Der Berliner Galiani Verlag - 2009 gegründet - versteht sich
als "Verlag, bei dem Entdeckungen zu machen sind. Egal, aus
welchem Jahrhundert, egal in welchem `Genre´." Diesmal ist
dies die vierbändige Werkausgabe, die uns den
russischen Autor Daniil Charms (1905 bis 1942) als satirisch-grotesken Meister nahebringt.
"Sein närrisches Gelächter", so der Verlag, "ist von seinen
existentiellen Nöten nicht zu trennen. Von seiner Kunst zu
reden, heißt immer auch, seine Person mit zu bedenken."
Dass wir uns des Buches von Marina Durnowo (1909 bis 2003) -
der zweiten Ehefrau von Daniil Charms - erfreuen
können, verdanken wir der Hartnäckigkeit Vladimir Glozers,
der als Literaturhistoriker über vierzig Jahre lang Leben
und Werk Daniil Charms studiert hat. Durch eine Freundin
Marina Durnowos und durch Jelisaweta Tobilewitsch, der Schwester von
Charms, wusste Glozer, dass es Charms´ zweite Ehefrau nach Venezuela
verschlagen hat - nachdem sie aus der belagerten Stadt
Leningrad mit einem letzten Transport evakuiert worden war,
dann in eine von der deutschen Wehrmacht okkupierte Zone geriet, nach Deutschland verbracht und als Zwangsarbeiterin in
einem deutschen Haushalt arbeiten musste. Aber wie sie in an
der Karibik auftreiben und: Lebte sie
noch? Die venezolanischen Botschaftsangehörigen bemühten
sich vergeblich, ihre Adresse herauszufinden.
"Ich hatte meinen Plan, Charms´ Frau zu finden", schreibt
Glozer in seinem Vorwort, "schon so gut wie aufgegeben". Eines Tages verkündete der russische Künstler Leonid Tischkow,
mit dem Glozer mehrere Bücher gemacht hatte, darunter zwei
Charms-Ausgaben, dass er in Caracas eine Einzelausstellung
haben werde. "Und", so Glozer, "das
Unglaubliche geschah. Als Tischkow bereits wieder in
Moskau
war, machte seine venezolanische Bekannte doch noch die da
schon siebenundachtzigjährige Marina Durnowo ausfindig." 1996
flog Vladimir Glozer nach Venezuela und klingelte
nach zwanzigstündiger Reise spätabends an Marina Durnowos
Wohnungstür. "Vor mir stand eine feine kleine Frau mit
hellblauen Augen, sehr lebendig und beweglich, die wie ein
kleines Mädchen durch ihre geräumige Wohnung lief, ja
geradezu hüpfte. Edle Gesichtszüge und erlesene Manieren
verrieten die aristokratische Abstammung." Marina Durnowos Mädchenname Malitsch stammt aus dem Serbischen, es
ist der Name ihrer Großmutter; der Großvater war Fürst
Golizyn. Die Golizyns sind ein bedeutendes, altes russisches Fürstengeschlecht
litauischer Abkunft mit dem Fürsten
Gediminas aus dem14. Jahrhundert als Ahnherrn. "Die Golizyns", erzählt
Marina Durnowo ihrem Gesprächspartner Glozer, "waren nicht
sehr reich, ein eigenes Haus besaßen sie nicht." Bald nach
1917 wird der fürstliche Großvater verhaftet und später vom
Petersburger Gefängnis nach Moskau, zur Tscheka, verbracht.
Da machte sich Marinas Großmutter
auf nach Moskau, um die Freilassung ihres Mannes zu
erwirken. Zu diesem Zweck stand sie "Schlange bei
Gorkis
Frau [Jekaterina Peschkowa],die Vorsitzende vom Roten Kreuz war. Dort stand sie eine
Nacht und einen Tag, und am Ende stand sie bei ihr im
Arbeitszimmer. Großmutter fiel auf die Knie und bat für
ihren Mann. - Gorkis Frau sagte zu ihr: `Stehen Sie auf. Ich
werde tun, was in meiner Macht steht.´ Und Großmutter kehrte zurück mit Großvater an
ihrer Seite." Da
war Marina Malitsch zwölf Jahre alt. Fünfzehn Jahre später wurde ihre Großmutter verhaftet. Nun machte sich Marina auf
den Weg nach Moskau - auch zu Gorkis Ehefrau, die noch
immer Vorsitzende vom Roten Kreuz war. Nach einem Blick in die Papiere, die Marina mitgebracht
hatte, fragte Jekaterina Peschkowa: "´Ist das etwa dieselbe
Fürstin Golizyna, die vor fünfzehn Jahren hier bei mir war?´
und als ich bejahte, murmelte sie vor sich hin, daß
es eine Schändlichkeit sei, eine so alte Frau abzuholen." Und
dann habe sie versprochen: "Man wird Ihnen sagen, wo Ihre
Großmutter gerade ist... Ich sehe zu, daß ich Ihnen helfen
kann." - "Und ich nahm Großmutter mit nach Hause."
Daniil Charms, der mit bürgerlichem Namen Daniil
Iwanowitsch Juwatschow hieß, hatte Marina Malitsch als junge
Frau von zweiundzwanzig Jahren kennengelernt. Stunde um
Stunde, schreibt Vladimir Glozer, habe er an Marina Durnowos
Lippen gehangen - in dem Wissen, "daß die letzte lebende
Zeugin aus Daniil Charms Leben zu mir sprach". Daniil Charms
- eventuell abgeleitet von dem englischen "charm"
= Zauber, Reiz, bezaubern, entzücken, reizen -
gehört zu den Künstlern, deren Werk sich ohne Kenntnis des Lebensweges und des
zeitgeschichtlichen Hindergrundes nicht erschließen lässt!
Charms erlebte
als Dreizehnjähriger die
Oktoberrevolution, die seine gutsituierte Familie von heute
auf morgen mittellos machte. Nach Abschluss der Schule
schloss er sich der Petersburger Avantgarde-Szene an, führte
ein Bohéme-Leben - in bitterer Armut, aber immer
spektakulär. Er lief herum wie Sherlok Holmes, schnitt
Grimassen, trug einen Schnuller um den Hals; seine
virtuosen, von Zauberkunststückchen begleiteten
Lyrik-Rezitationen waren bald in aller Munde. Zu Lebzeiten
erschienen von ihm nur zwei Erwachsenen-Gedichte, ansonsten
hielt er sich - mehr schlecht als recht - mit den Honoraren
für seine Kinder-Gedichte und Kinder-Geschichten über Wasser.
Er wurde zweimal verhaftet und starb mit siebenunddreißig
Jahren im Gefängnis.
Bis jetzt gab es in Deutschland Daniil Charms´ Texte
nur verstreut in verschiedenen Ausgaben und Verlagen, in
meiner Webseite sind vorgestellt:
"Briefe aus Petersburg 1933"
(Friedenauer Presse, 1988);
"Zwischenfälle"
(Luchterhand
Literaturverlag, 2003);
"Fälle"
(Kein & Aber Records, 2003);
"Seltsame Seiten"
(Berlin Verlag, 2009). Jetzt nun ist die vierbändige Werkausgabe vom
Berliner Galiani Verlag auf dem
Markt und von Marina Durnowo (geborene Malitsch), das
spannend-sympathische Buch Mein Leben mit Daniil Charms,
in dem die Gefährtin seiner kompliziertesten Lebensjahre
über ihn, über sich und ihre turbulenten Ehejahre erzählt.
Nun wissen wir endlich mehr, viel mehr über des Dichters
Lebensweg (doch warum 2010 die Erinnerungen Durnowos in der alten Schreibweise, so als
hätte es in Deutschland die letzte Rechtschreibreform nie
gegeben?):
Die „Chronologische Tafel zu Charms´
Leben“ (schwarz / kursiv) entnahm ich dem 1. Band der Werkausgabe,
S. 265-269;
der rote Text sind Angaben aus Marina Durnowos Buch, die
ich den Lebensdaten jeweils zugeordnet habe. In eckigen
Klammern stehen außerdem Informationen
aus dem umfänglichen Werk von Gudrun Lehmann
"Fallen und Verschwinden.
Daniil Charms - Leben und Werk", diesem außerordentlich gut recherchierten, sehr umfangreichen Buch
widme ich außerdem eine separate Rezension.
Marina Durnowo hat ihren Mann Daniil Charms
um sechs Jahrzehnte überlebt. Als sehr positiv ist
mir aufgefallen, dass sie an
vielen Stellen des Biografie-Buches von Viktor Glozer sagt, dass sie sich nicht mehr
erinnern könne... dass ihr das eine oder andere entfallen
sei... Um so glaubwürdiger ist, was sie nach so vielen
Jahrzehnten erinnert...
