Belletristik REZENSIONEN

"Nie ergab ich mich Schmeichelreden..."

Kasache
Zwanzig Gedichte
"Kasachische Bibliothek"
Herausgegeben von Herold Belger mit zwei Essays und Kommentaren des Herausgebers
Nachgedichtet von Leonhard Kossuth nebst den kasachischen Originaltiteln, ausgewählten russischen Nachdichtungen
sowie einem Essay des Nachdichters*
Önel Verlag, Köln 2007, 136 S.
 

Abai, Zwanzig Gedichte- ein schmales Bändchen, das es in sich hat! Das gewichtige Werk besteht aus sechs sehr aussagekräftigen Materialien:

Eingeführt wird Abai, Zwanzig Gedichte mit dem faktenreichen Vorwort des Herausgebers Herold Belger, der 1934 in der Autonomen Wolgarepublik geboren, 1941 nach Kasachstan deportiert wurde. Der Russlanddeutsche Belger ist heute ein angesehener Bürger Kasachstans, ist Schriftsteller, Essayist, Übersetzer (kasachisch, russisch, deutsch) und Mitbegründer des kasachischen PEN. In seinem Vorwort erzählt er uns Lesern viele Details über das Leben Ibrahim Kunanbajews, den seine liebevolle Mutter Abai (der Kluge, der Einsichtige) nannte. Unter diesem Namen wurde der kasachische Nationaldichter, Philosoph und Aufklärer der Welt bekannt. (Der erste Band des 2006 erschienenen dreißigbändigen Brockhaus´ widmet dem Begründer der kasachischen Nationalliteratur leider nur ganze zehn Zeilen.) Der Abai-Kenner Belger wandelt sein Leben lang auf Abais Pfaden. In seinem Vorwort nennt er daher kenntnisreich viele Einzelheiten über das Leben Abais - über seine Großmutter Sere, die ihrem Enkel Märchen und Sagen der Steppe erzählte; über seine einsichtige Mutter Ulshan, über seinen (reichen) den alten Traditionen beharrlich anhängenden grausam-strengen Vater, der seinen Sohn bald in der mohammedanischen Medresse, bald in einer russischen Schule lernen ließ, um aus ihm einen machtvollen Herrscher zu machen. Von Belger erfahren wir auch, dass der große Abai unseren großen Goethe übersetzte und das "schwere Aufgaben auf seinen Schultern lagen". Die kasachische Steppe erlebte eine tiefe Erschütterung. Ungestüm änderten sich jahrhundertealte Grundsätze und Prinzipien. Erschöpft von inneren Stammeszwistigkeiten, stöhnten die Kasachen jetzt unter dem kolonialen Joch des russischen Zarismus (...). Man musste den staatsbürgerlichen Heldenmut eines Genies besitzen, um angesichts der Willkür und Gewaltherrschaft des Zarismus, der unter den Kasachen eine grausame Russifizierungspolitik betrieb, seinem Volk zu sagen, dass sich ihm trotz aller Bosheit und allen Unrechts das Glück bietet, sich die Kultur und das Wissen des russischen Volkes anzueignen (...)." 2001 erschien Abais "Buch der Worte" in Almaty in deutscher Sprache. Diese "Meditationen" beschäftigen sich mit Gut und Böse, Recht und Unrecht, Liebe und Treue, Leben und Tod. Abai begegnet uns in seinen "Worten" sowohl als Moralprediger im besten Sinne des Wortes als auch als ein weiser Ratgeber. Ich zitiere aus dem 25. "Belehrungswort": "Man muss die Grundbegriffe russischer Bildung erwerben. Die russische Sprache beherbergt geistige Reichtümer, Kenntnisse, die Kunst und andere unzählbare Geheimnisse. (...) Weil die Russen andere Sprachen gelernt und sich die Weltkultur angeeignet haben, haben sie das erreicht, was sie erreicht haben."

