Belletristik REZENSIONEN

Moskau! Nach Moskau! Vorwärts nach Moskau!

Deutscher über Moskau
Moskau lesen
Carl Hanser Verlag, München 2011, aktualisierte Neuauflage, 506  S.

Was für ein hinreißend gut geschriebenes, faszinierendes Buch. Wie viel Neues, Bedeutsames, Interessantes habe ich erfahren - obwohl ich als Reporterin der Ostberliner Illustrierten FREIE WELT wohl an die hundert Mal in Moskau war - oft allerdings nur für ein / zwei Tage, weil - meiner journalistischen Spezialisierung entsprechend - mein eigentliches Ziel die Tschuktschen, Kalmyken, Kumyken, Karakalpaken... waren, jeweils eine der kleinen mehr als hundert Völkerschaften der ehemaligen Sowjetunion.

Moskau lesen, 1984 im Siedler Verlag erschienen (dazumal war es mir als DDR-Bürgerin noch nicht zugänglich), hat  verschiedene Nachauflagen erfahren und ist ins Russische und Englische übertragen worden. Da Moskau lesen nun aber seit langem vergriffen war, entschloss sich der Münchener Carl Hanser Verlag zu einer neuen und erweiterten Auflage. Das Buch von 1984 (Fast drei Jahrzehnte sind seither vergangen.) zeige das alte, das sowjetische Moskau unmittelbar vor dem Ende des sowjetischen Systems, "es war", schreibt Karl Schlögel in seinem Vorwort, "die Erkundung einer Stadt in einer langen Zeit der Agonie und am Vorabend einer rasenden Beschleunigung der Geschichte, von der alle daran Beteiligten nicht wissen konnten, wohin sie führen würde."

Der erste Teil des Buches - zumindest für Russisten inzwischen zum Kultbuch geworden - ist unverändert geblieben und somit eine "Art Führer in eine untergegangene Stadt: Moskau-Pompej". Moskau lesen ist kein Reiseführer, "sondern ein Führer auf einen geschichtlichen Schauplatz, vor allem des 20. Jahrhunderts, das die Nachgeborenen nur vom Hörensagen kennen. Es geht darin nicht um Architektur und Fassaden, sondern um Stein gewordene Schicksale von Menschen, ja ganzer Generationen."

Moskau lesen hat nahezu alle Themenbereiche im Blick: die Politik, Geschichte, Literatur, Kunst, Architektur, Natur und Umwelt, das Bildungswesen, das russische Alltagsleben... Dieses Buch des schriftgewaltigen Osteuropa-Historikers sind viele Bücher in einem! Kenne ich den Komponisten Sergej Tanejew (1856-1915) aus Sofja Tolstojas Roman "Eine Frage der Schuld", so erfahre ich von Schlögel darüber hinaus, dass Tanejew (und Andrej Bely, Sergej Solowjow, Michail Ertel, Waleri Brjussow) im Eckgebäude des Arbat 55 regelmäßig an den sonntäglichen Treffen der "Argonauten" teilgenommen hat; kenne ich den Marschall der Sowjetunion Michail Tuchatschewski (1893-1937) aus dem Buch "Die Memoiren des Dmitri Schostakowitsch von Solomon Wolkow, so lese ich bei Schlögel darüber hinaus, dass Tuchatschewski nicht nur General, sondern auch ein hervorragender Geigenbauer war, der bei Schostakowitsch Violin- und Kompositionsunterricht genommen hat; kenne ich den Tänzer Vaslav Nijinski (1889-1950) aus seinen Tagebuchaufzeichnungen und aus seiner Autobiografie, so entdecke ich bei Schlögel darüber hinaus ein Plakat von 1912, auf dem Nijinsky als "Faun" zu sehen ist; kenne ich den Komponisten Alexandr Skrjabin (1871-1915) aus "Skrjabin - Poem der Emphase" von Friedrich Gorenstein, so erfahre ich darüber hinaus von Karl Schlögel, dass Skrjabins Haus im Wachtangowski pereulok [Wachtangowgasse] regelmäßig renoviert wird; kenne ich von dem Dichter Boris Pasternak (1890-1960) z. B. seinen Roman "Doktor Shiwago", so erfahre ich bei Schlögel darüber hinaus, dass er während der Kriegstage als Mitglied der Luftschutzbrigade auf dem Dach des Hauses Lawruschinski pereulok 17 - gegenüber dem Eingang zur Tretjakow-Galerie - gegen die deutschen Flugzeuge auf Wache stand; kenne ich Moskaus ehemaligen Bürgermeister Juri Luschkow (geb. 1946) aus seiner Autobiografie, so erfahre ich darüber hinaus von Karl Schlögel von dessen technokratischen und zutiefst verinnerlichten Überzeugung, dass die wieder aufgebaute Kopie eines Gebäudes schöner und wertvoller sei als das Original selbst - "eine Überzeugung, die die Stadt so viel historischer Substanz beraubt hat wie seit Stalins Generalplan nicht mehr"; kenne ich den russischen Staatsmann Pjotr Stolypin aus dem Buch "Nacht über Russland", so erfahre ich darüber hinaus bei Schlögel, dass der Verfemte --- ein energisches und kluges Gesicht hatte; von meiner russischen Freundin Raissa Netschajewa wusste ich, dass am 25. August 1968 einige Dissidenten auf dem Roten Platz ein Transparent entrollten, auf dem stand: Wir protestieren gegen die Besetzung der ČSSR, bei Schlögel lese ich erstmals die Namen der Mutigen, es waren Larissa Bogoras, Pawel Litwinow (ein Physiker), Wadim Delone, Wladimir Dremljuga (ein Arbeiter), Wiktor Fainberg, Natalja Gorbanewskaja (eine Schriftstellerin) und Konstantin Babizki. Das Register im Anhang zu Moskau lesen weist 679 Namen aus, und über fast alle weiß Karl Schlögel in seinem Buch (mir) unbekannte Details zu berichten.