Zum Beispiel erzählt sie, dass ihr Danja (so nennt sie
Daniil Charms) sie einmal
mitten in der Nacht geweckt habe, um mit ihr den Ofen rosa
anzustreichen. Hätte eine andere Frau wegen einer solchen
Zumutung die Scheidung eingereicht, so hielten
sich diese beiden "die Bäuche vor Lachen". Oder: Daniil Charms habe einmal von dem wenigen Geld, das ihnen zur
Verfügung stand, Konzertkarten zusammengespart - für Bachs
"Matthäuspassion"; denn er habe Musik über alles geliebt.
"Danja hat mich vorbereitet, mir alles erklärt, ich war ganz
Ohr. (...) Es war etwas Unerhörtes. Schauer rieselten mir
über den Rücken. Die Leute saßen da mit gefalteten Händen,
zusammengekrümmt, weinend. Auch ich mußte mir die Tränen
abwischen." Die Aufführung des Stücks "über das Sterben
Christi" war in der Sowjetunion lange Zeit verboten.
In den dreißiger Jahren wurde es nur ein einziges Mal, zu
Ostern, aufgeführt. Danja sei, schreibt Marina Durnowo,
"tief gläubig gewesen". Oder: Marina hat Charms
Tagebuch erst nach seinem Tod gelesen. Zwar habe er es nie
versteckt, aber sie hätte nicht darin lesen können, ohne das
Gefühl zu haben, wie ein Wurm in das Leben eines anderen
Menschen hineinzukriechen. "Lese ich jetzt in diesem
Tagebuch (...), dann sehe ich, wie kindlich doch vieles
darin ausgedrückt ist. Ja, in Danja steckte dieses Kind..."
Konnte er sich deshalb so in die Kinderseelen hineinfinden,
dass die Kleinen von seinen Gedichten und Geschichten nicht
genug bekommen konnten? Oder: "Wir hatten
viele jüdische Freunde. Danja vor allem. Sein Verhältnis zu
Juden war von besonderer Herzlichkeit geprägt. Und sie
suchten seine Nähe." Warme Worte findet Marina über die
Schwarzens, Natascha und Anton, die immer bereit waren,
ihnen zu helfen. "Jederzeit." Die Schwarzens haben Marina
und Daniil häufig eingeladen. "Anscheinend bekamen sie mit,
daß wir hungerten, und gaben sich Mühe, uns aufzupäppeln und
ein bißchen aufzuwärmen. Und daß wir mit Freuden zulangten,
war ihnen recht. Ich spürte (nicht, daß es zu sehen gewesen
wäre, sie zeigten es nicht offen), man war bereit, uns zu
helfen. (...) "Es kam auch vor, daß die Schwarzens uns
Geld borgten. Als Danja einmal eine dieser Schulden beglich,
improvisierte er dazu das folgende: Hundert Rubel auf die
Hand / und mit Dank zurück. / Von der Hoffnung, EUCH zu sehn
/ bin ich hin und weg."//
Oder: Eines Nachts hatte sich Charms in den Kopf gesetzt,
auf Rattenjagd zu gehen. Dazu zogen er und Marina das Schäbigste an, was sie hatten und "jagten Ratten, die
es nicht gab". Diese und viel viel mehr bezaubernd-einprägsame
Einzelheiten über Daniil Charms hat Vladimir Glozer seiner
Zeitzeugin Marina Durnowo entlockt...
Marina Durnowo verstarb 2003, Vladimir Glozer 2009 - da ist
es leicht für diverse "OBERIUten-Fachleute", die Biographie
als frei erfunden zu bezeichnen. Dabei müssten sich die
Aufzeichnungen doch nachweisen lassen, die Glozer - "der Technik
mißtrauend - sicherheitshalber auf zwei Tonbandgeräten"
mitgeschnitten hat!!! Auch Gudrun Lehman formuliert, wenn
auch sehr vorsichtig, ihr Misstrauen, indem sie schreibt: "...aufgrund
der zeitlichen Distanz und der gelenkten Gesprächsführung"
sei die Biographie "eine
nur bedingt zuverlässige Quelle"; dennoch zitiert
Gudrun Lehmann Marina Malitsch / Durnowo an zwölf Stellen ihres
Buches - der ersten Gesamtdarstellung (weltweit?) zum Leben und Werk Daniil Charms.
Einige Rezensenten greifen die Gedanken des
Nachwortschreibers Alexander Nitzberg auf,
dass ein Wunder geschehen sei, da der Musikwissenschaftler
und Philosoph Jakow
Druskin (1902 bis 1980) die im September 1941 halbzerbombte Wohnung der Juwatschows aufgesucht
habe, um gemeinsam mit Marina Malitsch die Texte des im Leningrader Gefängniskrankenhaus
gestorbenen Charms´ zu retten.
Ich halte dies nicht so sehr
für ein Wunder, sondern vielmehr für einen echten
Freundesdienst!
Verstaut in einem Koffer, harrten die geretteten (meist
handschriftlichen) Werke Charms dann jahrzehntelang der
Veröffentlichung. Das umfangreiche Material, schreibt
der Mitherausgeber und Übersetzer Nitzberg in einem Nachwort zur Werkausgabe, sei in einem vollkommen labyrinthischen Zustand
gewesen,
ungeordnet und unübersichtlich; ich kann mir lebhaft
vorstellen, was allein dieses "Sortieren" an Arbeit für
einen Herausgeber bedeutet; gelegentlich sei in Charms,
obwohl er an eine Veröffentlichung schon nicht mehr glaubte,
"der literarische Ehrgeiz und Ordnungswille erwacht, so
dass er einzelne Texte zu kleinen Zyklen gewissermaßen in
Reinschrift zusammenstellte (wie etwa die berühmten
`Vorfälle´"). Erstaunlicherweise waren bei Charms´ Verhaftung
1931 nur fünf seiner rund vierzig Notizbücher
bei der Haussuchung 1941 beschlagnahmt worden,
offenbar weil die Beamten die Kritzeleien Charms´ für die
eines Geistesgestörten gehalten hatten; denn "es war eine
Überlebensstrategie von Charms gewesen, den Behörden
gegenüber Schizophrenie vorzutäuschen". Der erste russische Versuch, das Werk
Charms als
Ganzes zu publizieren, scheiterte 1978 auf Grund von
staatlichen Repressalien. Der zweite - gelungene - Versuch
einer Gesamtedition erfolgte durch Waleri Saschin nach dem
Zerfall der Sowjetunion von 1997 bis 2002. Seit 2011 liegt nun
endlich auch eine deutschsprachige vierbändige Werkausgabe
vor - mit Prosa, Gedichten, Theaterstücken und
Autobiographischem (Briefe, Notizen, Tagebucheintragungen,
Traktaten). Der Mitherausgeber Alexander Nitzberg hat in dieser Werkausgabe - im
Gegensatz zu den meisten Herausgebern der Charms´schen Werke
zwischen den einzelnen Genres - "so gut es nur ging" -
unterschieden und auf die vier Bände verteilt. Die
Konzeption und die Auswahl lagen zunächst in den Händen von
Vladimir Glozer, "einem subtilen Kenner der Charms´schen
Texte". Nach Glozers Tod im April 2009 setzte
Alexander Nitzberg die Arbeit
fort. Glozers Beziehung zu Charms´ Werk sei
trotz seiner literaturwissenschaftlichen Tätigkeit, weniger
akademisch als vielmehr persönlich gewesen, meint Nitzberg. "Sein Wissen
über die Oberiuten stammt nicht aus Büchern, sondern aus
direktem Kontakt mit deren ehemaligen Freunden und Kollegen.
Jahrelang war er Privatsekretär der Kinderbuchautoren Samuil
Marschak und Kornej Tschukowski, die beide Anfang der 1930er
Jahre in den Redaktionen der (Kinder) Zeitschriften `Igel´ und
`Zeisig´ mit Charms zusammengearbeitet hatten. Er betätigte
sich als Rezitator und nahm Kinderverse von Charms auf
Schallplatten auf."
Der erste Band
enthält Charms´ wichtigste Erzählungen
und seinen einzigen Roman. Als Charms mit etwa
achtzehn Jahren seine literarische Tätigkeit begonnen hatte,
habe er sich zunächst als Lyriker gesehen, schreibt
Alexander Nitzberg
im Nachwort seines Prosa-Bandes. Seit 1928 dann, da ist
Charms dreiundzwanzig Jahre alt, habe er angefangen Texte zu
schreiben, auf welche die Bezeichnung "Prosa" zutreffe. Pate
für Charms´ Erzählweise, meint der in
Moskau geborene und
heute in Wien lebende Nitzberg, ständen zum Beispiel
Nikolai Gogol "mit
seinen grellen Beschreibungen,
Fjodor Dostojewski mit seinen
Psychogrammen der Personen und vor allem Knut Hamsun mit
seiner latenten trockenen Ironie und der Vorliebe für
absurde Konstellationen". Inzwischen bin ich - durch
beharrliches Charms-Lesen - gegenüber dem Menschen und
Künstler Charms ehrlich aufgeschlossen und weiß, dass ich
mich nicht für bekloppt halten muss, wenn ich auch
fürderhin viele von Charms´ Texten nicht verstehe, zum
Beispiel diesen (S. 69): Möchten Sie, dass
ich Ihnen eine Geschichte über diesen Kikrukiki erzähle? Das
heißt, nicht Kikrukiki, sondern Kirikuki. Oder nein, nicht
Kirikuki, sondern Krikikiku. Puh! Nicht Krikrikiku, sondern
Kukerukiki. Nein, nicht Kukerukiki, sondern Kerikriukiki.