Die ausgewählten zwanzig von Leonhard Kossuth nachgedichteten Verse schrieb Abai in den Jahren von 1886  (da war der kasachische Dichter vierzig Jahre alt) bis 1902, zwei Jahre vor seinem frühen Tod mit neunundfünfzig Jahren. Ursprünglich, weiß ich von Leonhard Kossuth, wollte er drei Gedichte Abais "eindeutschen", daraus wurden im Laufe von drei Jahren zwanzig. Leonhard Kossuth,1923 in Kiew geboren ist der Sohn einer Ukrainerin und eines Österreichers. Nach Lehrtätigkeit am Literaturinstitut in Leipzig war er über dreißig Jahre Lektorats-Chef für die multinationale Sowjetliteratur im Verlag Volk und Welt. Für seine Verdienste um die deutsche Rezeption kasachischer Literatur wurde er mit dem Michail-Dudin-Preis des kasachischen PEN ausgezeichnet.  Leonhard Kossuth ist es in seiner Drei-Jahres-Arbeit gelungen, uns Abais Poesie ganz nahe zu bringen: "...sprachlich dicht, in ungewohnter kasachischer Metrik, dabei gedankenreich, von philosophischen Fragen bewegt, selten erzählend, oft von einer dynamischen Intonation getragen", schreibt der Verlag auf der vierten Umschlagseite. - Nicht zwingend notwendig, aber unbeschreiblich bereichernd ist es, wenn man vor den Abai-Gedichten die Abai-Biographie von dem kasachischen Autor Muchtar Auesow (1897-1961) liest, der wie Abai bei Semipalatinsk geboren wurde. Die Lebensbeschreibung Abais  besteht aus zwei umfangreichen Bänden ("Vor Tau und Tag" / "Über Jahr und Tag" 1958/1961, Verlag Kultur und Fortschritt, Berlin, insgesamt 1746 Seiten, wunderbar illustriert von Bert Heller.). Muchtar Auesow - in Almaty befindet sich eine Auesow-Gedenkstätte - hat Abais Leben bis in die kleinsten Einzelheiten recherchiert. Er schildert sein schweres, nur in der Kindheit sorgloses Leben, dann verfolgten ihn Zweifel, Leid, Kummer, Enttäuschung, Wehmut, Unzufriedenheit mit seiner Umgebung und mit sich selbst. Viele seiner Gedichte handeln davon und vom Tod.

All mein Hoffen vertan, seine Blätter vergilbt.
Was ich immer erhofft - nichts hat sich erfüllt.

*

Nie ergeb ich mich Schmeichelreden.
Verstand behauptet sich auch in Verweigerung.
Bedrängt von eitelkeitshörigen Ködern,
wähl ich lieber den Tod als Erniedrigung.

Das sogenannte Leben, die vorgebliche Welt -
sie gleichen in Wahrheit des Wassers Drift.
War´s gut, war´s schlecht, was ich in Jahrzehnten erlebt -
so recht bedacht, war alles nur Gift.

*

Zu Staub wird jeder - auch wer stolz verharrte.
Nur Flitter bleibt vom Glanz, der ihn heut narrte.
Weißt du denn, was das Morgen dir bereitet?
Kaum auf der Welt, wirst du vom Tod erwartet.

Muchtar Auesow - in einer kasachischen Nomadenfamilie geboren -  versteht es in seinen zwei Bänden auch, ein sehr fesselndes und sehr farbiges Bild von der Lebensweise der Kasachen zu vermitteln, die zu Zeiten Abais durch die feudale Nomadenordnung und die islamische Religion bestimmt wurde. Seine Jugend musste Abai der Verwaltungstätigkeit in seinem Stamm widmen, er tat es ungern. Ich glaube, Abais Liebesgedichte besser zu verstehen, seitdem ich bei Auesow las, dass Abai als junger Mann heiß für Togshan entbrannt war, aber - den alten  Traditionen entsprechend - Dilda heiraten musste, die er vor der Hochzeit nicht einmal kannte.

Die Wege der Liebe sind schwer.
Glücklich, wer sie gewinnt;
der anderen Leben verrinnt
traurig und aussichtslos.
Nur Schimären vom Glück
bleiben zurück.
                   Ob ich dir in Gedanken einst wiederkehr?

Ich hätte es bei den zwanzig Gedichten vorgezogen, das jeweilige Jahr ihrer Entstehung jeweils unter den Gedichten zu finden, statt in Herold Belgers Kommentaren und (noch einmal!) im Inhaltsverzeichnis. Ich bezweifle auch, das es allzu glücklich ist, die jeweils deutsche Nachdichtung (rechte Seite) und das kasachische Original (linke Seite) gegenüberzustellen, suggeriert dies doch (natürlich unbeabsichtigt), dass die Gedichte von Leonhard Kossuth aus dem Kasachischen nachgedichtet sind - was der Nachdichter in seinem Beitrag "Mein Weg zu Abai und Probleme der Nachdichtung" (leider erst 52 Seiten nach der letzten Nachdichtung) ausdrücklich verneint ("Ich kann kein Kasachisch...".). Zusätzlich wichtig an dieser Stelle Kossuths Bemerkungen auf S. 69 und 111, die besagen, dass während der gesamten Nachdichter-Arbeit Konsultationen mit Herold Belger, der das Kasachische beherrscht, "zu Gunsten der angestrebten Orientierung auf die Original-Vorlagen" stattfanden**.