Was für ein belesener, wissbegieriger Mann, der akribisch recherchiert, dokumentiert, zitiert. "Wir beide lebten in Moskau. Aber auch wir entdeckten", gestehen Raissa und Lew Kopeljew [seit 1981 im Exil in Amerika, danach in Köln], "dank Schlögel in unserer Heimatstadt einiges, was wir früher kaum wussten und was uns bedeutend erscheint. Von Seite zu Seite wird man mehr gefesselt und mitgenommen."

Karl Schlögel, obwohl 1948 in Bayern geboren, genauer in Schwaben, und im Westen aufgewachsen, hat im Laufe seines Lebens eine tiefe Sympathie für den europäischen Osten entwickelt, hat die Verbindung dorthin zum Lebensthema gemacht. Er studierte an der Freien Universität Berlin, in Moskau und Leningrad Philosophie, Soziologie, Osteuropäische Geschichte und Slawistik, zu einer Zeit, als Osteuropa nicht gerade eine Moderichtung gewesen ist. Schlögel lehrt heute als Professor für Osteuropäische Geschichte an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt / Oder. Als Karl Schlögel 2009 den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung erhielt, sagte Professor Jens Reich in seiner Laudatio: "Er hat sein intellektuelles Lebenswerk dem europäischen Osten gewidmet und zwar gerade nicht als Eurasier, also nicht mit dem Rücken zum Westen, nicht als Bewunderer Russlands, der den Westen ablehnt." Karl Schlögel war nach Moskau gekommen "als jemand, der das Eiferertum und die Fraktionskämpfe der Linken in der Bundesrepublik hinter sich gelassen hatte und der erfüllt war von der Zuversicht, dass die alte Konstellation des Kalten Krieges, der Teilung der Welt, irgendwo absolut geworden war und dass den Dissidenten, den Andersdenkenden auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs die Zukunft gehören würde. [...] Für einen 68er war es nicht schwer, sich in den halbkonspirativen Milieus Moskaus zurechtzufinden, auch wenn die Verständigung zwischen Dissidenten Ost und Dissidenten West kaum möglich war ohne Missverständnisse." In den achtziger Jahren, sagt Schlögel, sei die Erkundung der Stadt ein wahrhaft aufwühlendes Abenteuer gewesen. Der Historiker Schlögel hatte während eines Forschungsauftrages begonnen, Skizzen und Beobachtungen zu sammeln, Bauformen und Adressbücher zu befragen, Museen und Antiquariate zu besuchen, Schrifttafeln und alte Zeitungen zu studieren... In einem Interview sagte Schlögel, man dürfe keinerlei Material ausschließen, es sei alles erlaubt, was helfe, eine Zeit zu verstehen.

Der erste Teil des Buches Moskau lesen handelt von politischen Sowjetlosungen ("denen man sich leicht entziehen konnte"), vom Freibad Moskwa ("das die Baugrube des nicht errichteten Sowjetpalastes volkssportlich nutzte"), von der auf Befehl Stalins gesprengten Erlöser-Kathedrale, von Buchläden, wo anspruchsvolle Literatur gierig umlagert wurde, von dem Hotelungetüm "Rossija", in dessen Dachrestaurant nicht nur der gelehrte Flaneur Schlögel, sondern auch ich, die neugierige Journalistin, so manchen Kaffee (mit Kognak) trank, von Moskau als ein Reservat des Jugendstils, von den sieben 1947 (!) gebauten Hochhäusern im Zuckerbäckerstil, (oft wird "in der blasierten Kritik an Eklektizismus und Zuckerbäckerei die ungeheure und übermenschliche Anstrengung, die in sie investiert wurde, vergessen, wenn nicht verspottet".), von den ersten russischen Schulen und der ersten Universität...

