Belletristik REZENSIONEN
 

Kein Tier werden trotz viehischer Bedingungen...

Honigkuchen
Anleitung zum Überleben hinter Gittern
Aus dem Russischen von Hannelore Umbreit
Mit einem Nachwort von Thomas Roth
Wallstein Verlag, Göttingen 2006, 2. Auflage 2007, 64 S.

 (Rezensiert, entsprechend dem Gästebuch-Eintrag von Renate Leitner.)

Einundzwanzig Monate Untersuchungshaft und Aburteilung zu vier Jahren Haft in einem Straflager mit verschärften Bedingungen - das widerfuhr dem russischen Militärjournalisten Grigori Pasko, der von 1983 bis 1997 Redakteur einer russischen Militär-Zeitung war. "Die Themen meiner Artikel konnten nicht brisant genug sein", schreibt er in Honigkuchen, "Vorsicht war etwas, an das ich zumeist keinen Gedanken verschwendete, wofür ich nur unverhohlene Verachtung übrig hatte, Warnungen schlug ich in den Wind." Grigori Pasko - 1962 in der Ukraine geboren, wohnhaft im fernöstlichen Wladiwostok - hatte 1997 mit einer Videokamera die Verklappung atomarer Abfälle ins Japanische Meer durch die russische Pazifikflotte gefilmt und das Material japanischen Medien zugänglich gemacht. Das hatte zu seiner Verhaftung wegen Spionage und Landesverrat geführt.

Um hinter Gittern, wo man [in Russland] "gesichtsloses Kroppzeug. Vieh" ist, nicht wahnsinnig zu werden - in der Gaunersprache, heißt das einer "Dachexplosion" zu verfallen - hat Grigori Pasko sein zutiefst erschütterndes Buch "Die rote Zone. Ein Gefängnistagebuch" geschrieben, 2006 im Wallstein Verlag erschienen. (Wem der eine oder andere geschilderte menschenverachtende Tatbestand unglaubwürdig erscheint, lese auch das Buch von dem weltbekannten Autor Anatoli Pristawkin "Ich flehe um Hinrichtung".)

Das zweite, auf Deutsch erschienene Buch des regierungskritischen Journalisten Pasko ist Honigkuchen. "Honigkuchen" wird in der russischen Gaunersprache einer genannt, den es zum ersten Mal hinter Gitter verschlagen hat. Das Buch Honigkuchen gibt Ratschläge, wie man in russischen Gefängnissen die ersten gewöhnungsbedürftigen Wochen nicht vor die Hunde geht, denn: "In Russland gibt es ein Drittel ehemalige Häftlinge, ein weiteres Drittel, das gerade sitzt, und ein drittes, das sich darauf vorbereitet."

Paskos gut gemeinte Ratschläge betreffen das Essen ("Vergiss, dass auf der Welt solche Dinge existieren wie Bier, Eis, Schokoladenbonbons, Torten, Hamburger, Sprotten und was weiß ich noch."), den Umgang mit den Zellennachbarn ("Von denen etliche keine `Akadimuen´ absolviert haben."), über die Hygiene ("Nicht nur den Oberkörper waschen, auch unten herum. Die Knastbrüder schnallen (...) ganz schnell, wer eine Drecksau ist."). Pasko lässt weder ein Thema animalischer, noch geistiger Art aus. "Am besten", so meint er zusammenfassend, "du betrachtest deinen Aufenthalt im Staatshotel nicht als Heimsuchung, sondern (...) als zeitlich begrenzte Dienstreise. Voller Exotik. Mit neuen Menschen, neuen Eindrücken, Gerüchen und Kuragen."