Zu allen zwanzig (nachgedichteten) Versen stellt Kossuth ausgewählte russische Abai-Nachdichtungen vor, die dem Leser, der mit dem Russischen vertraut ist, einen Vergleich mit den deutschen Nachdichtungen gestattet.

In dem Vortrag von Belger über Abais Schaffen in deutschen Nachdichtungen erfahren wir, dass es zwar gelungene Versuche der Umsetzung von Abais Dichtkunst ins Russische gibt, es aber um den "`deutschen´ Abai wesentlich schlechter steht, quantitativ wie qualitativ". In den verschiedensten Publikationen verstreut, erschienen bisher nur hier und da Abai-Gedichte in Deutsch. Endlich, freut sich der Herausgeber Belger, habe er einen kompetenten und talentierten Übersetzer gefunden - den Berliner Leonhard Kossuth.

In den Kommentaren von Herold Belger finden wir das jeweilige Jahr des Entstehens der zwanzig Gedichte, erfahren, in welche Sprachen es übersetzt wurde, ob es vertont ist und auf welche Interlinearübersetzung Kossuth sich vornehmlich stützte. Hier eine Gegenüberstellung des 8. Gedichts:


Nachdichtung von Herbert Henke:                  Nachdichtung von Leonhard Kossuth:

Der Liebe Sprache ist Gefühl:                               Der Liebe Sprache braucht kein Wort -
Sie spricht mit Händedruck und Blicken.               nur das Gefühl, der Herzen Schlag:
Verliebte treiben dieses Spiel,                               ein Blinken hier, ein Lächeln dort
um sich liebkosend zu beglücken.                          genügt - und alles ist gesagt.

Der Liebe Sprache kannte ich,                              Einst hab ich diese Sprache gut-
um bis auf ihren Grund zu tauchen.                         ja, zur Vollkommenheit - beherrscht.
Jedoch die Jahre häuften sich -                              Doch ist für mich ihr Wörterbuch
jetzt kann ich sie nicht mehr gebrauchen.                schon längst wie durch ein Schloss versperrt.        

Wie schwierig die adäquate Umsetzung der kasachischen Gedichte ist, erfahren wir in dem Aufsatz von Leonhard Kossuth über Probleme der Abai-Nachdichtung. Kossuth schildert hier, welcher Bemühungen es bedurfte, Inhalt, Form, Versmaß, Reimschema, Atem, Melodie adäquat zu treffen. Er schreibt: "Was ich fast intuitiv erfaßt hatte: die geradezu biblisch-schöpferische Kraft von Abais Wort, das ursprünglich, unersetzbar, bedeutungstief, sinnstiftend ist, dazu seine zur Routine gewordene Tradition brechende, bis in die Metrik, die Metaphorik, die Intonation dem Sinn verpflichtete Poetik stellen den Nachdichter vor schwierige Probleme." Bei seiner Auswahl der Gedichte wählte Kossuth jene aus, in denen er am deutlichsten die Persönlichkeit, Charakterzüge, Bekenntnisse des Dichters spürte. Besondere Schwierigkeiten machten bei der Nachdichtung die neun- und elfsilbigen Verszeilen und das andere Reimschema, bei dem sich z. B. die jeweils aufeinander folgenden Zeilen reimen oder die erste und die letzte Zeile einer Strophe gereimt sind:

Wer stirbt schon gern und hält sich nicht begehrlich
am Leben fest, als wäre er unsterblich!
Doch holt der Tod urplötzlich deine Seele -
wie wägst du zwischen Tod und Leben? Rede!

*

Unrettbar steht mein Herz in Brand.
Vom Flammenherd
ausgezehrt,
bin ich so gut wie entseelt.
Ich fühle mich wund
wie ein geprügelter Hund
              und verliere vor Schmerz den Verstand.

Für eines der zwanzig Gedichte, plaudert Kossuth aus dem Nähkästchen, habe er 34 Fassungen angefertigt...

Abai, Zwanzig Gedichte ist nicht nur ein tiefgründiger Gedichtband, sondern auch ein Werk, das sehr persönliche Worte zum Begründer der kasachischen Literatur findet und in des Nachdichters komplizierte Werkstatt einen ungewöhnlich-intimen Einblick gewährt. Abai, Zwanzig Gedichte ist eine beachtliche Bereicherung der "Kasachischen Bibliothek".

Übrigens: Seit  18. Februar 2000 gibt es in meinem Berliner Wohnbezirk Pankow eine Abajstraße (Das j statt des i  ist den verschiedenen Auffassungen zur Transkription geschuldet.).


