Reiseliteratur-Bilddbände REZENSIONEN

3 200 Kilometer im Kajak auf der Lena

Über Russland und die Republik Sacha (Jakutien)
Lenareise
Mit 19 Schwarz-Weiß-Fotos
WeymannBauerVerlag, Rostock 2003, 270 S.

Ich hätte nie für möglich gehalten, dass mich ein Reisebuch, in dem weder ortsbekannte Persönlichkeiten noch Sehenswürdigkeiten vorgestellt werden, so fesseln könnte...

Durch die beiden Autoren Möller und Prokein bin ich auf den WeymannBauerVerlag, ansässig in Rostock, aufmerksam geworden. In seinem Verlagsprofil verspricht der Verlag, man könne die fernen und nahen Welten vom Sessel aus erobern. Das betrifft die Leser, denn Markus Möller und Ronald Prokein haben mit einem Sessel nicht viel am Hut. Möller und Prokein sind bereits im Guinness-Buch der Rekorde vertreten - für ihre Umradelung der nördlichen Erdhalbkugel mit dem Fahrrad. Darüber schrieben sie ihr Buch "Durchgetreten". Die zweite Abenteuerreise schlug sich in "Verloren" nieder, beide im WeymannBauerVerlag herausgekommen. Nun ist Lenareise erschienen. Reisedauer: 87 Tage, davon 47 Tage lang 3 200 Kilometer im Kajak auf der Lena, durch die sibirische Taiga bis hin zur kältesten Großstadt der Welt - Jakutsk.

Markus Möller (geboren 1971) hat in Rostock sein Abitur gemacht, ein Semester Physik und vier Semester Soziologie studiert; er arbeitet als Reisejournalist. Ronald Prokein (geboren 1971) ist Schienenfahrzeugschlosser, leistete seinen Wehrdienst in der Bundesmarine, hat eine Ausbildung als Minentaucher und Fallschirmjäger; er arbeitet ebenfalls als Reisejournalist.

Mit zwei deutschen Schäferhunden, der Hündin Gina und dem Rüden Condor (die einem während der Lektüre ganz schön ans Herz wachsen) machen sich die beiden wagemutigen Männer auf die insgesamt 23 600 Kilometer lange Reise. (Aus den Bildunterschriften erfahren wir, dass Condor in Rostock an den Folgen eines Autounfalls verstarb, im Internet - www.moeller-prokein.de - wird uns mitgeteilt, dass Ronald sich mit einem neuen Hund getröstet hat, er heißt Arthus.)

Was macht Lenareise so spannend?

Da ist zum einen der sportliche Ehrgeiz der beiden Rostocker Abenteurer, unbedingt ihr Ziel zu erreichen. Es ist schon beeindruckend, welche Herausforderungen und Strapazen sie dafür auf sich nehmen. Im Internet las ich, dass beide in der Kindheit Spott und Demütigungen ertragen mussten. Der eine, weil er mit zwölf Jahren fast zwei Zentner wog, der andere weil er (mit dreißig Kilogramm?) dürr und murklig war. Nun haben sie zum wiederholten Male bewiesen, dass sie ganze Kerle geworden sind!

Zum anderen erfahren wir, dass Ronald sich mit Markus Freundin eingelassen hat; Markus hat deshalb sogar einen Selbstmordversuch unternommen. Im Buch nun wird, anfangs in Rückblenden, an vielen Stellen (kursiv gekennzeichnet) ihre Stimmung zueinander geschildert und wie sie sich ganz langsam wieder näher kommen, schließlich ihre mehr als zwei Jahrzehnte lange Freundschaft wieder finden. Hier fasziniert wohl am meisten beider Ehrlichkeit. Apropos Ehrlichkeit: Die beiden Männer erleben Hitze, Sturm und Kälte, Einsamkeit und - Angst, wenn sie mit all ihren Sachen kentern, wenn sie von Rowdys zusammengeschlagen werden, wenn sie ein menschliches Skelett entdecken. Auch ihre Ängste gestehen sie ganz unumwunden. Na, und dann die vielen zufälligen Begegnungen mit Menschen, die an der Lena, der Lebensader Sibiriens, leben. Die einen kommen von selbst neugierig zu ihren Zelten, die anderen lernen sie kennen, wenn sie (meist in kleinen, ganz unbekannten Dörfern) einen Lebensmittelladen suchen oder wenn sie nach einer anstrengenden, einsamen Etappe (die höchste Temperatur auf ihrer Strecke beträgt 33 Wärmegrade, die niedrigste Temperatur 6 Minusgrade.) Sehnsucht nach Menschen und Appetit auf ein Bierchen haben; meist findet sich - auch in den kleinsten Orten - eine Art Disco. So lernen sie hilfsbereite Kapitäne und ärmliche Fischer kennen, treffen auf Wolgadeutsche, begegnen Menschen, die noch nie einem Ausländer begegnet sind. "Die Herzlichkeit dieser Leute macht uns immer wieder sprachlos, und vor allem, dass sie von dem wenigen, das sie besitzen, ohne lange zu überlegen, abgeben." Sie geraten jedoch auch in Mafia-Kreise und in lebensbedrohliche Situationen.

