Sachbuch REZENSIONEN

"Seitdem ich bei den Partisanen war, habe ich vor nichts mehr Angst..."

Deutsche; über den jüdischen Widerstand in Belorussland und der Ukraine
Jüdische Partisaninnen
Der verschwiegene Widerstand in der Sowjetunion
Reihe Texte / Rosa-Luxemburg-Stiftung; Band 37
Mit 17 Abbildungen
Karl Dietz Verlag, Berlin 2007, 189 S.
 
Dass sich Juden nicht gegen die deutschen Besatzer gewehrt haben, ist eine Mär. Dennoch ist bis heute oft zu hören, die Juden hätten sich im zweiten Weltkrieg widerstandslos "zur Schlachtbank" führen lassen. Als nahezu einziges Beispiel eines bewaffneten Kampfes von Juden gegen die Vernichtungspolitik der Nazis gilt der Ghettoaufstand in Warschau. Tatsächlich aber wurde ein großer Teil des Widerstands gegen Hitler von Juden mitgetragen. Schon von den Nazis waren nahezu alle Hinweise auf jüdischen Widerstand sorgfältig unterdrückt worden; denn aus der Sicht der "arischen Herrenmenschen" durfte es keinen Widerstand von "Untermenschen" geben. Doch es gab ihn, den Widerstand von Juden gegen die Ausrottungspolitik der Deutschen. Sowohl von den "Internationalen Brigaden" des spanischen Bürgerkrieges über die Résistance in Belgien, Holland, Frankreich bis hin zu bewaffneten Untergrundeinheiten im Baltikum, in Polen und in der Sowjetunion.

Anika Walke - geboren 1977, Studentin an der Carl von Ossietzky-Universität Oldenburg - arbeitet zum jüdischen Widerstand gegen den nationalsozialistischen Genozid, zu Konstruktion von Erinnerung sowie Flucht und Migration. In ihrem Buch Jüdische Partisaninnen erzählt sie die Lebensgeschichten von acht sowjetischen Jüdinnen, die in Belorussland (Weißrussland) und in der Ukraine gegen die deutschen Besatzer gekämpft haben. "Anhand ihrer Erzählungen (...)", schreibt die Autorin,  "möchte  ich vor allem den Widerstand  der osteuropäischen  jüdischen Bevölkerung thematisieren." Anika  Walke begann ihre Interviews in St. Petersburg im Jahre 2000 und setzte sie unterschiedlich viele Jahre später fort. Alle von ihr befragten Frauen haben Grauenvolles erlebt, Angehörige verloren und standen selbst an der Schwelle des Todes - aber sie haben sich nach ihren Kräften in Partisaneneinheiten bewährt, die einen als aktive Kämpfer, die anderen, indem sie die Partisanen versorgt und verarztet haben.