Den zweiten Teil des Buches Moskau lesen bilden Karl Schlögels Notizen und Beobachtungen von 1988 bis 2010, Jahre in denen die Sowjetunion unterging und sich die ehemalige Unionshauptstadt Moskau, in der der Verkehr inzwischen teils achtspurig abläuft zur zweitteuersten Stadt der Welt - nach London - mauserte. Wir lesen von allzu aufdringlicher Reklame statt von politischen Sowjetlosungen; von der Erlöser-Kathedrale "als luxuriöse Kitschkopie" (Kerstin Holm) an der Stelle des Freibades Moskwa; von Buchläden, in denen die anspruchsvolle Literatur in den hintersten Regalen lagert, verdrängt von Schmökern, Krimis und Kochbüchern; vom Abriss des legendenträchtigen "Rossija"-Hotels, das durch ein exklusives Kultur- und Geschäftszentrum ersetzt werden soll, vom Ende des Abakus und der Einführung des Strichcodes; über einarmige Banditen, Sex-Digest, Flugverkehr zwischen Alaska und Tschukotka, über Russlands Finanzgenies und Unternehmernaturen, über Frauenmörder und verstümmelte Leichen, über eine Armee ohne Disziplin, über Antisemiten und Schwarzhemden, über Schlüsselanhänger mit nackten Frauen, über Gruppentherapien, deutsche Schäferhunde und Ostereier von Fabergé, das Intimleben der Mächtigen, Sibirische Tiger und Wundertäter, fliegende Untertassen, den GULAGs, Menschenopfern und Bevölkerungszuwachs, über Russen auf der Flucht, Streiks und Stadtrundfahrten früh um vier, über Sozialprogramme, Steuerbetrug und Wolfsrudel in Tschernobyl...

Bei vielen Wörtern des gebildeten Autors musste ich deren Bedeutung nachschlagen - zum Beispiel bei Eutresol, Prolegomena, Surrogate, Demiurgen, Apperzeption, Pylonen, Preziosen, Adoleszenz... (Dümmer bin ich davon nicht geworden).

Ich war 1993 das letzte Mal in Moskau, da war "meine" Illustrierte FREIE WELT (die Schlögel auf Seite 242 freundlich erwähnt) schon - wendegeschuldet - eingestellt. Nach der Wende trieb es mich privat und nunmehr als freie Reisejournalistin in andere, in westliche Gefilde. Und als meine Moskauer Busenfreundin Raissa verstorben war, hielt ich meine Sehnsucht nach Moskau für geheilt. Seit der Lektüre von Schlögels* Moskau-Buch allerdings weiß ich, dass ich mich bald, sehr bald noch einmal nach Moskau... nach Moskau... aufmachen werde...

 * Der Historiker Karl Schlögel (64 Jahre alt) wurde im September 2012 vom Zentrum gegen Vertreibungen mit dem Menschenrechtspreis ausgezeichnet. Schlögel betrachte Vertreibungen in einem europäischen Zusammenhang, der die Vertreibungen der Deutschen einschließt; er habe auch die Linke für das Thema sensibilisiert. Der Preis wurde in Frankfurt / Main überreicht.


Gisela Reller / www.reller-rezensionen.de

 

Weitere Rezensionen zum Thema "Moskau":

  • Kay Borowski (Hrsg.), Bei mir in Moskau leuchten die Kuppeln. Eine Stadt im Spiegel ihrer Gedichte.
  • Claudia Erdheim, Eindrücke.
  • Andrea Hapke / Evelyn Scheer, Altrussische Städte.
  • Valeria Jäger / Erich Klein (Hrsg.), Moskau. EUROPA ERLESEN.
  • Edeltraud Maier-Lutz, Flußkreuzfahrten in Rußland.
  • Sonia Mikich, Planet Moskau.
  • Sergio Pitol, Die Reise. Ein Besuch Rußlands und seiner Literatur.
  • Thomas Roth, Russisches Tagebuch.
  • Gregor M. Schmidt / Christa Damkowski, Moskau und der Goldene Ring.
  • Elfie Siegl, Russischer Bilderbogen. Reportagen aus einem unbegreiflichen Land.
  • Valerij Stignejew, Moskau-Berlin.

Am  30.07.2011 ins Netz gestellt. Letzte Bearbeitung am 26.11.2019.

Das unterschiedliche Schreiben von Eigennamen ist den unterschiedlichen Schreibweisen der Verlage geschuldet.

Im Haus des Vaters schmeckt die Brotkruste besser, als in der Fremde der Braten.
Sprichwort der Russen

 [  zurück  |  drucken  |  nach oben  ]