Sachbuch  REZENSIONEN

Weinen um Russland...

Russe
Ich flehe um Hinrichtung
Die Begnadigungskommission des russischen Präsidenten
Aus dem Russischen von Renate und Thomas Reschke
Luchterhand Literaturverlag, München 2003, 381 S.

Mit einer unwahrscheinlich brutalen Vergewaltigung, die mit einem unwahrscheinlich brutalen Mord endet, beginnt das Buch Ich flehe um Hinrichtung: "In der Nacht vom 30. Juni zum 1. Juli trafen im betrunkenen Zustand die Jugendlichen Noskow und Orlow ein Mädchen, das auf dem Weg zu seiner Mutter war. Sie bedrängten und schlugen es. Stunden der Verfolgung und Misshandlung folgten. Im Wald schließlich zwangen die drei  `normalen´ jungen Männer die Lichatschowa, sich auszuziehen und vergewaltigten sie. Dann warfen sie ihr einen Pullover über das Gesicht, stachen sie mit einem Messer mehrfach in die Brust und ließen das Messer dann im Körper des Mädchens stecken. Orlow trat auf die Klinge, um es tiefer in den Leib zu treiben. Dann warfen sie das Mädchen in eine Grube und schaufelten diese zu. Als sie sahen, dass sich das Mädchen unter der Erdschicht noch bewegt, traten Orlow und Noskow auf ihren Körper, um ihn mit ihren Gewicht niederzudrücken, und als aus der Erde ein Fuß zum Vorschein kam, schlug Noskow mehrfach mit der Hacke darauf." Am nächsten Tag kehrten sie zur Grube zurück, gruben den Leichnam aus, übergossen ihn mit Benzin und zündeten ihn an. Noskow, einer der Übeltäter übelster Sorte, reichte bei der Begnadigungskommission des russischen Präsidenten ein Gnadengesuch ein. Und: Die Begnadigungskommission des russischen Präsidenten [Jelzin] begnadigt ihn von der Todesstrafe zu lebenslanger Haft. Er, der einer jungen Frau das Leben genommen hat, darf am Leben bleiben...

Pristawkin schildert unerbittlich viele grauenerregende Details geradezu unvorstellbarer Verbrechen, zum Beispiel auch dieses: Eine Mutter schlägt ihre vierjährige Tochter mit einem glühenden Schürhaken, setzt das Mädchen dann - es ist Ende Dezember - nackt vor die Tür, Stunden später auf die heiße Herdplatte. Dann hängt sie es mit zusammengebundenen Händen an einem Nagel auf. Das Kind stirbt in einem eisigen Keller, nach Tagen ohne Essen und Trinken, an seinen Verletzungen. Die geschilderten Gewalttaten gegenüber Kindern im häuslichen Bereich sind nahezu unfassbar: "1997 wurden mehr als 15 000 Angriffe auf das Leben von Kindern registriert. 200 Kinder wurden von ihren Eltern getötet, 1 500 sexuell missbraucht, 2 000 begingen Selbstmord." Oder es wird im Buch geschildert, wie zwei Offiziere einen Unschuldigen foltern, um von ihm das Eingeständnis eines Mordes zu erpressen, den sie selbst begangen haben. Sie foltern ihn eine Nacht lang und schieben ihm schließlich drei Pepsi-Cola-Flaschen in den Darmausgang. Oder: Pristawkin zitiert aus dem Brief eines Häftlings, der darüber schreibt, wie man einem Häftling einen Reifen um den Kopf gelegt hat, der solange mit einem Schraubenschlüssel festgezogen wird, bis das Opfer das Bewusstsein verliert. Oder man spielt Karten um Menschenblut: Wer verliert, öffnet eine Vene und lässt die im Spiel verlorene Menge Blut in eine Schüssel laufen...