Gisela Reller / www.reller-rezensionen.de

 * Charlotte Kossuth, selbst eine anerkannte Übersetzerin aus dem Russischen, fungierte bei Abai als kritisch Beurteilende der jeweiligen deutschen Gedichte-Erstfassung  und erarbeitete die Anmerkungen.

** Eine sehr sachgerechte Rezension zu Kossuths "Abai" las ich von Sigrid Kleinmichel im "Neuen Deutschland" vom 10.02.2009, sie schließt mit den Worten: "Herausgeber und Nachdichter haben leidenschaftlich, wie vom Geiste Abais Besessene, um die Wiedergabe der Verse und um Verständnis bei den heutigen Lesern gerungen." Wie wahr!

 

Weitere Rezensionen  zu "Gedichtbände (und Poeme)":

  • Marina Zwetajewa / Anna Achmatowa, mit dem strohhalm trinkst du meine seele, Hörbuch.
  • Valentina Babak, Häuser überall verstreut.
  • Kay Borowski (Hrsg.), Petersburg - Die Trennung währt nicht ewig. Eine Stadt im Spiegel ihrer Gedichte.
  • Kay Borowski (Hrsg.), Bei mir in Moskau leuchten die Kuppeln. Eine Stadt im Spiegel ihrer Gedichte.
  • Joseph Brodsky, Haltestelle in der Wüste. Gedichte. 
  • David Burliuk / Wladimir Majakowski, Cityfrau. Futuristische Gedichte.
  • Nikolai Gumiljow, Pavillon aus Porzellan. Gedichte.
  • Elena Guro, Lieder der Stadt.
  • Laurynas Katkus, Tauchstunden.
  • Wjatscheslaw Kuprijanow, Wie man eine Giraffe wird. Gedichte.
  • Wjatscheslaw Kuprijanow, Wohin schreitet die Pappel im Mai? Gedichte.
  • David Burliuk / Wladimir Majakowski, Cityfrau. Futuristische Gedichte.
  • Oskar Pastior, Mein Chlebnikov.
  • Muchtar Schachanow, Irrweg der Zivilisation. Ein Gesang aus Kasachstan.
  • Jelena Schwarz, Das Blumentier. Gedichte.
  • Marina Zwetajewa / Anna Achmatowa, mit dem strohhalm trinkst du meine seele, Hörbuch.

Weitere Rezensionen zum Thema "Kasachstan":

  • Laurence Deonna, Kasachstan. Eine Reise durch das postkommunistische Zentralasien.
  • Jurij Dombrowskij, Der Hüter der Eigentümer.
  • Holger Geyer, Baikanur.
  • Abisch Kekilbajew, Das Minarett. Oder das Ende einer Legende.
  • Andrej Kurkow, Petrowitsch.
  • Ella Maillart, Turkestan solo.
  • Abdishamil Nurpeissow, Der sterbende See.
  • Muchtar Schachanow, Irrweg der Zivilisation. Ein Gesang aus Kasachstan.
  • Rollan Seysenbajew, Der Tag, als die Welt zusammenbrach.
  • Igor Trutanow, Die Hölle von Semipalatinsk.

Weitere Rezensionen zu "Bücher aus der Reihe `Kasachische Bibliothek´":

  • Abisch Kekilbajew, Das Minarett. Oder das Ende einer Legende.
  • Abdishamil Nurpeissow, Der sterbende See.

Weitere Rezensionen zu "Werke, von Leonhard Kossuth geschrieben, übersetzt, herausgegeben, initiiert...":

  • Iosseb Grischaschwili, Niemals hat der Dichter eine Schönere erblickt...
  • Abisch Kekilbajew, Das Minarett. Oder das Ende einer Legende.
  • Leonhard Kossuth, Volk & Welt. Autobiographisches Zeugnis von einem legendären Verlag.
  • Abdishamil Nurpeissow, Der sterbende See.
  • Juri Rytchëu, Unna.
  • Juri Rytchëu, Im Spiegel des Vergessens.
  • Juri Rytchëu, Die Reise der Anna Odinzowa.

Am  05.08.2008 ins Netz gestellt. Letzte Bearbeitung am 27.09.2009.

Das unterschiedliche Schreiben von Eigennamen ist den unterschiedlichen Schreibweisen der Verlage geschuldet.

Die Hand, die das Nehmen versteht, muss auch das Geben kennen.
Sprichwort der Kasachen, aus: Abais "Buch der Worte"


 [  zurück  |  drucken  |  nach oben