Besonders ausführlich macht uns Grigori Pasko (die "MG-Schnauze" - im Knastjargon "einer von der Armee") mit vielen Vokabeln der russischen "Fenja" (dem Gefängnisjargon) bekannt. So ist eine "Schecke" eine große, möglichst unverwüstliche Tasche, in die der Häftling seine Habseligkeiten aus eine Zelle (im Gefängnisjargon "Hütte") in die andere transportiert; eine "Glucke" ist ein angesetzter Zinker, ein "Schlachtschiff" eine Gemeinschaftszelle, ein "Klimbimski" ein kleiner Dieb, ein "Einspänner" einer, der auf eigene Rechnung arbeitet. "Sie schmeichelt sich ein, diese Fenja", schreibt Pasko, "ist zudringlich, klebt an einem fest wie Pech und Schwefel. Bereits einen Monat nach der Verhaftung konnte ich nicht mehr mit meinem Rechtsanwalt reden ohne den einen oder anderen Ganoven-Ausdruck einzuflechten." Der französische Linguist Jacques Rossi, der zwanzig Jahre in einem GULAG zugebracht hatte, verfasste nach seiner Freilassung ein zweibändiges Wörterbuch mit mehr als zweitausend [russischen] Knastausdrücken.

Grigori Pasko zeichnet in Honigkuchen nicht nur (ziemlich humorvoll) seine persönlichen Erinnerungen auf, sondern setzt sich (ziemlich kritisch) auch mit der russischen Gesellschaft auseinander. Da lesen wir so mutige Aussagen wie: "Ich hoffe, du hast genug Bücher über das Jahr 1937, über die Tscheka respektive den KGB gelesen, Filme darüber gesehen. Die Methoden haben sich nämlich nur unwesentlich geändert. Sie sind nicht humaner geworden. Und intelligenter auch nicht." Oder: "Russland verfällt. Lächerlich zu hoffen, da könnte ausgerechnet im Gefängnis auch nur so etwas wie Ordnung herrschen." Oder: "Russland ist ein einziges großes Gefängnis. Das war es immer, und das wird es offenbar bleiben." Und in einem Interview: "Wo Stalin und Breshnew noch eine Ideologie hatten, geht es der heutigen Regierung ausschließlich darum, Geld zu verdienen."

Nach seiner vorzeitigen Haftentlassung 2003 gründete der Unerschrockene - er ist verheiratet und hat einen Sohn - das Umweltmagazin "Ekologija i Prawo" (Ökologie und Recht). In seinem Nachwort zu Honigkuchen bezeichnet ihn Thomas Roth als "schlank und drahtig. Unter seinem dichten schwarzen Haarschopf eine hohe Stirn und blitzende blaue Augen." Er sei, so schreibt Roth, ein freundlich, ja heiter wirkender Mann. Doch 2008, so weiß ich vom Wallstein Verlag, war Grigori Pasko schwer erkrankt und konnte in Deutschland nur durch Spenden aus aller Welt erfolgreich behandelt werden. Ein glücklicher Mensch, der sagen kann: "Fakt ist, dass Russland aufgrund meines Films damit aufgehört hat, Atommüll in die Meere zu entsorgen, nachdem das dreißig Jahre lang gemacht worden ist. Dass man Atommüll heute nicht mehr einfach so ins Meer kippen kann, reicht mir, um zu sagen, dass ich meine journalistische Aufgabe erfüllt habe."


Gisela Reller / www.reller-rezensionen.de

 

Weitere Titel zum Thema "Kriminalität im heutigen Russland":

    (Kriminalliteratur siehe bei Alexandra Marinina.)
  • Sophia Creswell, Der Bauch von Petersburg.
  • Alexander Ikonnikow, Taiga Blues.
  • Grigori Pasko, Die rote Zone. Ein Gefängnistagebuch.
  • Anatoli Pristawkin, Ich flehe um Hinrichtung.
  • Oksana Robski, Babuschkas Töchter.
  • Elena Tregubova, Die Mutanten des Kreml. Mein Leben in Putins Reich.
  • Wladimir Tutschkow, Der Retter der Taiga.

Am 29.09.2009 ins Netz gestellt. Letzte Bearbeitung am 25.11.2019.

Das unterschiedliche Schreiben von Eigennamen ist den unterschiedlichen Schreibweisen der Verlage geschuldet.

Vor Bettelstab und  Gefängnis ist niemand gefeit.
Sprichwort der Russen


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