Nein, wieder falsch! Krikrikruku? Nein, nicht Krikrikruku!
Kirikurkiki? Nein, wieder falsch! - Ich hab vergessen, wie
dieser Vogel heißt. Und wenn ich es nicht vergessen hätte,
dann würde ich Ihnen eine Geschichte erzählen. Über diesen
Kikerikikrukukiki. // 1934-1935 //.
Gelesen, ist es wohl einer von Charms Nonsens-
(Unsinn-)Versen. Aber man stelle sich diesen "Hähnchen"-Text
einmal mündlich vorgetragen auf einer entsprechend
ausgestatteten Bühne vor? Charms soll ein Könner im
Rezitieren gewesen sein... Vielleicht auch noch
verkleidet? Auch darin war Charms ein Könner. Mich
jedenfalls lässt dieser Zungenbrecher an Loriot / Hamanns
Zungenbrecher "Die Englische Ansage" denken.
Ihn interessiere nur Quatsch, nur das, was gar
keinen praktischen Sinn macht, soll Charms 1937 in sein
Tagebuch geschrieben haben. Vielleicht steht in seinem
Tagebuch russisch
вздор,
was man sowohl mit "Quatsch" als auch mit "Unsinn"
übersetzen kann. Und Unsinn, finde ich, ist etwas anderes
als Quatsch... -
Der kürzeste Text des ersten Bandes (auf S. 196) ist "Aus
dem himmelblauen Heft" eine
einzige Zeile lang und lautet: Heute habe ich nichts
geschrieben. Das hat nichts zu sagen. // 9. Januar 1937 //
Und weiter über das tägliche Schreiben im "Himmelblauen
Heft" (S. 199): "Schluss mit Müßiggang und
Untätigkeit! Schlag jeden Tag dieses Heft auf und schreib
nicht weniger als eine halbe Seite hinein. Wenn es nichts zu
schreiben gibt, dann schreib wenigstens,
Gogols Rat gemäß,
dass es mit dem Schreiben heute nicht geht. Schreibe immer
mit Interesse und betrachte das Schreiben als Fest. // - Der
längste Text dieses Bandes ist "Die Alte". Ein Roman?
Eher doch eine längere Geschichte über eine tote alte Frau,
die zum Schluss samt Koffer geklaut wird... Interessant,
dass Charms seinem Text Zeilen von Knut Hamsun voranstellt
und: wie er in "Die Alte" gegen Kinder vom Leder zieht.
(Siehe die Rezension zu Charms´ "Seltsame Seiten".) - Die Übersetzungen von Beate Rausch werden von dem Lyriker,
Librettisten, freien Schriftsteller, Publizisten,
Übersetzer, Nachdichter, Rezitator Alexander Nitzberg - zu
Recht, wie ich finde - sehr gelobt. Ihr Ton sei, so
schreibt er, markig und hart zupackend, Charms´ Texte würden
auch davon profitieren, dass Beate Rausch seit Jahren in
St.Petersburg lebt - in einem geografischen und sprachlichen
Umfeld also, wo die Charms´schen Texte selbst ihren Ursprung
finden. "Solch eine Nähe zum russischen Alltag ermöglicht es
ihr, gewisse Feinheiten jenes Jargons zu verstehen, den der
Dichter durchgehend benutzt: Denn seine Erzählungen bewegen
sich permanent im allgemeinen Leningrader Slang. Und wie
immer bei der Idiomatik, wird zwischen den Wörtern
mehr gesagt als mit den Wörtern. So kommt es, dass ihre
Übersetzungen viele `dunkle Passagen´ der älteren lichten,
manches zum ersten Mal richtigstellen. Nitzberg
nennt zahlreiche Beispiele dafür, wie Missverständnisse bzw.
falsche oder ungeschickte Übersetzungen von Buch zu Buch und
von Übersetzer zu Übersetzer weitergegeben worden sind. Ein
(ausführliches) besonders kurioses Beispiel sei hier
zitiert: "In den `Anekdoten aus dem Leben
Puschkins´ sagt Schukowski zum Letzteren auf Russisch: `Da nikako ty
pisaka!´ Dieser gereimte und ulkige Satz, der die
altertümliche Sprache auf die Schippe nimmt und
unterschwellig sogar mit fäkalen Anklängen spielt, drückt
eindeutig ironisches Staunen und Bewunderung für den
dichtenden Kollegen aus, wie etwa: `Aha! Du bist also von
der schreibenden Zunft!´ Dieses antikisierende `nikako´
bereitete indes allen bisherigen Übersetzern Schwierigkeiten
und wurde stets irrtümlich als Negation aufgefasst.
So schreibt Tschörtner: `Du bist ja überhaupt kein
Schreiber!´, was den Sinn des Satzes komplett verdreht!
Ebenso Kay Borowsky in den `Fällen´ (Stuttgart, 1995): "Aber
du bist doch kein Schreiber!´ So bleibt das Ende der
Anekdote kryptisch: Bei Tschörtner heißt es: `Da schloß
Puschkin Shukowski ins Herz und nannte ihn freundschaftlich
nur noch Shukowoi.´ Abgesehen davon, dass bei Charms von `Shukowoi´
keine Rede ist (er nennt ihn `Žukov´),
ist unklar, warum der so gern schreibende
Puschkin sich
darüber freuen soll, dass er auf einmal kein
Schreiber ist. Tschörtner erblickt darin eine Art
unübersetzbares Wortspiel und versucht das Problem durch
eine Fußnote zu dem von ihr erfundenen Namen `Shukowoi´ zu
lösen: `svw.: der Käferartige´. Obwohl `žuk´
tatsächlich `Käfer´ heißt, existiert das Wort `Shukowoi´ im
Russischen nicht und bedeutet auch nicht `der Käferartige´
(dazu müsste es `žukoobraznyj´
oder ´žukopodobnyj´
heißen.) Aber selbst wenn es stimmen würde, bliebe der
Zusammenhang schleierhaft. Borowsky schreibt: `Da gewann
Puschkin Shukowskij lieb und nannte ihn von nun an
freundschaftlich einfach `Shuk´ und belässt die Passage
unkommentiert. Urban übersetzt wie immer wortwörtlich: "Da
gewann Puškin
Žukovskij sehr lieb und
nannte ihn von nun an freundschaftlich
Žukov´, und auch hier
bleibt das Ende vollkommen offen. Die Lesart, die er in der
Endnote vorschlägt, ist allerdings noch um einiges
abstruser: `Žukov
- žuk: der Käfer; ob
Charms hiermit Figuren der Zeitgeschichte, z. B. G. K.
Žukov, 1896 bis 1974,
Militär, Marschall ab 1943, im Auge hatte, ist ungeklärt.
Žukov war
Befehlshabender der Truppe des Bezirks Leningrad´... Lesen
wir dagegen die neue Übersetzung von Beate Rausch, entfällt
die Notwendigkeit einer Anmerkung, denn die Situation klärt
sich von selbst: `Puschkin war Dichter und schrieb immerzu
irgendwas. Einmal traf ihn Schukowski beim Schreiben an und
rief laut aus: `Potz Blitz, ein richtiger Dichtiger!´
Seitdem mochte Puschkin Schukowski sehr gern und nannte ihn
freundschaftlich einfach Schuki.´ Nicht nur trifft sie
[Beate Rausch] als Einzige den
Sinn, sondern sie übernimmt auch noch die verspielte Ironie und
den Reim des Originals. Auch in anderen Texten gehört es zu
den Vorzügen der neuen Übersetzung, dass es ihr gelingt, die
stilistischen Eigenheiten weit genauer wiederzugeben, als es
die früheren tun." Zu ergänzen wäre noch, dass in einer der
absichtlich wenigen Anmerkungen von Nitzberg erklärt wird, dass es sich
bei Schukowski um Wassili Schukowski (1783 bis 1852) handelt,
einem russischen Dichter, Übersetzer und Erzieher des
Thronfolgers Alexander I., der als Begründer der russischen
Romantik gilt und als kongenialer Übersetzer deutscher
Klassiker; Schukowski war mit Puschkin eng befreundet und
verwaltete dessen Nachlass.
Unbehaglich ist mir allerdings, in
welchem Ton der renommierte Herausgeber, Übersetzer, Nachdichter
Alexander Nitzberg mit dem renommierten
Herausgeber, Übersetzer, Nachdichter
Peter Urban umspringt.