Bei Alewtina Kuprichina, einer bejahrten Frau, gingen mir besonders die Sätze nahe "Niemand hat mich so gern gehabt wie meine Mutter (die umgekommen ist) und "Alles Gute, was er in sich trug, hat er mir zugute kommen lassen"; die Rede ist von einem deutschen Soldaten. - Für Frida Pedko sind der 16.03.1942 und der 26.07.1944 bis heute Trauertage. 1942 wurde das Ghetto aufgelöst, alle jüdischen Bewohner - sofern sie sich nicht verstecken konnten oder ihnen nicht die Flucht gelang - wurden ermordet; 1944, als die Besatzung beendet war, begriffen sie und ihre Schwester, dass ihnen aus ihrem früheren Leben nichts weiter geblieben war als vier kleine Gläser, die in den Trümmern ihres Wohnhauses unter einem Haufen Müll in der Ecke lagen. - Lidija Dosowitzkaja sagt, für das Ghetto gäbe es gar keine Worte: "Im Dezember 1941 und im Juli 1942 verübten die deutschen faschistischen Besatzer [im Ghetto von Djatlowo] ein Pogrom an der jüdischen Bevölkerung. Während des Pogroms wurden 3 500 Menschen erschossen." Und dann schildert sie, die sich immer wieder fragt, wie es möglich ist, dass Menschen so bestialisch mit Frauen, Männern, Kindern umgehen -  diese Szenen: Ein Deutscher habe das Kind genommen und gegen die Wand geschlagen und der Mutter in den Bauch geschossen. - Ein SS-Mann habe einem Juden die Zunge abgeschnitten. - Einem der Kartoffeln gestohlen habe, haben sie erst ein Ohr abgeschnitten, dann einen Fuß, dann einen Finger... - Und die Deutschen hätten Frauen und Mädchen vergewaltigt, alle der Reihe nach, und dann haben sie sie einfach auf den Platz geworfen. - Eines Tages seien auf dem Gelände des Jüdischen Friedhofs Menschen erschossen worden. "Vier Tage lang konnte man die Schreie der Verletzten hören... Und dann kam das Blut nach oben, wie ein Meer war das." An der Stelle meint Anika Walke kämen ihr "Zweifel an der Verstehbarkeit menschlicher Handlungen". Da muss ich mich anschließen. - Nina Romanowa-Farber gesteht, dass "(...) die Sowjetmacht und der Kommunismus" ihre Götter waren. Aber: "In den 1920er Jahren (...)" wurden "Angehörige einzelner Volksgruppen und sozialer Schichten, die als potenzielle Kritiker oder Opposition galten, in unwirtliche Gebiete der UdSSR deportiert." Sie weiß noch, dass sie als vierjähriges Kind Spottreime gegen die sogenannten Kulken sang, aber erschrocken war, als ein Nachbar die Familie besuchte und verzweifelt über die bevorstehende Verbannung nach Sibirien sprach. (...) Natürlich, auch in der Sowjetunion hat es Ungerechtigkeiten gegeben", aber die sowjetische Gesellschaft habe für das Leben der Einzelnen Verbesserungen bereit gehalten... - Jelena Drapkina floh als Achtzehnjährige aus dem Minsker Ghetto und wurde zu einer kämpfenden Partisanin: "Ich musste mich doch rächen." Und dann erzählt sie von einer jungen Frau, die den Deutschen in die Hände gefallen war: "(...) dann haben sie ein Bein von ihr an einen Baum gebunden, das andere an einen anderen, und dann haben sie sie zerrissen." Anika Walke dazu: "Der Hass der deutschen Truppen gegen die `Flintenweiber´ wird in Darstellungen des Krieges gegen die UdSSR häufig hervorgehoben. Bilder von der brutal verstümmelten Soja Kosmodemjanskaja  (...) spiegeln die Verachtung, mit der die als "Untermenschen" bezeichneten sowjetischen Frauen und Männer behandelt wurden. Die kämpfende Sowjetsoldatin oder Partisanin brachte zusätzlich das Bild des maskulinen Kämpfers ins Wanken, das eine der elementaren Stützen der nationalsozialistischen Rassenideologie war." - Rita Kaschdan, die in einer wohlhabenden, "höher gestellten" Minsker Familie aufwuchs, erzählt: "Als ich in der dritten Klasse war, wurde ich nach meiner Nationalität gefragt, da habe ich gesagt, dass ich meine Mutter fragen muss, ich wusste gar nicht, was das ist." Nach ihrem Leben im Ghetto gefragt, antwortet sie: "Täglich Erschießungen, täglich Razzien. Das war das Ghetto." Sie kommt auch auf Wilhelm Kube zu sprechen, der von 1941 bis zu seinem Tode - das Attentat auf ihn erfolgte am 23.Oktober 1943 - Generalkommissar des deutschbesetzten Belorussland war, in der von den Deutschen etablierten Herrschaftsstruktur "Weißruthenien" genannt. Mir ist Kube ein Begriff, seitdem ich Paul Kohls Buch "Schöne Grüße aus Minsk" rezensiert habe. "Seitdem ich bei den Partisanen war, habe ich vor nichts mehr Angst", sagt Rita Kaschdan. - Rosa Selenko meint: "Überleben war Zufall" und erzählt: "Morgens hatten wir meist nichts zu essen, aber wenn wir von der Arbeit nach Hause kamen, fingen wir sofort an zu kochen. (...) Die Suppe bestand aus Mehlklößchen in Wasser."

