Hörbuch REZENSIONEN

Zwei Ikonen der russischen Lyrik

Russinnen
mit dem strohhalm trinkst du meine seele
Gedichte - Lesung
Auwahl, Begleittext und Übersetzung aus dem Russischen von Ralph Dutli
Sprecher: Ralph Dutli, Katharina Thalbach
Regie: Gabriele Kreiß, Technik: Christoph Panizza, Giesing Team München/Nikolau Esche, Audio Vision Studios
Produktion: Der Hörverlag, München 2003, 1 CD, Laufzeit: ca. 64 Minuten. Mit Booklet.

(Rezensiert, entsprechend dem Gästebuch-Eintrag von Franz Schön.)

Marina Zwetajewa (1892-1941) und Anna Achmatowa (1889-1966) - zwei faszinierende russische Lyrikerinnen, die unterschiedlicher nicht sein konnten: Beide hatten ganz verschiedenartige Temperamente. Vertritt die Achmatowa die klassische Ruhe, die schlichte Alltagsprosa, "die beharrliche Untertreibung des Leidens" (Ralph Dutli), so verkörpert Marina Zwetajewa den impulsiven Ausbruch, den ungehemmten Schrei, den "lieben Zorn" (Dutli). Achmatowa bekennt sich zum Maß, Zwetajewa - "zur Maßlosigkeit in einer Welt des Maßes", wie es in einem Gedicht von ihr aus dem Jahre 1923 heißt. Zwetajewa verkörpert die russische Poesie des 20. Jahrhunderts im Exil (in Berlin, Prag und Paris); Achmatowa harrt stoisch in der stalinistischen Sowjetunion aus, obwohl sie nach fünf Gedichtbänden unter ideologischem Druck von 1922 bis 1940 - achtzehn Jahre lang! - verstummte.

Die Zwetajewa hat das Werk ihrer Zeitgenossin Achmatowa 1915 kennen gelernt. Sofort widmetet sie ihr ein Gedicht und 1916 einen ganzen Zyklus von elf Huldigungsgedichten - überschwängliche Zeugnisse der Verehrung. Anna Achmatowa nahm die wiederholten Huldigungen ("ihr etwas Ewigeres als Liebe zu schenken") gnädig entgegen und - schwieg. Lange. Zu zwei persönlichen Treffen kam es erst Anfang 1941. Die erste Zusammenkunft verlief ohne Zeugen. In Achmatowas Erinnerungen von 1959 findet sich nur ein kurzer Abschnitt darüber. Die Achmatowa las aus ihrem "Poem ohne Held". Die zwischen den Strophen versteckten Fragmente aus Achmatowas gerade abgeschlossenen "Requiem" auf die Opfer des Stalinterrors erkannte die Zwetajewa nicht. Sie schenkte der Achmatowa ihr "Poem in der Luft", das wiederum bei der Achmatowa auf völliges Unverständnis stieß. Bei ihrem zweiten Treffen - am 8. Juni 1941 - sagte später ihr Gastgeber Chardschijew aus, die Achmatowa habe ostentativ geschwiegen, die Zwetajewa habe fast ununterbrochen gesprochen. Nikolai Chardschijew berichtete: "Mich erstaunte ihre Stimme: eine Mischung von Stolz und Bitterkeit, Eigenwille und Unduldsamkeit. (...) Ich dachte bei mir: Wie sehr sind sie einander fremd, fremd und unvereinbar." Dabei hätten die beiden Frauen sich viel zu sagen gehabt: Der erste Mann der Achmatowa, der Dichter Nikolaj Gumiljow war 1921 als angeblicher Konterrevolutionär erschossen worden, ihr dritter Ehemann Nikolaj Punin befand sich 1941 noch immer in Lagerhaft; Zwetajewas Ehemann Sergej Efron saß 1941 im Gefängnis und wurde noch im gleichen Jahr erschossen. Achmatowas Sohn (von ihrem ersten Ehemann) befand sich in Lagerhaft wie Zwetajewas Tochter Ariadna. Sicherlich wagten sie im Beisein eines Zeugen nicht, über das entsetzliche Schicksal ihrer Nächsten zu sprechen.

Die Zwetajewa beging 1941 Selbstmord, indem sie sich erhängte; die Achmatowa musste sich 1946 Schdanow, dem Stellvertreter Stalins, als der seinen Kulturterror entfesselte, als "halb Heilige, halb Hure, oder besser Hurenheilige" beschimpfen lassen. Sie starb 1966 durch einen Herzinfarkt in Domodedowo bei Moskau.

Das Hörbuch mit dem strohhalm trinkst du meine seele will ein "Brief" von Marina Zwetajewa an Anna Achmatowa sein und ein Antwortbrief von Marina Zwetajewa an Anna Achmatowa. Die moderne Neuübersetzung des Achmatowa/Zwetajewa-Spezialisten Ralph Dutli beabsichtigt die kontrastreiche Gegenüberstellung der beiden bedeutendsten russischen Dichterinnen des 20. Jahrhunderts, aber auch die Hervorhebung ihrer Gemeinsamkeiten - trotz allem, dem Vorurteil der Unvereinbarkeit zum Trotz.

Das Hörbuch vereint dreißig Gedichte der Zwetajewa und dreiundsechzig Gedichte der Achmatowa. Sie werden gelesen von Ralph Dutli - Essayist, Lyriker, Übersetzer und Herausgeber der Ossip-Mandelstam-Ausgabe im Amman Verlag, Zürich, vielmals ausgezeichnet, zuletzt mit dem "Stuttgarter Literaturpreis" 2002 - und Katharina Thalbach, die 1997 mit dem "Adolf-Grimme-Preis" geehrt wurde.

Daß ein Mann - im Wechsel mit einer weiblichen Stimme - die Gedichte Zwetajewas liest, nennt Dutli "ein Experiment, das ihr gefallen hätte. Sie arbeitete in ihrem Werk gerade daran, das öde Zweiparteiensystem der Geschlechter (...) zu dynamisieren." Boris Pasternak, mit dem sie siebzehn Jahre lang korrespondierte, schrieb von ihr, die Zwetajewa sei eine Frau "mit einer regen männlichen Seele". Nicht als "Dichterin" und "Prosaistin" wollte  sie bezeichnet werden, sondern als "Dichter" und  "Prosaist". Am Schluss ihres lesbisch-inspirierten Zyklus "An die Freundin" für die Tschechin Sofia Parnok, die der mexikanische Schriftsteller Sergio Pitol eine zweitrangige Dichterin nennt, schreibt Marina Zwetajewa:

Für dieses Zitternde - muß ich jetzt träumen?
Ist alles leer? -
Für diese Ironie, den Reiz, den neuen:
Sie sind - kein Er.

Auch die Gedichte der Achmatowa lesen im Wechsel Ralph Dutli und Katharina Thalbach - obwohl sich eine Begründung wie bei der Zwetajewa nicht finden lässt. Sie ist aber auch gar nicht nötig.


Gisela Reller / www.reller-rezensionen.de
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Am 10.06.2004 ins Netz gestellt. Letzte Bearbeitung am 26.11.2019.

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