Zwar hat Nitzberg Recht mit seinen angeführten Beispielen,
aber ein kollegial-freundschaftliches Verweisen auf Fehlerhaftes
hätte mir mehr zugesagt... Deshalb hiermit ein freundlicher
Hinweis an Nitzberg von mir: Im Band 1, S. 116 / 117
mutiert in der Geschichte "Geburtstagsmarsch" Chrytschow zu
Chruschtschow. Statt charms´scher Absicht - das Gedicht
entstand am 2. August 1938 - scheint mir hier eher der
vermaledeite Tippfehler-Teufel seine Hufe im Spiel zu haben...
Und warum werden bei der Übertragung der Texte von Nitzberg mal die
russischen Namen des Originals beibehalten und mal nicht?
Nur des Reimes wegen? Bei einem Charms´schen Gedicht von
1929 finde ich es geradezu sträflich, den Namen Anne zu
gebrauchen, nur weil er sich auf Tanne reimt...; denn da heißt es:
liebe Patentante Anne / wo ist unsre Weihnachtstanne / und
ihr Stiefel wo ist der / tja der nutzte wohl nicht sehr //;
denn die Patentante von Charms ist seine Tante
Natalja (Natascha) Koljubakina und im russischen Original steht da dann
auch nicht zufällig "Natascha" und nicht "Anne".
Der zweite Band
enthält über zweihundert Gedichte,
geordnet nach: Frühe Gedichte / Gemischte Gedichte / An oder
über Freunde / Kindergedichte / Reklamegedichte /
Agitprop-Gedichte / Kurz- und Kürzestgedichte /
Naturgedichte / Verliebte Gedichte / Erotische Gedichte /
Balladen und Moritaten / Philosophische Gedichte / Gebete
und Meditationen / Von Greisen und Weltuntergängen /
Verzweifelte Gedichte. Darüber hinaus, schreibt Nitzberg, ergaben sich zahlreiche Fragen: "Welche der
erhaltenen Werke dürfen mit vollem Recht als poetische
Produktionen gelten (und nicht etwa als Dialoge, Traktate
etc.)? Sind sie fertig oder nur Skizzen? Hat der Autor sie
akzeptiert oder verworfen?" Daniil Charms, schreibt Nitzberg
in seinem Nachwort zum zweiten Band, sei kein Schreibtischautor,
allem Akademischen
und "rein Literarischen" bringe er bestenfalls Spott
entgegen. "Er ist von Kopf bis Fuß ein Artist und liebt
allein das Außergewöhnliche. Er zeichnet, musiziert, singt,
steppt, betätigt sich als Akrobat, Chansonnier,
Schauspieler, Jongleur und Zauberer. Er verkleidet sich,
spielt Schach und Billard, beschäftigt sich mit okkulten
Lehren, konsumiert Äther, gibt sich sexuellen
Ausschweifungen hin und entwirft absonderliche Maschinen."
Auch sein Umgang mit Sprache habe alle Kennzeichen solcher
Exzentrik, und die Verse seien nicht dazu bestimmt, ihr
Dasein im Bücherstaub der Universitätsbibliotheken zu
fristen - "erst im lebendigen Vortrag und im Gestus erwachsen
sie zum wirklichen Leben".
Wohl wahr!!!
Bisher wurde in Deutschland von Daniil Charms gerade mal das
Marionettenstück "Zirkus Schardam" des Öfteren aufgeführt,
und hier und da wurden in kleinem illustrem Kreis seine
Texte aufgesagt. Seitdem beim Galiani Verlag der letzte Band
der vierbändigen deutschsprachigen Werkausgabe mit den zum
Teil neu übersetzten Texten von Beate Rausch und Alexander
Nitzberg erschienen ist, war ich in Berlin ganz kurz
hintereinander zu zwei ganz groß(artig)en Veranstaltungen,
Charms betreffend: Die eine ging im ausverkauften großen
Saal des Berliner Festspielhauses über die Bühne und war ein
Gastspiel des Wiener Burgtheaters, die andere fand in der
ebenfalls ausverkauften Volksbühne statt. Die Wiener
Aufführung "Zwischenfälle ist eine Szenenfolge nach Texten
der französischen Autoren Georges Courteline und Cami sowie
dem Russen Charms; Regie führte Andrea Breth, die ihre zehn
Darsteller in beinahe neunzig Rollen dreißig Szenen formen
ließ - zu einem Panorama der seltsamsten "Zwischenfälle".
Das Publikum dankte mit vielen herzerfrischenden Lachern und
geizte auch nicht mit Szenenapplaus. Ich war hingerissen
(was so oft nun auch wieder nicht vorkommt...).- Im Grossen
Haus Am-Rosa-Luxemburg-Platz fand unter dem Titel "CHARMS
JETZT!" ein Showcase mit drei Slampoeten, vier Schauspielern
und zwei Moderatoren statt. Charms stimme immer, meint die
Volksbühne, und ist trotzdem jetzt dran! "Jetzt gehen die
Schauspieler die Gelegenheit an, Charms-Texte in den Körper
und über die Lippen zu bringen, und die Poeten nehmen die
Gelegenheit wahr, dem Jahrhundertgenie Charms zu huldigen,
indem sie sein Leben in ihrem Slang verdichten und zum
Vortrag bringen. Charms gilt als Klassiker des existentiell
Absurden, Meister des Paradoxen und Genie des komischen
kosmischen Leerlaufs. (...) In virtuoser Sinnverdichtung
werden die Figuren Charms auf brutalstkomische Weise
gedemütigt und verstümmelt, sie stolpern durch die Idiotie
des Alltags, fallen oder lösen sich bis hin zum völligen
Verschwinden auf. Auch das Werkzeug der Sprache selbst
verliert auf unnachahmlich groteske Weise ihren Sinn. Ein
Fest für alle, die den Nonsens und den Abgrund lieben", so
steht´s im Programmzettel. Obwohl ich eigentlich für Nonsens
gar nicht zu haben bin, war die mehr gespielte als gelesene
Textrevue in der Volksbühne ein wunderbarer russischer
Abend; in der Pause gab´s einen (kitzekleinen)
Wodka und ein Scheibchen süßsaure Gurke, russisch eingelegt.
Noch ist Charms in
Deutschland ein Autor für einen kleinen
Kenner-Kreis, der sichtbar größer wird. In der
Süddeutschen Zeitung war zu
lesen, dass derjenige, der zwei Hosen, besitze, eine
verkaufen solle, um sich für diese Summe die vier Bände vom Galiani-Verlag zu kaufen. Ein guter Tipp, denn diese
Werkausgabe ist wahrhaftig eine
liebevoll ausgestattete Edition mit Zeichnungen
von Charms und vielen neu übersetzten Texten auf
Papier. Das Ziel der Ausgabe, schreibt Nitzberg, sei es
nicht, Charm´s Gedichte "nachzuerzählen", sondern sie für
sich selbst sprechen zu lassen, sie goutierbar
zu machen. "Nicht mit
Hilfe von Kommentaren und Verweisen auf Sekundärquellen
sollen die Verse vorgestellt werden (wieder ein Dolchhieb
gegen Peter Urban), sondern unmittelbar - durch
die Kunst der Übertragung. Hier zum Vergleichen
die jeweilige Fassung von Urban und Nitzberg.
Kleines Lied (Übersetzung: Peter Urban)
Liedchen (Übersetzung: Alexander Nitzberg)
Einst ging ein Mensch aus seinem Haus
Ein Mann mit Säckchen und mit Stock
in Mantel, Stock und Hut.
trat einmal aus dem Haus
Lang ist der Weg
und in die Wolt,
lang ist der Weg
und in die Wult,
der vor ihm auf sich tut.
und in die Welt hinaus.
Er ging und schritt geradeaus
Er schaute nur geradeaus,
und schaute nicht beiseit.
geradeaus er lief,
Nicht schlief nicht trank,
wobei er
nicht trank nicht schlief
weder trank noch aß
er gestern, morgen, heut.
noch aß noch trank noch schlief.
Und eines Tags im Morgengraun
Bis er sich eines Morgens früh
stand er im dunklen Wald,
im dunklen Wald befand,
und seit der Zeit,
worauf er dinn,
und seit der Zeit
worauf er donn,
er für verschwunden galt. worauf er dann verschwand.
Begegnet ihr ihm irgendwann
Und trifft ihn einer unter euch
an irgendeiner Stell,
so rein eventuell,
dann sagt es uns
dann sagt es ins,
dann sagt es uns,
dann sagt es ans,
dann sagt es uns ganz schnell.
dann sagt es uns ganz schnell. Dieses Gedicht von
Daniil Charms erschien im März 1937 in der
Kinderzeitschrift "Zeisig", weshalb es Nitzberg
(verständlich, wie ich finde) bewusst als
Kindergedicht übertragen hat! Urban hingegen, stellt
Nitzberg fest, stelle das Kindliche des Gedichts
ungerechtfertigt in Frage... Hm. Aber darf man bei
der Übersetzung so weit gehen, dass man zum Beispiel
"dinn und donn und dann" dazu erfindet?
