Sachbuch REZENSIONEN | |
Erlebte Literaturgeschichte | |
Pëtr Kropotkin | Russe |
Ideale und Wirklichkeit in der russischen Literatur Aus dem Englischen von B. Ebenstein | |
Herausgegeben und kommentiert von Peter Urban Diogenes Verlag, Zürich 2003, 583 S. | |
Als Fürst Pëtr
Alekseevič Kropotkin, den
Leo Trotzki
einen "Theoretiker der reinen Anarchie" nennt, am 13. Februar
1921 zu Grabe getragen wurde, "geriet die Feierlichkeit zu einer
gespenstisch makabren, wenn auch zukunftsweisenden Inszenierung",
schreibt Peter Urban in seinem kenntnisreichen Nachwort. "Das Meer der
schwarzen Fahnen war aufgefüllt worden durch inhaftierte Anarchisten, die
Lenin für diesen einen Tag freigelassen hatte. Tags darauf
verschwanden sie alle wieder, viele auf Nimmerwiedersehen, im
Gefängnis." (Nadeshda Allilujewa,
Stalins zweite Frau, die sich am
9. November 1932 umgebracht hatte, wurde neben dem großen russischen
Anarchisten Fürst Kropotkin auf dem Friedhof des Jungfrauenklosters in
Moskau beigesetzt.) Fürst Pëtr Kropotkin, in Moskau 1842 geboren, war Spross eines alten russischen Adelsgeschlechts. Auf Wunsch des Zaren Nikolaus I. trat er 1857, mit fünfzehn Jahren, ins Petersburger Pagencorps ein und wurde zum persönlichen Kammerjunker des Thronfolgers ernannt. "Sein soziales Gefühl ist früh entwickelt angesichts des Unrechts des Leibeigenen-Regimes; Gerechtigkeit und Gleichheit wurden sein Grundsatz." Folgerichtig trat er nicht in ein privilegiertes Garderegiment ein, sondern meldete sich 1862 zu den Amurkosaken und lernte in Sibirien alle Volksschichten kennen. Nach seiner Rückkehr 1867 nahm Kropotkin an Expeditionen teil, erforschte Gletscher in Finnland und Schweden, wurde Mitglied des Zentralen Statistischen Komitees im Innenministerium, 1868 Mitglied der russischen Geographischen Gesellschaft und deren Sekretär. Seine "Untersuchungen über die Eiszeit" machten ihn in der Welt berühmt (was aber DDR-Meyers Neues Lexikon nicht bewegte, den Fürsten aufzunehmen).1872 reiste Kropotkin für vier Monate in die Schweiz, wo er russische Emigranten kennen lernte. Er kehrte nach Russland als Revolutionär zurück, quittierte den Dienst im Innenministerium und trat einem sozialrevolutionären Zirkel bei. Unter dem Namen Borodin führte der Fürst fortan, als Arbeiter verkleidet, ein Doppelleben. Im März 1874 wurde er verhaftet und in die Peter-Pauls-Festung eingesperrt, im Juni gelang ihm die Flucht aus einem Militärhospital. Er floh über Finnland, Schweden und Norwegen nach England, ging von dort in die Schweiz. Im weiteren Verlauf seines Lebens wurde er noch zweimal verhaftet, einmal in Frankreich im Januar 1883 - im Zusammenhang mit einem Bombenattentat in Lyon - und zu fünf Jahren Haft verurteilt. Auf Druck der Weltöffentlichkeit wurde er drei Jahre später begnadigt. Es folgten dreißig Jahre englisches Exil und angestrengte wissenschaftliche und publizistische Arbeit, zum Beispiel bei der Anarchisten-Zeitschrift "Chleb i volja" ("Brot und Freiheit"). Nach der bürgerlichen Februarrevolution kehrte Pëtr Kropotkin im Juni 1917 nach Petersburg zurück, reiste aber auf Anraten seiner Ärzte bald in die Umgebung von Moskau, wo er, mit neunundsiebzig Jahren, an den Folgen einer Lungenentzündung starb. Was sein Buch Ideale und Wirklichkeit in der russischen Literatur anbelangt, so hat der Fürst auch auf diesem Gebiet Pionierarbeit geleistet; denn eine Gesamtübersicht über die reiche russische Nationalliteratur gab es um 1900 noch nicht. Das Buch wurde von ihm im englischen Exil für eine Vortragsreihe in den USA entworfen und erschien erstmals 1905 in London; eine zweite Auflage erlebte das Werk 1916, ebenfalls in London. Eine Neuausgabe in Deutschland wurde nötig, weil die beiden deutschen Ausgaben seit Jahrzehnten vergriffen sind, "Kropotkins Darstellung aber nach wie vor als die beste und am besten lesbare Einführung in die russische Literatur des 19. Jahrhunderts angesehen werden muß". (Peter Urban) Kürzlich las ich die "Russische Literaturgeschichte" von Ralph Dutly, ein Hörbuch. Ich bedauere, dass sie nicht gleichzeitig auch als Buch vorliegt. Nun gibt es eine Lösung: Die "Russische Literaturgeschichte" von Dutly hören und die interessante, gut lesbare russische Literaturgeschichte von Kropotkin parallel dazu lesen. Die Kropotkinsche Literaturgeschichte umfasst acht Kapitel, beginnend mit der Volksliteratur und den Chroniken des 18. Jahrhunderts; weitere Kapitel befassen sich mit Puškin, Lermontov, Gogol, Turgenev, Tolstoij, Gončarov, Dostoevskij, Nekrassow; ein Kapitel ist dem Drama (u. a. Griboedov, Ostrovskij, Gorkij) gewidmet. Über