Bei seiner Buchpräsentation im Berliner Russischen Haus sagte der nunmehr über Siebzigjährige, dass 2002 mehr als 924 000 Verbrechen, das ist fast jedes dritte, nicht aufgeklärt wurde, und dass Russland nach der Zahl der vorsätzlichen Morde pro 100 000 Einwohner Platz zwei in der Welt einnimmt. Und er erzählte, wie er Vorsitzender der Begnadigungskommission wurde: Der Menschenrechtler Sergej Kowaljow habe ihn davon überzeugt, dass unbedingt eine Kommission ins Leben gerufen werden müsse, die sich Barmherzigkeit auf die Fahnen schreibe. (Wir erinnern uns an Daniil Granins Buch "Die verlorene Barmherzigkeit", 1993 im Verlag Herder, Freiburg im Breisgau erschienen.) Gerade als Pristawkin  im Baltischen Schriftstellerheim über einem neuen Buch saß, wurde ihm von Jelzins Büro mitgeteilt, dass er als Vorsitzender vorgesehen sei. "Daraufhin habe ich das begonnene Manuskript zugeklappt, und so liegt es bis heute, seit über zehn Jahren." Schade, schade. Doch neben der zutiefst an Herz und Verstand appellierenden Arbeit in der Kommission ein Buch mit anderer Thematik zu schreiben, das ist wirklich unvorstellbar. Diese Kommission, 1992 ins Leben gerufen, wurde 2001 von Putin abgeschafft; da waren 56 000 Fälle korrigiert worden, in 1 200 Fällen verhinderte die Kommission die Erschießung von zum Tode Verurteilten. Der Kommission gehörten einige Schriftsteller an (bis zu seinem Tode auch Bulat Okudshawa), ein Psychologe, ein Geistlicher..., kein Jurist, keine Militärs. Die Kommissionsmitglieder wälzten um die vierzig Akten wöchentlich, um mit normalem Menschenverstand zu prüfen, welchem Inhaftierten nach schon erfolgtem jahrelangen Gefängnisaufenthalt weitere Jahre der Haft erlassen werden könnten, welche Todesstrafe in lebenslange Haft umgewandelt werden sollte. Nicht alle Todeskandidaten waren dankbar dafür, statt erschossen zu werden, lebenslang eingesperrt zu sein; manche flehten geradezu um ihre Hinrichtung. Todesstrafe in Russland - das hieß in jüngster Zeit noch: keine Gelegenheit zu einem letzten Wunsch, zu einer letzten Mitteilung an die Nachwelt. Und das hieß für die Angehörigen: keine Auskunft über den Ort der Hinrichtung, keine Aushändigung des Leichnams zur Bestattung. Die Hingerichteten wurden verbrannt, ihre Asche verstreut. Seit 1996 ist die Vollstreckung der Todesstrafe in Russland ausgesetzt, die Strafe selbst aber nicht abgeschafft; denn die Gegner der Todesstrafe sind in Russland in der Minderheit. Die Überzeugung von der abschreckenden Wirkung der Hinrichtungen ist weit verbreitet; Umfragen haben ergeben, dass 68 Prozent der russischen Bevölkerung eine öffentliche Vollstreckung des Todesurteils wünschen.

Die Verhältnisse in russischen Gefängnissen und Straflagern,  "Fließbänder der Entmenschlichung", sind nachgewiesenermaßen menschenunwürdig und folternde Polizisten sowie gewissenlose Richter - sind keine Seltenheit. Eingepfercht auf kleinstem Raum kommt es immer wieder zu Todesfällen wegen der Beengtheit: Aus Sauerstoffmangel gelingt es in einigen Zellen nicht, ein Streichholz anzuzünden, jeder zweite Insasse der russischen Häftlingsanstalten ist mit Tuberkulose infiziert. Über das schon immer berüchtigte Moskauer Butyrki-Gefängnis (Hier saß auch Majakowski ein.), das heute harmlos SISO 38/2 (Untersuchungsgefängnis) heißt, schreibt Pristawkin: "Es ist eines der übelsten Anstalten, dem Wesen nach ein Ungeheuer, ein altersschwaches, vom Fundament bis zum Dach morsches Gefängnis. (...) Gebaut wurde es im 18. Jahrhundert und war darauf berechnet, einige 100 Häftlinge aufzunehmen, heute sind es fast 8000." Die Hälfte aller Gefangenen in Europa sind Russen. Insgesamt gibt es in Russland eine Million Häftlinge. Mit 628 Häftlingen auf 100 000 Einwohner hat Russland die dritthöchste Hafteinweisungsrate der Welt - hinter den Cayman-Inseln und den USA. In Japan, das seiner Bevölkerungsanzahl nach mit der russischen vergleichbar ist, sind es 40 000 bis 50 000. Bis 1917 hatten im russischen Zarenreich zwei Drittel der Häftlinge eine Einzelzelle, mindestens acht Quadratmeter pro Person. Und das, obwohl Russland auch damals zu den Ländern mit der höchsten Kriminalität gehörte, nach Spanien und Italien. Während seiner Buchpräsentation sagte Pristawkin über Ich flehe um Hinrichtung, dass er kein schreckliches Buch schreiben wollte, sondern ein Buch mit der Bitte um Mitleid, Mitmenschlichkeit und Barmherzigkeit. Mitleid mit Mördern und Gewalttätern? "Mitleid zu haben", so Pristawkin, "mit einem alten Mütterchen, das die Straße überquert, mit einem Bettler, mit einem verlorengegangenen Kind, einem aus dem Nest gefallenen Jungvogel oder gar einem erdachten Literaturhelden, das ist etwas ganz anderes als Mitleid zu haben mit einem abgefeimten Mörder, Räuber oder Vergewaltiger, den man bislang zutiefst haßte, verachtete, angewidert zurückstieß wie eine Pestratte (...)." Was Pristawkin über die Lager und Gefängnisse, über die Zustände in russischen Waisenhäusern, der Psychiatrie und der Armee schreibt, ist mehr als man fassen kann. Will man seine Schilderungen bis zum Schluss durchstehen, muss man es mit dem Buch halten wie Pristawkin es mit den Akten hielt: Es von Zeit zu Zeit weglegen. Ich habe es insgesamt fast ein Jahr lang immer wieder weggelegt, bis ich es ausgelesen hatte...