Solche und viele andere unorganisierte Begegnungen haben Moeller und Prokein so bekannten Reisejournalisten wie Klaus Bednarz ("Östlich der Sonne"), Dietmar Schumann ("An der Lena flußabwärts"), Thomas Roth ("Russisches Tagebuch") voraus. Keine Passage aus den genannten Profi-Büchern hat mich so erschüttert wie diese aus Lenareise: "Wieder auf dem Ordshonikidseplatz [in Jakutsk] fällt uns ein Junge auf. Er ist nicht älter als acht Jahre und sitzt zusammengekauert auf einer der steinernen Treppenstufen, die zu einem Lebensmittelladen führen. Neben ihm steht eine Bierflasche. Die Jacke, die er anhat, ist dünn, die Hose zu kurz, und die Schuhe sind zu groß. Für einen Moment bleiben wir stehen. Der Kleine zieht nervös an einer Zigarette. Auch zu dieser nächtlichen Stunde sind eine Reihe von Menschen unterwegs. Achtlos gehen sie an dem Kind vorbei." Möller und Prokein leisten es sich, auch mal ziellos durch die Orte zu schlendern, während wir Profis planvoll von Interviewpartner zu Interviewpartner und von Sehenswürdigkeit zu Sehenswürdigkeit eilen...

Ein wenig stört an diesem spannenden Bericht aus der sibirischen Realität, dass nicht immer zu erkennen ist, wer von den beiden Autoren welchen Part geschrieben hat. Ein wenig erstaunt auch, dass die beiden Extrem-Sportler - trotz ihrer verständlichen Abenteuerlust und ihrem sportlichen Ehrgeiz - so wenig Fakten liefern, zum Beispiel über das Volk der Jakuten, das in der Lena-Region lebt - schließlich arbeiten doch beide als Reisejournalisten.

Andreas Möller und Ronald Prokein haben für 2005/06 wiederum eine abenteuerliche Unternehmung geplant: Ronald Prokein startet im August 2005 zum Lauf "Yokohama - Berlin", Markus Möller im März 2006 zum Radrennen durch die Teilnehmerländer der Fußball-Weltmeisterschsft. Beide haben ein und dasselbe Ziel: die Eröffnung der Fußballweltmeisterschaft am 8. Juni 2006 in Berlin. Ich freu mich drauf; denn die beiden sympathischen jungen Männer haben in mir (samt ihrem Verlag) einen neuen Fan gefunden.

Übrigens: Viele Bücher des WeymannBauerVerlages sind auf Käuferwunsch mit Handsignierung der Autoren erhältlich.

Gisela Reller / www.reller-rezensionen.de
Weitere Rezensionen zum Thema "Republik Sacha (Jakutien)":

  • Klaus Bednarz, Östlich der Sonne.
  • Iwan Gontscharow (Ivan Gončarow), Für den Zaren um die halbe Welt.
  • Andreas Horvath / Monika Muskala, Jakutien. Sibirien von Sibirien.
  • Tatjana Kuschtewskaja, Mein geheimes Russland. Reportagen.
  • Edeltraud Maier-Lutz, Flußkreuzfahrten in Rußland.
  • Dietmar Schumann, An der Lena flußabwärts.
  • Stefan Sullivan, Sibirischer Schwindel. Zwei Abenteuerromane.
  • Bodo Thöns, Sibirien entdecken.
Weitere Rezensionen zum Thema "Burjatien":

  • Klaus Bednarz, Östlich der Sonne.
  • Merle Hilbk, Sibirski Punk.
  • Irina Pantaeva, Mein Weg auf die Laufstege der Welt.
  • Thomas Roth, Russisches Tagebuch.
  • Dietmar Schumann, An der Lena flußabwärts.
  • Bodo Thöns, Sibirien entdecken.
Am  26.05.2005 ins Netz gestellt. Letzte Bearbeitung am 28.11.2019.

Das unterschiedliche Schreiben von Eigennamen ist den unterschiedlichen Schreibweisen der Verlage geschuldet.

Vergiss alte Freunde nicht um neuer Freunde willen.
Sprichwort der Jakuten

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