Sachbuch REZENSIONEN | |
Literatur ohne weiße Flecken... | |
Klaus Städtke (Hrsg.) | Deutscher; über die russische Literatur |
Russische Literaturgeschichte | |
Mit 191 Abbildungen Verlag J. B. Metzler, Stuttgart/Weimar 2002, 441 S. | |
In dieser Literaturgeschichte wird für Namen und Orte die
wissenschaftliche Transliteration verwendet, so dass beispielsweise aus
Tschechow ein Čechov wird,
aus Wenedikt Jerofejew ein Venedikt Erofeev,
aus Alexander Sergejewitsch Puschkin ein Aleksandr Sergeevič
Puškin. Ärgerlich, vor allem deshalb,
weil es inkonsequenterweise Ausnahmen gibt:
zum Beispiel Herzen (statt Gercen), Katharina II. statt Ekaterina II.
(Im Buch von Anatolij Marienhof schreibt sich Katharina II.
Jekaterina - eine dritte Schreibweise ein und derselben Person! Arme
Leser!) Erfreulich wenigstens, dass das Kapitel "Zur Wiedergabe
russischer Wörter, Namen und Titel" die wissenschaftliche
Transliteration in Städtkes Russischer Literaturgeschichte verständlich erklärt.
Mit der vorliegenden Literaturgeschichte ist Christine Engel, Andreas Guski, Wolfgang Kissel, Joachim Klein, Wolf-Heinrich Schmidt, Dirk Uffelmann sowie Klaus Städtke, der auch als Herausgeber fungiert, ein solider Grundriss der Geschichte der russischen Literatur gelungen. Allerdings fällt - der Gliederung nach Epochen geschuldet - die Darstellung von Einzelwerken oftmals ziemlich schwach aus. Und auch die Biographien der Autoren nehmen sich gegenüber der Darstellung der Zeitgeschichte oft kläglich aus. Dass die sieben Autoren Spezialisten der von ihnen dargestellten Epoche sind, hätte uns Klaus Städtke in seinem Vorwort nicht zu sagen brauchen, man merkt es allemal an ihren fachgerechten, allerdings auch an ihren durchaus wissenschaftlichen Ansprüchen genügenden Texten. Das aber war eigentlich gar nicht vorgesehen. Da diese Russische Literaturgeschichte innerhalb einer Reihe erscheint (Bisher wurden eine spanische, eine lateinamerikanische und eine englische Literaturgeschichte veröffentlicht.), war vom Verlag vorgegeben, dass die Texte mit möglichst wenig Fachjargon auskommen und auch dem interessierten Laien verständlich sein sollen. Das nun ist nicht immer gelungen. Auch wenn man manche Texte ein zweites Mal liest, kommen sie einem "spanisch" vor, zum Beispiel: "Die groteske Behandlung der sowjetischen Geschichte, deren Darstellung von logischen Brüchen und Tempusverschiebungen geprägt ist, fasziniert durch gekonnte intertextuelle Verfahren..." Zufrieden dagegen kann man sein mit der verständlichen Untergliederung des Werkes nach: Mittelalter, 18. Jahrhundert, Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis zum Krimkrieg (1853), Realismus und Zwischenzeit, Die Moderne, von der Avantgarde zum sozialistischen Realismus (1917-1934), die klassische Sowjetliteratur (1934-1953), vom Tauwetter zur Postsozialistischen Ära (1953-2000). Diese Periodisierung der Literaturentwicklung ergibt sich in erster Linie aus Einschnitten und Wendepunkten der politisch-sozialen Geschichte, die auch immer Auswirkungen auf die Literatur haben. Das Kapitel über die altrussische Literatur ist daher besonders gewichtig und ausführlich, wohl auch weil diese in den meisten deutschsprachigen Literaturgeschichten oft vernachlässigt wird. Der ganz besondere Schwerpunkt liegt auf der Literaturentwicklung im 20. Jahrhundert. Das Ende der Sowjetunion und die Bemühungen Russlands um einen Anschluss an die westliche Marktwirtschaft bedeuten für die literarische