In seinem Buch kommt Pristawkin des öfteren auf seine eigene schwere Kindheit in sowjetischen Waisenhäusern und Kinderkolonien während der Stalinzeit zurück: seine Mutter war mit zweiunddreißig Jahren zwei Monate nach Kriegsausbruch an Tuberkulose gestorben, der Vater ging 1941 an die Front, der zehnjährige Anatoli und seine Schwester kamen in die "Obhut" des Staates. Pristawkin schildert, wie die Kinder gedemütigt wurden, wie sie hungerten. "Unser sehnlichster Wunsch war, einmal einen Blick in die Vorratskammer zu werfen..." Und er gesteht, wie sie aus Not selbst zu kleinen Kriminellen wurden, wie sie mit dieser "Schattenwelt" in enge Berührung kamen, wie er selbst aus Hunger zum Dieb wurde, wie er sich zusammen mit anderen Waisenkindern mit einem Brandanschlag an den ungerecht-strengen Waisenhaus-Direktor - der seinen Hunden mehr Brot gab als den ihm anvertrauten Kindern - rächen wollte. Aus vielen Akten geht hervor, dass die Inhaftierten anfangs für ein kleines Vergehen (zu) hart bestraft wurden, und statt geläutert, kamen sie gebrochen oder mit noch größerer krimineller Energie aus dem Knast zurück. Was, so fragt sich der Autor, wird aus den  zwei Millionen Kindern, Straßenkindern zumeist, die gegenwärtig in Russland von ihren Eltern ihrem Schicksal überlassen werden. Seine eigene Lebensgeschichte macht Pristawkin zum engagierten Kämpfer für die Menschenrechte und gegen die Ungerechtigkeit. Im Dezember 2002 erhielt er dafür den "Aleksandr-Men-Preis", mit dem vor ihm schon Lew Kopelew und Michail Gorbatschow ausgezeichnet wurden. (Der russisch-orthodoxe Erzpriester Aleksandr Men, Hassfigur der extremen Rechten, wurde 1990 ermordet.) Pristawkin ist vielen von uns Lesern ans Herz gewachsen mit seinen Werken "Schlief ein goldenes Wölkchen", "Wir Kuckuckskinder", "Der Sohn des Soldaten", die autobiographisch geprägt sind und sein bitteres Leben in Waisenhäusern und Heimen schildern.