Im dritten Band
sind Dramen und Szenen
veröffentlicht. - Gegen Ende des Jahres 1926 war im
Umfeld des Leningrader Instituts für Kunstwissenschaft eine
studentische Gruppe namens Radix entstanden, "die sich in allen
erdenklichen Formen des Theaters übte" (Nitzberg). Einer der
Gründer der Radix-Gruppe war der Charms-Freund Igor
Bachterew (1908 bis 1996), Lyriker, Prosaschriftsteller,
Dramatiker und Künstler. Radix experimentierte insbesondere
mit dem sogenannten Akzentvers. "Der Parodie und der
Verfremdung", schreibt Alexander Nitzberg im Nachwort zum
vierten Band, sei eine wichtige Rolle zugefallen. Nach
zahlreichen intensiven Proben habe sich die Gruppe
allerdings aufgelöst und auch das von Alexander Wwedenskij und Daniil Charms für Radix geschriebene Stück
"Meine Mutter ganz in Uhren" sei verloren gegangen. Im
November 1927 bildete sich dann die Gruppe OBERIU
(Vereinigung für reale Kunst); das U haben die Gründer der
Gruppe (aus Ulk) einfach angehängt - als Parodie auf alle "ismen".
Die OBERIU übernahm auf dem Gebiet der Dramaturgie "im
Großen und Ganzen die Positionen von Radix und hielt sie in
ihrer Deklaration fest. Vorbild für die OBERIUten war u.
a. die russische Folklore mit ihren Gauklern. Anfang 1928
erfolgte eine große Präsentation der OBERIUten, die als
"Drei linke Stunden" in die
Literatur-Theater-Film-Geschichte eingegangen ist. Der erste
Teil der drei Stunden war der Lyrik vorbehalten, der zweite
Teil der Theaterarbeit, der dritte der Filmkunst. Daniil
Charms steuerte das Stück "Jelisaweta Bam" bei, das unter
seiner Regie aufgeführt wurde. Im dritten Band der
Werkausgabe ist "Jelisaweta Bam" der längste Text. Er
beginnt damit, dass zwei verschiedene Stimmen hinter der Tür
Jelisaweta Bam sehr energisch auffordern, die Tür zu öffnen.
Jelisaweta Bam fürchtet sich, hat Angst, dass "die"
reinkommen, dass "die" sie töten. Sie denkt an Flucht. Doch
sie könnte "die" auf der Treppe treffen... Ich denke sofort
an "die" vom russischen Geheimdienst NKWD. Wollen "die" sie
abholen? Doch 1928? Das waren ja noch nicht die dreißiger
Schreckensjahre... Nitzberg gibt in seinem Nachwort darauf
keine Antwort. Eine Antwort finde ich in Gudrun Lehmanns
Werk "Fallen und Verschwinden. Daniil
Charms - Leben und Werk". Der Auslöser für das Stück,
schreibt die Autorin, könnte die 1927 erfolgte Festnahme des Radiks-Redakteurs Georgi ("Gaga") Kacman
(Katzman 1908 bis 1985), eines Freundes von Charms, gewesen sein. "Charms
hält Datum und Uhrzeit ausdrücklich fest: `Sonnabend. 16.
Apr. Um zwei Uhr mittags Verhaftung von Gaga K.´"
An dieser
Stelle sei schon einmal darauf hingewiesen, dass beide Verlagsunternehmen
schwer zu vergleichen sind. Wird bei der Werkausgabe des
Berliner Geliani Verlages der meiste Platz dem Werk Charms´
eingeräumt, und je Band jeweils in einem fundierten Nachwort interpretiert, so hat im
Verlagsunternehmen des Wuppertaler Arco Verlages die
Interpretation Priorität und das Werk Charms´ wird meist
nur auszugsweise zitiert. Ideal wäre sicherlich gewesen,
wenn die sechs Bücher in einem Verlag erschienen wären. Der
geneigte Leser hätte sich dann nicht noch zusätzlich mit der
wissenschaftlichen Transkription herumschlagen müssen...
Charms teilt sein Stück "Jelisaweta Bam in neunzehn
szenische Abschnitte ein: 1. Realismus, Melodram. / 2.
Realismus, Komödie. / 3. Absurde Komik, naiv. / 4.
Realismus, Alltagskomödie. / 5. Radix, rhythmisch. / 6.
Radix, alltäglich. / 7. Festliches Melodram, Radix-betont. /
8. Verschiebung der Höhen. / 9. Landschaftsbild. / 10.
Monolog zur Seite, zwei Schichten. / 11. Ansprache. / 12.
Tschinari. / 13. Radix. / 14. Pathos, klassisch. / 15.
Pathos, balladesk. / 16. Spieluhr. / 17. Pathos,
physiologisch. / 18. Realismus, trocken offiziös. / 19.
Kadenz, opernhaft. // "Das Spiel mit dramatischen Kategorien
ist vor allem eine Parodie auf das Theater selbst", schreibt
Gudrun Lehmann. Alle Kategorien seien parodiert, nicht aber
verspottet.
Neben dem "Paradestück" "Jelisaweta Bam" finden sich im
dritten Band Stücke und Szenen für Kinder, Szenen in Prosa
für Erwachsene und Szenen in Versen.
Der vierte Band
gilt dem Menschen Charms, er
beinhaltet von Beate Rausch zusammengetragene und zum Teil
erstmals übersetzte Briefe, Tagebucheintragungen und philosophische
Traktate. Die Texte, so Alexander Nitzberg, "zeugen von
einer permanenten Beschäftigung mit dem gesamten Erbe
der menschlichen Kultur - ob in der bildenden Kunst, der
Literatur, der Musik, der Philosophie, der Religion, der
Mystik oder des Okkultismus. Die Texte
vermittelten auch einen Eindruck "von dem gewaltigen
Beziehungsgeflecht, in welchem Charms sich zeit seines
Lebens bewegte, von seinen Kontakten zu anderen Künstlern
und Intellektuellen". Zu seinen Freunden und Bekannten
zählten berühmte Musiker wie Maria Judina, bildende Künstler
wie Kasimir Malewitsch, Regisseure wie Igor Terentjew,
Dramatiker wie Jewgeni Schwarz und Schauspieler wie Klawdia
Pugatschowa. Charms Texte mit autobiografischem Bezug durchleuchten
den
ständigen Kampf des Autors gegen die eigenen fünf Sinne, gegen
Schwächen und Komplexe, gegen sexuelle Obsessionen." Apropos
Sex. Da bis auf zwei Erwachsenengedichte von Charms zu
Lebzeiten nur Kindergedichte und -geschichten erschienen
sind, finde ich die Veröffentlichung mancher Texte
fragwürdig, weil sie (ganz sicherlich) von Charms nicht für
eine Veröffentlichung bestimmt gewesen sind, zum Beispiel
S. 48 / 49: "Es ist das Jahr 1828, 31. Januar.
Esther hockt bei meiner Schwester... Warum soll ich wegen
dieser Göre leiden? Ich tue viel, was ich gar nicht tun
wollte, und ich tue vieles nicht, was ich tun würde - einzig
aus dem Grund, sie nicht zu kränken. - Aber ich bin
mit meiner Geduld am Ende. Wieso ziert sie sich? Wenn sie
bloß geradeheraus sagen würde: ja oder nein. Sie ist sowieso
von vorne bis hinten durchgefickt. Wenn sie mich liebt, dann
hätte sie von sich aus in den geschlechtlichen Beziehungen
entgegenkommender sein müssen. - Ich verstehe sie nicht. -
Aber es ist wohl besser, sie in die Wüste zu schicken. Hau
bloß ab, du Nutte und Gebieterin! - Ich habe genug von
deinem Benehmen. Geh, wohin du willst, und wackel da mit
deinem Hintern." Oder am 4. Dezember 1928, S. 71: "Bei
diesem Aas komm ich nicht an, und darum versuch ich´s erst
gar nicht. Pfeif drauf. - Dina Wassiljewna kann niemals die
meine werden. Sie wird die eines andern. Ich möchte es ihr
französisch machen. [...] Dina
hat eine schöne Fotze." - Die zahlreichen Freunde und Bekannten Charms sind
in seinen Texten oft nur mit ihrem Vor- und Vatersnamen
genannt, manchmal sogar nur mit ihrem Kose- oder Spitznamen.
Da finde ich es sehr hilfreich, dass uns der Herausgeber
Nitzberg in zahlreichen Anmerkungen nicht nur den vollen
Namen mitteilt, sondern uns auch lästiges Nachschlagen in
Lexika erspart und uns vermittelt, um wen genau es sich handelt -
mit Lebensdaten, Funktion, Beziehung zu Charms... - Nitzberg geht in seinem Nachwort ausführlich auf das
"lyrische Ich" in der russischen Literatur ein. So habe
bereits Alexander Puschkin lebende Gestalten aus dem eigenen
Umfeld in die Fiktion des Versromans `Eugen Onegin´
eingeführt wie zum Beispiel seinen Freund Peter Wjasemski.