Maxim Gorki gehen die Meinungen weit auseinander. So las ich in der Autobiographie von Nina Berberova, dass sie sich stets nur für den Menschen Gorki interessiert habe, niemals für den Schriftsteller. Bei Anastassija Zwetajewa, der Schwester von Marina Zwetajewa, hingegen las ich in ihren Erinnerungen, dass Gorki der Lieblingsschriftsteller ihrer Mutter war und sie selbst ihn sehr verehrte. Und bei Pëtr Kropotkin: " (...) der Name Gorkij fand seinen Platz - um nur von lebenden Schriftstellern zu sprechen - neben Korolenko und Čechov und gleich hinter Tolstoj." Fürst Kropotkin widmet Gorkij siebzehn Seiten seines Buches und ist des Lobes voll - vor allem über seine Kurzgeschichten. "Seine Männer und Frauen sind keine Helden, sie sind die gewöhnlichsten Landstreicher oder Bewohner der ärmsten Viertel der Städte, und was er schreibt, sind nicht Novellen im eigentlichen Sinne des Wortes, sondern bloße Skizzen aus dem Leben. Und doch gibt es in der Literatur aller Nationen (...) nur wenige, in denen eine so feine Analyse komplizierter und widerstreitender Gefühle gegeben ist, so interessante, originelle und neue Charaktere gezeichnet sind und menschliche Psychologie so innig verknüpft ist mit einem Naturhintergrund." Pëtr Kropotkin, der mit Iwan Turgenev persönlich bekannt war, hat die Autoren des 19. Jahrhunderts meist zeitgleich mit dem Erscheinen ihrer Werke gelesen; der größte Teil der besprochenen Werke war für ihn erlebte Literaturgeschichte. Viele Bücher konnte ein westeuropäischer oder amerikanischer Leser da noch gar nicht gelesen haben, weil es an Übersetzungen fehlte. Puschkins "Eugen Onegin" zum Beispiel oder Gončarows "Oblomov". Besonders interessant war für mich Kapitel VIII, in dem von politischer Literatur, von Westlern und Slavophilen, von der politischen Literatur im Ausland (Herzen, Ogarëv, Bakunin...) und der Zensur die Rede ist. Als ein Zensurbeispiel führt Kropotkin Puškin an: "Es genügt zu sagen, daß als Puškin, von einer Dame sprechend, die Ausdrücke gebrauchte: `Deine göttlichen Gesichtszüge´ oder `Deine himmlische Schönheit´, der Zensor diese Stellen ausstrich und in roter Tinte auf dem Manuskript vermerkte, daß solche Ausdrücke Gotteslästerungen seien und nicht erlaubt werden könnten. Verse wurden verstümmelt, ohne irgendwelche Rücksichten auf die Regeln des Versbaues zu nehmen, und häufig fügte der Zensor selbstgemachte Szenen in einen Roman ein." (In dieser Homepage ist "Die zwölf Stühle" von Ilf/Petrow ein grausiges Beispiel für die Streichung ganzer Kapitel durch die Zensur.) Aber auch in den anderen Kapiteln und im Vorwort sind viele Aussagen und Details zu entdecken; denn einerseits hat Kropotkin wie der gewissenhafteste Historiker gearbeitet und andererseits hat er seine eigenen Wertungen vorgenommen, zum Beispiel über die Trauer in der russischen Literatur und über die Abwesenheit von Lebensfreude und Frohsinn. Kropotkin schreibt: " (...) die Geschichte der russischen Nation, die Einfälle der Mongolen, Tataren und Türken, die gewöhnlich mit Mord und Sklaverei einhergingen, der harte Überlebenskampf in einer unerbittlichen Natur, die unermeßliche Weite der Steppen, die endlosen Wälder und später die Leibeigenschaft - all das mußte tiefe Spuren von Traurigkeit im russischen Charakter [und in der russischen Literatur] hinterlassen." Was die Traurigkeit in der russischen Literatur anbelangt, so verweist Kropotkin ferner auf "das schwere Los vieler unserer führenden Schriftsteller" und verweist auf die bemerkenswert große Zahl der russischen Dichter und Romanciers, die im Gefängnis saßen, verbannt oder zu Zwangsarbeit verurteilt wurden. Zu vielen namhaften Autoren stellt Kropotkin aussagekräftige Leseproben. Eine Bereicherung dieser Neuausgabe (im Gegensatz zur deutschen Erstausgabe von 1906) ist das exakte Personenregister (mit Betonungszeichen auf den Nachnamen) und - ein umfangreicher Anmerkungsapparat (knapp siebzig Buchseiten) mit zusätzlichen Fakten und Informationen. Unverständlicherweise findet sich nirgendwo in den Anmerkungen ein Hinweis, das Louis Viardot - mit dem Ivan Turgenjev die "Kleinen Tragödien" Alexander Puškins ins Französische übersetzte -, der Ehemann von Pauline Viardot ist, von Turgenev bis an sein Lebensende geliebt und verehrt. | |
Gisela Reller / www.reller-rezensionen.de
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Am 03.02.2005 ins Netz gestellt. Letzte Bearbeitung am 12.01.2017. Das unterschiedliche Schreiben von Eigennamen ist den unterschiedlichen Schreibweisen der Verlage geschuldet.
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