Belletristik REZENSIONEN

Liebe und Verrat

Estin
Ich liebte einen Russen
Zur Erinnerung an die schneereichen Winter der Kindheit
Aus dem Estnischen von Irja Grönholm
Mit Monotypen von Nicole Seidel
Gollenstein Verlag, Blieskastel 1998, 296 S.

Das ist weniger die Geschichte zweier Menschen unterschiedlicher Nationalität und eines großen Altersunterschiedes, als vielmehr die Geschichte einer großen Liebe. "Unsere Liebe war zu intensiv und zu verboten, um anzudauern, und zu stark, als daß wir sie hätten selbst beenden können."

Eine verbotene Liebe? Er, der Russe, ist Arzt, fast vierzig, sie die Estin, ist Schülerin, dreizehn Jahre alt. Maimu Berg lässt den Leser diese Zuneigung von Anfang an miterleben. Da ist das Mädchen fünf Jahre alt, der Arzt Mitte Dreißig. Als das Kind ihm auf den Schoß klettert, spürt er Erregung. Männliche Erregung. Es fällt einem nicht leicht, dafür Verständnis zu haben und tolerant zu sein, so sehr die Autorin auch darum wirbt. Klar, dass man bei dieser Konstellation an Nabokovs "Lolita"; denkt. Doch in Ich liebte einen Russen sind im Gegensatz zum Buch von Nabokov beider Gefühle echt, als sie sich acht Jahre später zu einem Liebespaar zusammenfinden. Bei ihr ist es sicherlich auch die Sehnsucht nach einem Vater, bei ihm - dem einstigen Waisenjungen - ganz bestimmt auch der Wunsch nach einem Menschen, der ganz zu ihm gehört. Natürlich wird diese Liebe nach einer gewissen Zeit entdeckt und angezeigt. Eine ungeheure Pressekampagne wird entfaltet gegen den "vertierten Mann" und sein "minderjähriges Opfer, aus dessen Augen die kindliche Unschuld verschwunden war".

Und worüber ist das verängstigte kleine Mädchen in all dem Trubel froh? Einzig und allein darüber, dass ihr keiner etwas anhaben kann, dass nicht sie schuldig ist. Und so sagt sie vor Gericht aus, "zwar leise, aber klar und deutlich - ja, er ist schuldig, er hat mich verführt, benutzt und vergewaltigt. Ich habe ihn niemals geliebt." Als sie diese, ihrer beider große Liebe verrät, nimmt er sich das Leben.

Liebe und Verrat durchziehen das Gesamtwerk Maimu Bergs (1945 in
Tallinn geboren). Selbst sagt sie in einem Interview mit einer Tageszeitung, dass sich ihre Personen meist im Grenzbereich von Gegensätzen bewegen.

Ich liebte einen Russen (Klingt der Titel wirklich nur zufällig an des Esten Anton Tammsaare "Ich liebte eine Deutsche" an?) wird von zwei parallel laufenden Handlungssträngen durchzogen. In die Liebesgeschichte hat die Autorin Reflexionen während eines Stipendienaufenthaltes im Künstlerhaus Schloss Wiepersdorf verwoben, wo das Buch auch entstanden ist. Im ehemals ostdeutschen Wiepersdorf sind Lyriker und Prosaschriftsteller, Bildende Künstler, Maler und Bildhauer aus der ehemaligen DDR, aus Westdeutschland, aus Polen, aus Rumänien, aus Dänemark  zur gleichen Zeit mit Maimu Berg dort. Hier tauscht man Gedanken aus und lernt sich und die jeweiligen Heimatländer besser kennen - auch Estland: "Ein kleines, anheimelndes Wunderland, wo die Natur vielgestaltig ist, der graue Kalkstein ist unser Nationalstein. Die Erdschicht auf ihm ist sehr dünn, aber sie bringt herrliche Pflanzen hervor. Wir haben auch feinen Sandstrand und Wiesen, und Südestland, das ist wieder ganz etwas anderes, ein anderes Land, mit tiefen Seen, endlosen Wäldern und grünen Hügelkuppen. Die Wälder sind voller Feen, die Seen voller Nixen, und auf den Hügelkuppen haust der Leibhaftige." Und alle die hier finanziell versorgt ihre Werke schaffen können, interessiert, wie das Verhältnis der Esten zu den Russen ist. Manfred, ein Stipendiat aus Dänemark,  fragt: "Wie viel Russen habt ihr im Lande?", die anderen wollen wissen: "Wie steht ihr zu den Russen?" Maimu Berg antwortet: "Ich denke, daß wir zu verschiedenen Zeiten verschieden zu ihnen gestanden haben, und sicher läßt das Thema keinen einzigen Esten kalt. Wir können sie weder davonjagen, noch können wir sie assimilieren, wir sind außerstande, uns ihnen anzugleichen, ebenso wenig, wie wir uns an sie gewöhnen werden. Aber in gewisser Weise haben wir uns doch an sie gewöhnt. Wir, die eine Million Esten, sind von Millionen Zugereisten über- und durchflutet worden, - aber sind bestehen geblieben." Trotz der Dramatik des anderen Handlungsstranges - der verbotenen Liebe - liest sich auch dieser außerordentlich spannend.

Maimu Berg meint traurig, dass viele Menschen  ihr Land nicht kennen. Sie macht sich Sorgen um Estland, "über den Status eines bislang weitgehend vergessenen Volkes im veränderten Europa nach dem Zusammenbruch des Sozialismus". Da betrübt, dass der Verlag auf seinem Schutzumschlag Estlands Hauptstadt nicht richtig schreibt (statt Tallinn mehrmals Tallin).

Gisela Reller / www.reller-rezensionen.de
Weitere Rezensionen  zum Thema "Verbotene Liebe":

Weitere Rezensionen  zum Thema "Estland":

  • Sabine Schmidt (Hrsg.), Tallinn. EUROPA ERLESEN.

Am 15.02.2003 ins Netz gestellt. Letzte Bearbeitung am 20.11.2019.

Das unterschiedliche Schreiben von Eigennamen ist den unterschiedlichen Schreibweisen der Verlage geschuldet.

   Silberne Brustspange:
Traditioneller Schmuck
der estnischen Frauentracht.


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