"Aber das eigentliche Experiment mit solchen Überlappungen
und Verschiebungen begann in der Moderne. Das
allgegenwärtige und göttergleiche "`lyrische Ich´ der
Avantgardisten wurde oft - paradoxerweise - mit dem Namen,
den Charakterzügen und der Biografie des jeweiligen Dichters
ausdekoriert". 1914 schrieb Wladimir Majakowski das
Theaterstück mit dem Titel "Tragödie Wladimir Majakowski".
Nitzberg nennt als weitere Beispiele den futuristischen
Dichter und Flieger Wassili Kamenski, der sich in seinem
Gedicht "Provokation" die Identität mit dem eigenen
"lyrischen Ich" mit der abgedruckten Nummer seiner amtlichen
Pilotenlizenz bestätigte. Besagter Kamenski stellte sich
auch selbst als "lebendes Denkmal" aus. Die Imaginisten Wadim
Scherschenewitsch,
Anatoli Marienhof und Sergej Jessenin
benannten während einer nächtlichen Aktion
Moskauer Straßen nach sich selbst um. (Vielleicht ein Tip
für die Berliner "Piraten"...) "Stark performative Züge",
meint Nitzberg, habe 1914 der Selbstmord des Ego-Futuristen
Iwan Ignatjew getragen, der sich am Tag seiner Hochzeit vor
dem Spiegel die Kehle mit einem Rasiermesser durchschnitt -
"eine bizarre Selbstinszenierung, die gleichsam als
lebendes (oder sterbendes...) Gedicht konzipiert war",
so Nitzberg über diesen makabren Suizid. Mein Gott, ich
stelle mir vor, ich wäre die Braut gewesen...
1905
Am 17. (30). Dezember** wird Daniil Charms
als Daniil Iwanowitsch Juwatschow in St. Petersburg*** geboren.
[Seine Geburtsstadt ist in
jenem Jahr Ausgangspunkt der ersten russischen Revolution:
Am 9. (22.) Januar 1905 lösen Soldaten eine friedliche
Demonstration streikender Arbeiter auf dem Weg zum
Petersburger Winterpalais des Zaren brutal auf; das Blutbad
vom "Roten (Blutigen) Sonntag" ruft eine Welle von Protesten
und Unruhen in ganz Rußland hervor. Im Dezember weiten sich
in Moskau Streikbewegungen zum bewaffneten Aufstand aus. Am Jahresende begegnen sich
Lenin und
Stalin in Tammerfors zum
ersten Mal.] "Danja", so nennt
Marina ihren Mann Daniil, „hat mir da so eine Geschichte
erzählt." Einmal sei der Vater Iwan Pawlowitsch Juwatschow auf das Gut der
Tolstois
eingeladen worden. Von da aus rief Iwan Pawlowitsch seine
hochschwangere Frau an, um ihr zu prophezeien, dass die
Geburt am 30. Dezember stattfinden werde, dass es ein Junge
sein würde und: „Wir nennen ihn Daniil.“ Auf Einwände seiner
Frau: „Keine Widerrede! Daniil****,
wie ich gesagt habe.“
1915
Charms wechselt auf die deutsche
Peterschule in seiner Geburtsstadt, wodurch er gute
Deutschkenntnisse erwirbt.
[Die deutsch-lutherische
"Schule des heiligen Petri" ist eine der bekanntesten
Petrograder Bildungseinrichtungen, 1710 gegründet.] Das Deutsche, die deutsche Kultur müsse ihm irgendwie im Blut gelegen haben,
meint Marina Malitsch. „Alles, was deutsch war, gefiel ihm.
Sein Deutsch war perfekt. Manchmal wollte er, daß ich mich
zu ihm setze, und er las mir auf Deutsch Gedichte vor.
Goethe und andere. Und obwohl ich kein Deutsch konnte,
lauschte ich mit Vergnügen, und hinterher erklärte er es
mir. Ich weiß noch, wie viel Spaß es ihm machte, „Plisch und
Plum“ von Wilhelm Busch zu übersetzen. In Danjas Bibliothek
waren ziemlich viele deutsche Bücher, und er griff ständig
danach. Wenn er irgendwohin ging oder er verreiste, hatte er
oft eine deutschsprachige Bibel dabei. Sie war ihm unerläßlich.“ Charms
habe auch eigene Gedichte auf
deutsch verfasst. (Band 2, Seite 144:
Daniil ist 14 Jahre alt, als er
auf Deutsch schreibt: Hät´ nicht dact / das Fisch kräten /
dies Thäten / das Thäten / das sie auch noch stechen taten /
dimpfer dampfer/ Fisch krähten // [Charms
hat sich seit seiner Kindheit für Wilhelm Buschs
Kindergeschichten begeistert. In den Lebensläufen von Charms
und Busch, schreibt
Gudrun Lehmann, gäbe es eine Reihe von Übereinstimmungen:
"Ihre Erziehung ist protestantisch geprägt; sie beginnen auf
Geheiß der Väter ein technisches Studium, das sie jedoch
abbrechen. Darauf wenden sie sich der Kunst und Literatur
zu. Ihre Werke richten sich an Erwachsene wie auch an
Kinder. Ferner teilen sie eine große Leidenschaft: das
Rauchen. Charms zeichnet Tabakspfeifen in seine Notizbücher.
Tabak und Pfeife finden auch in ihrem Schaffen einen
Niederschlag. Davon abgesehen kennzeichnet ihre Werke eine
Mischung aus Humor, brachialer Zerstörungswut und
Gewaltexzessen."]
[1917]
[Bis zur Revolution
waren von Iwan Pawlowitsch Juwatschow, dem Vater Charms´, etwa 25 Bücher
und Broschüren erschienen, teilweise durch die Förderung von
Lew Tolstoi. Der Vater publizierte zu Lebzeiten mehr als sein Sohn,
von dem 14 Kinderbücher erschienen.] - (Band 2, S. 14: "Epigramm an den Vater // meine Gedichte Papa mussten / dir vorgekommen sein
wie Husten / deine Gedichte sind ganz sicher / gehobener
doch icher kicher" // 1925).
1918-1919
Die Familie Juwatschow flieht vor dem
Bürgerkrieg für einige Monate aus der Stadt in die
Wolgaregion.
[Gudrun Lehman
schreibt jedoch in ihrem Buch "Fallen und Verschwinden", dass es
sich bei der Flucht aus Leningrad um einige Jahre gehandelt
habe. Die Umwälzungen dieser Zeit, hätten jäh
Kindheit, Jugend und das trügerische Heil der Familie
zerstört. "Für einige Jahre verlassen die Juvaĉёvs (Juwatschows)
wie viele Einwohner Petrograds überstürzt die Stadt und
verlieren dadurch sämtliches Hab und Gut."]
1922
Charms wechselt auf das Mariengymnasium in Detskoje Selo, wo er bei seiner Tante Natalja Koljubakina
wohnt.
[Charms musste die
prestigeträchtige Peter-Schule verlassen wegen vieler
"ungenügender" Noten und unbotmäßigen Verhaltens.]
Auf die Meinung der
Tante Natalja – sie hatte an einigen Petersburger
Lehranstalten unterrichtet
[auch in Detskoje Selo]
- habe Charms den größten Wert
gelegt, erinnert sich Marina Malitsch / Durnowo. „Er (…)
liebte sie, glaube ich, mehr als den eigenen Vater. Auch sie
hatte einen Narren an ihm gefressen.“ – Zuhause hatte die
Tante ein großes Portrait von
Lew Tolstoi über ihrem Tisch
hängen, „und den konnte Danja nicht ausstehen, ich weiß auch
nicht, warum.“ (Band 2, S. 52: "Der Traum
zweier Negerdamen // zwei Damen träumten nein das
nicht / kein Träumen nein schon wieder nicht / natürlich
träumen sie - im Traum / tritt plötzlich Iwan in den Raum /
ihm nach der Herr vom Mieterbund / in seiner Hand ein
Tolstoi-Band / Anna Karenina Teil zwei / nein nein das nicht
das ist nicht gut / kommt Tolstoi rein nimmt ab den Hut /
zieht aus den Mantel und die Schuh / und brüllt heh Iwan wo
bist du / und Iwan packt ein Beil und bumm / haut Tolstoi
eins über den Kopf / und Tolstoi kippt oje wie dumm / die
ganze russische Literatur im Pipitopf // 1936).
1924
Am 14. Juli beendet er die Schule mit dem Abitur
[was, so ist zu vermuten, mit
ein Verdienst der Patentante war].
Er kehrt nach Leningrad / St. Petersburg zurück und
beginnt am 1. September ein Studium am Elektrotechnikum
[auf Wunsch des Vaters, der als
Finanzberater an der Umsetzung von Lenins
Elektrifizierungsplänen beim Staudamm- und Kraftwerksprojekt
am Volchov (Wolchow) beteiligt ist.]
In dieser Zeit beschäftigt er sich intensiv mit den Ideen des Futurismus von
Welimir Chlebnikow und
Wladimir Majakowski,
durch deren Einfluss Charms´ erste „transnationale“ Gedichte
entstehen.