"Man hält mein Buch [Ich flehe um Hinrichtung] für ein politisches Buch", sagt Pristawkin, "aber ich halte es für ein christlich-philosophisches Buch." Und da er daran glaube, dass die Literatur das Leben ein bisschen besser machen kann, glaube er, das sein Buch nicht ganz ohne Licht, nicht ganz ohne Hoffnung sei. Dennoch geht Pristawkin äußerst hart mit seinem Land und mit seinen Landsleuten ins Gericht. Vor allem mit den vielen Alkoholikern, auf deren Konto die meisten und die brutalsten Verbrechen gehen, zum Beispiel werden in Russland jährlich etwa 16 000 Ehefrauen im Suff von ihren Männern umgebracht. 1994 erfolgten 600 000 Verbrechen im Suff. "Die organisierte Kriminalität kann man, wen man will, sicherlich bezwingen. Selbst mit der heutigen korrupten Miliz läßt sich fertig werden. Aber was macht man mit einem ganzen wodkasüchtigen Volk? Vielleicht säuft es ja, weil es spürt, daß es von niemandem in diesem Lande gebraucht wird?" Viele Verbrecher rekrutieren sich aus den Männern, die als Soldaten in Afghanistan und Tschetschenien "dienten". Sie kommen - so Pristawkin - desillusioniert und drogenabhängig zurück; die Mafia bedient sich ihrer als Killer und Auftragsmörder. "Es gibt nur eine Schlußfolgerung: Wir leben in einem Polizeistaat, in dem ein allmächtiger Apparat noch immer seinen GULAG schafft, und das bei schweigender Beteiligung des Staates." In der Tradition Dostojewskis und Solschenizyns führt Pristawkin die Verkommenheit des sozialen Lebens, die Verrohung der menschlichen Beziehungen auf die lange Tradition des Untertanentums, der Unfreiheit und Unselbständigkeit in Russland zurück: von Iwan dem Schrecklichen über Peter dem Großen bis hin zur Sowjetzeit. Die Kapitel über die "Alltagskriminalität" und über "Das Volk" sind daher wohl die aufschlussreichsten in diesem Buch. Geschrieben aus dem "Gefühl der Ohnmacht und des Schmerzes" zeichnet Pristawkin hierin ein Russlandbild, das schwärzer kaum gedacht werden kann.

Anatoli Pristawkin ist seit Auflösung der Begnadigungskommission persönlicher Berater von Wladimir Putin in Sachen Begnadigung und hilft mit Rat und Tat bei der Gründung von Begnadigungskommissionen in der russischen Provinz. Die Kommission im Ort Wladimir begnadigt gegenwärtig 17 Prozent der Verurteilten, bei der vorangegangenen (Moskauer) Kommission waren es nur 10 Prozent.

In der Vorbemerkung  schreibt Anatoli Pristawkin, dass sich das Genre seines Buches guten Gewissens "Weinen um Rußland" benennen ließe. Ja, dieses Buch ist abgrundtief pessimistisch - ein solches habe ich noch nie gelesen. Pristawkin schildert darin, teils gefühlvoll, teils mit Milizberichten im Beamtenjargon seine Erfahrungen als Vorsitzender der Begnadigungskommission des russischen Präsidenten Jelzin von 1992-2001. "Ich denke heute schlechter über die Menschen und die große russische Nation", gesteht Pristawkin. Und: "Dieses Buch handelt nicht nur von Häftlingen, von Menschen, die in der Todeszelle sitzen. Es handelt von uns allen, von jedem, der eingeschlossen ist in das kriminelle Straflager, das Rußland heißt." Sein Buch fügt sich keiner Form: Es ist Beichte,  Dokumentation, soziale Analyse und -  Selbsttherapie des Autors.


Gisela Reller / www.reller-rezensionen.de

 * Anatoli Pristawkin starb am 11.07.2008 mit 77 Jahren in einem Moskauer Krankenhaus.

 

Weitere Rezensionen  zum Thema "Kriminalität im heutigen Russland":

    (Kriminalliteratur siehe bei Alexandra Marinina.)
  • Sophia Creswell, Der Bauch von Petersburg.
  • Alexander Ikonnikow, Taiga Blues.
  • Grigori Pasko, Die rote Zone. Ein Gefängnistagebuch.
  • Grigori Pasko, Honigkuchen. Anleitung zum Überleben hinter Gittern.
  • Oksana Robski, Babuschkas Töchter.
  • Elena Tregubova, Die Mutanten des Kreml. Mein Leben in Putins Reich.
  • Wladimir Tutschkow, Der Retter der Taiga.

Am 10.02.2004 ins Netz gestellt. Letzte Bearbeitung am 12.01.2017.

Das unterschiedliche Schreiben von Eigennamen ist den unterschiedlichen Schreibweisen der Verlage geschuldet.

Hole aus, aber schlage nicht.
Sprichwort der Russen

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