerdings aus
Wladiwostok eingeflogen werden.
Sie haben also
nicht nur Sorgen mit Tschukotka?
Wo
denken Sie hin? Innerhalb von fünf Jahrzehnten hat Tschukotka einen
Weg zurückgelegt, der vergangene tschuktschische Jahrtausende zu einem
Schritt werden läßt. Aber wir hier oben `am Rande der Welt´ müssen
ungeduldig sein; denn die so unvorstellbar grimmigen Schneestürme, die
unbeschreibliche eisige Kälte, die rauben uns unerbittlich viel
produktive Zeit.
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Auf dem
Weg vom Parteikomitee zum Hotel betrachte ich die `Vorgärten´ mit ganz
anderen Augen: Viel größer erscheinen mir die weißen Blütenköpfe, viel
frischer das Grün der Stengel und Blätter."
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