Welche Dichter Charms besonders liebte, über wen er sich äußerte, welche
literarischen Kontakte er pflegte – von alledem ist Marina
Malitsch / Durnowo wenig in Erinnerung geblieben. Des öfteren und
immer mit Ehrfurcht habe er von Welimir Chlebnikow
gesprochen, „das auf jeden Fall. Majakowski ließ er gelten. Er hat die
Achmatowa gekannt, ist bei ihr gewesen. Mochte
Gumiljow, ihren Sohn. Fühlte mit ihr im Unglück, als er ins
Gefängnis kam.“
Marina mochte besonders Wwedenski. "Er war mir sympathisch. Und er war
in unserem Leben allzeit präsent. Schurka*****war da! Schurka
kommt! Schurka hat gesagt – so ging es die ganze Zeit. Danja
und Schura waren ständig zusammen, ein Herz und eine Seele.“ (Band
2, S. 55: "An Viktor / Welimir Wladimirowitsch
Chlebnikow // Ein Bein über das andere hebt / im Sitzen
Welimir. Der lebt." // 1926).
1925
Erste Lautgedichte und Auftritte als
Rezitator fremder und eigener Lyrik.
[Es ist anzunehmen, daß
die Zeit zwischen 1925 und 1930 die glücklichste und
verheißungsvollste im Leben von Charms ist.
Er macht Bekanntschaft mit zahlreichen Autoren, Künstlern
und Musikern, die ihn entscheidend mitprägen. Der
Schriftsteller Aleksandr Vvedenskij - Alexander Wwedenski -
wird trotz (oder gerade wegen) großer Differenzen zu Charms´
engstem Freund, wichtigstem "Lehrer" und literarischen
Mitstreiter.] (Band 2, S. 16: "Klitsch // gewidmet (Esther) // Also
spricht klein Michael / sein Mundwerk ist lose / - hichila
kichila / ich trag eine Hose - // unddu machs ihm / finz
fanz funz / b m paxim / funz fanz finz // I-a I-a Y-a / N N
N / ich putzte hia / N N N // dripp schripp bobu / dschin
dschen baba / pitsch patsch - wunderbar - gips schon Mama! /
hia hastu hichila! finz fanz funz / stex ein kichila! /
funz fanz finz // SCHLUSS" // 1925 // Die Formel
"Schluss" am Ende eines Gedichts wird vom Autor oft
verwendet und kann als sein "Markenzeichen gelten.).
Im März / April lernt Charms in dem
Dichterkreis um Alexander Tufanow Alexander Wwedenski
kennen, mit dem ihn eine lebenslange Freundschaft verbindet.
Wo auch immer Charms
hingekommen sei, erinnert sich Marina Malitsch, gab es ein
großes Hallo. Man vergötterte ihn. Weil er alle zum Lachen
brachte.“ Meist aber ging er ohne
Marina: „Ich hätte sowieso nichts anzuziehen gehabt – weder
Kleid noch Schuhe – nichts. (…) Dies alles änderte übrigens
nichts an unserer Liebe.“ (Band
2, S. 56: "Für A. Wwedenski - der Freund der fiel ins
lustge Bad / die Wand herum rotieren tat / die Kuh schwamm
herrlich durchs Gebraus / die Straße lag über dem Haus / der
Freund jedoch voll Glanz auf Sand / Lief in der Socke
seine Hand / im Zauber zu schwirrn begann / zuerst mit links
die andre dann / und haute sich voll Wucht aufs Ohr / der
Wachtelkönig sang im Moor / als kleiner Hut und heulte sehr /
da war mein Freund im Bad nicht mehr" // 1927)
1926
Erste Auftritte der „Linken Flanke“, einer
künstlerischen Vereinigung, die sich um Charms und Wwedenski
zentriert.
[Der Name "Linke Flanke"
verweist - ein letztes Mal vor der endgültigen
kulturpolitischen Gleichschaltung unter Stalin - auf
vorrevolutionäre avantgardistische "linke" Kunstströmungen
und Theorien...]
Gemeinsam mit Wwedenski gründet Charms die
informelle Gruppe „Tschinari“, der u. a. auch der Philosoph
und Schulfreund Wwedenskis Jakow Druskin sowie Leonid
Lipawski angehören.
„Einmal“, erzählt
Marina Malitsch, „nahm Danja mich mit, ich weiß schon nicht
mehr zu wem. (…) Ich erinnere mich, daß dort alle auf dem
Fußboden saßen. Auch das, was jeder so mitgebracht hatte,
stand auf ausgebreiteten Zeitungen auf dem Boden: Sardinen,
Schwarzbrot und natürlich Wodka, der fleißig eingeschenkt
wurde. (…) „Charms“, schreibt seine Witwe, „habe ich kein
einziges Mal betrunken gesehen.“ Bei dem Treffen auf dem
Fußboden waren auch die Brüder Druskin, Jascha (Jakow) und
Mischa, beide Absolventen des Konservatoriums. Jakow Druskin
„spielte Klavier wie ein Gott. (…) Ich habe Jascha immer
sehr geliebt und verehrt. Er war ein so Netter! Mich
bedauerte er wohl. Er sah, wieviel Mühe ich mir gab, nicht
aufzufallen, mich im Hintergrund zu halten. (…) Jedenfalls:
ein großes Zimmer, darin ein Flügel und viele Leute. Schura, Wwedenski war auch da und Lipawski."
Im Februar wird er aus dem
Elektrotechnikum ausgeschlossen.
[In sein Tagebuch
notiert Charms "Versäumnisse und erschwerende Umstände: `1)
Seltene Anwesenheit. 2) Inaktivität in der
gesellschaftlichen Arbeit. 3) Ich passe physiologisch nicht
in die Klasse´".]
Am 26. März wird er in den Allrussischen Dichterverband, Sektion Leningrad,
aufgenommen, in dessen Lyrikalmanach sein erstes gedrucktes
Gedicht erscheint, das Gedicht “Ein Vorfall an der
Eisenbahn“. Am 17. September beginnt er ein Studium im
Bereich Film am Institut für Kunstgeschichte (INChUK). Im
Oktober wird der Künstlergruppe „Radix“, für deren Auftritt
Charms gemeinsam mit Wwedenski ein Stück beisteuert, von
Kasimir Malewitsch, dem Direktor des INChUK, ein Raum zur
Verfügung gestellt. In diesem Zusammenhang schließen Charms
und Malewitsch Bekanntschaft. Im November entsteht die
Künstlergruppe OBERIU („Vereinigung für reale Kunst“), die
aus der „Linken Flanke“ hervorgeht. Das Haus der Presse
hatte der Gruppe angeboten, dort eine eigene Sektion zu
bilden. Zu den Mitgliedern gehören neben Charms und
Wwedenski noch Igor Bachterew, Nikolai Sabolotzki,
Konstantin Waginow u. a. (Band
2, S. 57: "'Für N. A. Sabolotzki // fort meines Lebens
Absteckstange / ich selbst bin überaus und roh / aus
Leningrad grad fortgegangen / dahin nach Deskoje Selo und du
oh Freund versende Briefe / solang noch heiß das Herze dein
/ auf dass der Vers als Hindin liefe / zu mir gleich einem
Kerzenschein" ******/ 1927).
(1927) [Am 26. März
1927 kommt es zu einem folgenschweren Auftritt der "Linken
Flanke", die sich tags zuvor in "Akademie der linken
Klassiker" umbenannt hat. Dieser findet im Rahmen einer
Sitzung des Literarischen Zirkels am Staatlichen Institut
für Kunstgeschichte statt und endet mit einem Skandal: Am 3.
April erscheint in der Komsomolzeitung Smena (Neue
Generation) ein harscher Verriß...] (Band 1, S. 200: "So beginnt der Hunger: / Am
Morgen erwachst du munter, / Dann beginnt die Mattigkeit, /
Dann beginnt die Langeweile; / Dann setzt das Nachlassen /
des raschen Denkvermögens ein, - / Dann setzt die Ruhe ein,
/ Und dann beginnt der Horror."// 1937)
- (Band 4, S. 51: "Ich sage mir: Ich bin ein
Pechvogel, bei nichts habe ich Glück. Das ist nur deshalb
so, weil ich meine eigenen Kräfte nicht kenne. Ich nehme
Dinge in Angriff, denen ich nicht gewachsen bin. Und
außerdem beherrsche ich nicht die Wissenschaft, aus allen
Dingen Glück herauszuholen. - Das ist eine große
Wissenschaft..." - 1927).
1928
Im Januar erscheint das Manifest der
OBERIU in den „Mitteilungen des Hauses der Presse“. Am 24.
Januar findet die erste Abendveranstaltung der OBERIU im
Haus der Presse unter dem Titel „Drei linke Stunden“ statt.