Alle Frauen berichten von den Verstecken, Maliny genannt, in denen sie manchmal tagelang im Stehen ausharrten, bis die Razzia oder das Pogrom vorüber war. "Und dann fing ein kleines Kind an zu schreien, da waren wir alle starr vor Schreck. Die Mutter wusste, dass das Geschrei alle in Gefahr brachte und hielt dem Kind den Mund zu. Das Kind ist dann... [erstickt]." (Rosa Selenko) Die Mitglieder des im Ghetto operierenden Untergrunds hatten schnell erkannt, dass eines der zentralen Ziele der deutschen Besatzer die Vernichtung der jüdischen Bevölkerung war. Sie versuchten daher, so vielen Menschen wie möglich die Flucht aus dem Ghetto in die Wälder und damit in die Partisaneneinheiten zu ermöglichen. Insgesamt sind schätzungsweise 10 000 Menschen aus dem Minsker Ghetto entkommen - so viele wie aus keinem anderen Ort in Osteuropa. Die mutigen Versuche vieler Juden, die Besatzungs- und Vernichtungspolitik zu behindern, wurde nach dem Krieg faktisch geleugnet. Die Führung der belorussischen Kommunistischen Partei unter P. K. Ponomarenko war in den ersten Kriegstagen aus Minsk in Richtung Moskau geflohen, ohne alle verfügbaren Mittel zur Evakuierung der Bevölkerung zu mobilisieren - wie es ihre Pflicht gewesen wäre. Um eventuellen Sanktionen durch die staatliche Führung zu entgehen, behaupteten die Geflohenen, ausreichend Evakuierungshilfen bereitgestellt zu haben, aber die Bevölkerung wolle lieber unter der Besatzungsmacht leben. So wurden 15 000 Menschen der Kollaboration bezichtigt. Resultat dieser falschen Behauptung war, dass man in vielen Partisaneneinheiten glaubte, Flüchtlinge aus Minsk seien "Spione", die entweder nicht aufgenommen oder sogar getötet wurden. Belorussland hat wie kaum ein anderes Land in Europa unter der deutschen Besatzung von 1941 bis 1944 gelitten. Von 9,2 Millionen Einwohnern Belorusslands wurde jeder dritte Einwohner von den Nazis ermordet.

Erst etwa um den 60. Jahrestag des Kriegsendes 2005 erschienen mehrere Veröffentlichungen, die die Wahrheit über den jüdischen Widerstand in der Sowjetunion enthielten.


Gisela Reller /www.reller-rezensionen.de

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Weitere Rezensionen zum Thema "Belarus / Weißrussland":

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  • Igor Kostin, Tschernobyl. Nahaufnahme.
  • Wladimir und Olga Kaminer, Küche totalitär. Das Kochbuch des Sozialismus. Darin: Belarus / Weißrussland.
  • Paul Kohl, Schöne Grüße aus Minsk.
  • Anatoly N. Tkachuk, Ich war im Sarkophag von Tschernobyl. Der Bericht des Überlebenden.
  • Julia Wosnessenskaja, Der Stern Tschernobyl. Schicksal einer Familie. Ein fast dokumentarischer Roman.

Am 31.03.2008 ins Netz gestellt. Letzte Bearbeitung am 12.01.2017.

Das unterschiedliche Schreiben von Eigennamen ist den unterschiedlichen Schreibweisen der Verlage geschuldet.

 

Alle kannst du belügen, nur deinen Magen nicht.
Sprichwort der Belorussen

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