Entwicklung und ihre institutionellen Grundlagen eine nochmalige Wende. Nicht nur die offizielle Zensur und alle damit verbundenen Formen der Repression entfielen, sondern auch die beträchtlichen staatlichen Zuschüsse für den Literaturbetrieb. "Die mühsame Erneuerung der Gesellschaft ging mit einer generellen Revision des soziokulturellen Wertesystems einher. (...) Die Literatur verlor endgültig ihren privilegierten Status und büßte ihre Autorität beim Leser ein." (Klaus Städtke) Allerdings finde ich, dass im letzten Kapitel die Populärliteratur allzu kurz kommt; denn heute verwischen sich doch die Grenzen zwischen der so genannten niederen Kultur und der Hochkultur zunehmend. Schließlich vermag auch die Populärliteratur - Krimis, Thriller, Detektivromane, Science-fiction... - gesellschaftliche Spannungen und Widersprüche aufzudecken und auf hohem Niveau unterhaltsam zu verarbeiten. Leider sind Boris Akunin und Alexandra Marinina nur sehr kurz erwähnt. Wo bleibt Polina Daschkowa? Wo Anna Dankowtsewa? Wo Tatjana Stepanowa? Wo Darja Donzowa? Warum sind die erfolgreichsten Krimi-Schreiber meist Frauen? Die Verfasser der Russischen Literaturgeschichte hätten ein neues Terrain erobern können, das bisher literaturwissenschaftlich (außer in Einzelaufsätzen, zum Beispiel bei Ilma Rakusa) wenig erschlossen ist, schon gar nicht in russischen Literaturgeschichten. Lobenswert ist der Versuch, bisher weniger beachtete Autoren - wie Karolina Pavlova, Vladimir Marazin, Timur Kibirov... - in diese Literaturgeschichte mit einzubeziehen. Die von Städtke herausgegebene Literaturgeschichte gibt also eine Gesamtdarstellung der Entwicklung der russischen Literatur von den Anfängen im 9./10. Jahrhundert bis in die post-sowjetische Ära am Ausgang des 20. Jahrhunderts. "Die Autoren des Bandes beabsichtigten keine radikale Revision der bisherigen Literaturgeschichtsschreibung. (...) Es geht vielmehr um eine Relektüre der russischen Literatur, die gegen Ende des 20. Jahrhunderts einen umfassenden Neuanfang realisiert." (Klaus Städtke) Dennoch: Diese Literaturgeschichte ist frei von ideologischen und ideologiekritischen Klischees. Das Personen- und Werkregister bringt hinter jedem Namen die Lebensdaten, was langes Suchen im Fließtext erspart. Aber leider enthält das Buch kein Sachwortregister (zum Beispiel um den Moskauer Konzeptualismus zu finden), weshalb es sich als Nachschlagewerk nur bedingt eignet. Außerordentlich gut gefällt die reichhaltige Bebilderung mit Autorenporträts, literaturgeschichtlichen Wandmalereien, Karten, Faksimiles, Gemälden, Miniaturen, Stichen, Ikonen, Theatergebäuden, in denen Autorenstücke aufgeführt wurden - viele im Kleinformat auf den breiten Texträndern. Michail Gorbatschow hat gesagt, "vergessene Namen und weiße Flecken darf es weder in der Geschichte noch in der Literatur geben". Klaus Städtke und seine Mitarbeiter haben ihren Teil dazu beigetragen, vor allem auch mit der kompletten Aufnahme der Exil- und Lagerliteratur. | |
Gisela Reller / www.reller-rezensionen.de
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Am 03.02.2005 ins Netz gestellt. Letzte Bearbeitung am 12.01.2017. Das unterschiedliche Schreiben von Eigennamen ist den unterschiedlichen Schreibweisen der Verlage geschuldet.
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Den Wolf macht sein Bauch zum Dieb, den Menschen - der Neid. | |
Sprichwort der Russen |
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