In der ersten Stunde, die der Literatur gewidmet ist, trägt
u. a. Charms seine Gedichte vor. Er gibt sie verkleidet auf
einem schwarzen Schrank stehend zum Besten. In der zweiten,
der Theaterstunde, wird Charms´ „Jelisaweta Bam“
uraufgeführt. Die dritte Stunde gehört dem Film.
[Mit der
Umsetzung der Deklaracija OBERIU beginnen
eine letzte innovative Etappe der russischen Avantgarde und
ein neues Kapitel der sowjetischen Theatergeschichte...] Die
propagandistischen Kritiken sind vernichtend, wodurch
weitere öffentliche Auftritte der Gruppe erschwert werden.
Im Januar / Februar erscheint die erste Ausgabe der
Kinderzeitschrift „Igel“ (…) unter der Redaktion von
Nikolai Olejnikow, in der Charms regelmäßig publiziert. Die
Veröffentlichungen in den Kinderzeitschriften bilden über
weite Zeiträume seine einzige Einnahmequelle. (Band
2, S. 93, Ein Reklamegedicht: "laufen laufen
laufen laufen / rennen rennen rennen rennen / im
Schritt im Ritt / einzeln oder im Haufen / den neuen `IGEL´
kaufen! // 1928.) Die Honorare, die
Charms für seine Veröffentlichungen im „Igel“ bekam, „waren
das einzige Geld, das wir fürs tägliche Leben hatten".
Verdiente er etwas (…), "gab es für uns etwas zu essen. Wir
nagten immer irgendwie am Hungertuch. Oft kam es vor, daß
nichts, aber auch gar nichts zu essen im Haus war. Einmal
konnte ich vor Schwäche nicht mehr aufstehen.“
- (Band 4, S. 66: "Den 10.
Oktober 1928 markiere ich als den ersten Tag auf dem Weg zu
Hunger und Armut.").
Am 5. März heiratet Charms Esther Russakowa.
(Band 4, S. 52: "Seit ich Esther das letzte Mal
gesehen habe, sind 270 180 Sekunden vergangen. / 24. / 25.
Juli / Mitternacht / 1927 //). Ein paar Tage nach ihrer Hochzeit
[am 7. März]
wird er zum
Grundwehrdienst eingezogen, aus unbekannten Gründen aber
kurz darauf wieder entlassen. (Band 4, S. 55 / 56:
"Am 7. März in den Militärdienst geraten. Interessant, aber
widerwärtig. - Ich sitze abseits von allen. So wird es
weitergehen, denke ich. Schon im Treppenhaus schwappte mir
der ekelhafte, säuerliche Geruch von Hundepisse und von
dieser Suppe entgegen, nach der es in der Schule riecht. -
Wir sind 14 Mann. Was das für welche sind, weiß ich noch
nicht. Intelligente Leute gibt es fast keine. Außer mir wohl
noch einen, aber auch der ist mir suspekt. - Ein Genosse
Kommandeur mit einem Rangabzeichen sieht aus wie ein roter
Kakerlak und brüllt rum. - Ich schreibe, weil ich nicht
weiß, was ich tun soll. - 8. März. Wir sind sehr viel mehr
geworden. Sehr ungut. Herr, hilf mir, mich vom Militärdienst
zu befreien - ganz.").
1929
Am 18. Februar stirbt Charms´ Mutter an
Lungentuberkulose. [Über
Daniil Charms Mutter, Nadežda Ivanovna, so Gudrun Lehman,
sei wenig bekannt. Sie entstammte einer angesehenen
alteingesessenen Adelsfamilie aus dem Saratower
Gouvernement. "Ihre Vorfahren lassen sich mit dem alten
Geschlecht der Aksakovs, den altgläubigen Brüdern
Denysov und dem Fürstenhaus Myšeckij
in Verbindung bringen.
Nadežda Ivanovna Koljubakina arbeitet als Erzieherin und
leitet von 1900 bis 1918 ein Frauenasyl, wo sie entlassene
weibliche Strafgefangene betreut." Charms´ Vater und sie
lernen sich im April 1902 kennen, sie heiraten am 16. April
1903.] Im September werden Charms und Wwedenski
wegen nichtbezahlter Mitgliedsbeiträge aus dem Leningrader
Dichterverband ausgeschlossen. Für den 12. Dezember
ist ein Auftritt der OBERIU geplant. Ob er stattgefunden
hat, ist unklar. Im Winter 1929/30 bricht die Ehe mit Esther
Russakowa auseinander. (Band 4, S.
76: "Wie weit ist es mit mir gekommen! Ich habe Angst
vor dem Leben. Der Mensch sollte keine Angst vor dem eigenen
Leben haben." // 21. Juli 1929).
1930
Im Januar erscheint die erste Ausgabe der
Kinderzeitschrift „Zeisig“ (…) als Pedant zum „Igel“ für
Kinder im Vorschulalter. Auch in dieser Zeitschrift
veröffentlicht Charms bis zu seinem Lebensende Texte. [Bis
zur Oktoberrevolution gab es ingesamt nicht weniger als 150
Periodika für Kinder und Jugendliche. Das Spektrum reichte
von konservativ-monarchistisöchen bis zu aufklärerischen,
progressiven
pädagogischen Publikationen. (...) In der
vorrevolutionären Epoche von 1909 bis 1917 waren noch 19
Zeitschriften auf dem Markt; wöchentlich erscheinende
Detektiv-Zeitschriften mit Helden wie Sherlock Holmes, Nick
Carter und Nat Pinkerton erfreuten sich vor allem bei Jungen
großer Beliebtheit... Mit der Revolution erhebt der Staat
den gesamtgesellschaftlichen Herrschaftsanspruch und tritt
damit an die Stelle der Familie...]
Sonntags vormittags
wurden im Pionierpalast an der Fontanka Kinderprogramme
veranstaltet. Zu diesen Matineen trat Danja auf. Das hat
Marschak (der Leiter des Leningrader Kinderbuchverlages) ihm
ermöglicht.“ Charms habe mit Zaubertricks begonnen.
„Plötzlich hatte er eine Spielzeugkanone in der Hand. Keine
Ahnung, wie und wo er sie hervorgezogen hatte. Aus dem Ärmel
vielleicht. Als nächstes irgendwelche Kugeln. Er holte sie
hinterm Kragen hervor, aus Ärmeln, Schuhen, Hosenbeinen, ja,
aus der Nase… (…) „Ich schaute zu und wunderte mich: Der da
auf der Bühne stand, war ein ganz anderer Mensch! Nicht der
Danja, den ich kannte. Vollkommen verwandelt. Danach las er
seine Gedichte vor. (…) Von allen, die bei den
Kindermatineen auftraten, hatte Danja den größten Erfolg.“
1931
Am 10. Dezember wird Charms wie auch viele
seiner Schriftstellerkollegen im Zuge einer größeren
Verhaftungswelle festgenommen. Sie werden „der Organisation
und Beteiligung an einer antisowjetischen illegalen
Vereinigung von Literaten“ verdächtigt.
[Vvedenskij und Charms verlegen
ich in späteren Jahren notgedrungen auch aufs Übersetzen.
Nachdem sie bereits in die Kinderliteratur als eine Art
künstlerisches Refugium ausgewichen waren, verengt sich ihr
beruflicher Spielraum angesichts verstärkter Zensur und
dohender politischer Verfolgung noch weiter...]
Charms´ Aufzug sei
immer eigenwillig gewesen, so Marina Malitsch Durnowo. Und
er habe einen Tick gehabt: eine ruckartige
Bewegung beider Hände, die – genauer gesagt, die Zeigefinger
– unter der Nase zusammenfanden. so daß sie ein Dach
bildeten; dabei gab er einen Laut von sich, der wie ein
Räuspern klang, beugte sich leicht nach vorn und tippte mit
der rechten Fußspitze ein paarmal leicht und schnell gegen
den Boden. (…) Doch an all seine Absonderlichkeiten war ich
gewöhnt, sie machten mir nicht zu schaffen. Ich liebte ihn,
und die Mätzchen, die er trieb, bereiteten mir eher Spaß.“
1932
Am 21. März,
wird Charms zu drei Jahren Straflager verurteilt.
[Charms wird "ALS FEIND DER
SOWJETMACHT UND MONARCHIST AUS ÜBERZEUGUNG" hingestellt.
Am 18. Juni wird er aus der Haft
entlassen. Im Juli trifft Charms gemeinsam mit Wwedenski in
Kursk, ihrem Verbannungsort ein. (Band 4, S. 170: "Kursk ist eine sehr
unangenehme Stadt. Dann schon lieber U-Haft. Hier gelte ich
bei den meisten Einwohnern als Idiot. Auf der Straße ruft
man mir immer unbedingt irgendwas hinterher. Deshalb hocke
ich beinahe die ganze Zeit in meinem Zimmer.")
Beide kehren vorzeitig aus der Verbannung zurück. Im November wird die Verbannung
offiziell aufgehoben.
1933
Charms lernt
Marina Malitsch kennen.
Marina war gerade
dabei, ihren Schreibtisch aufzuräumen, als es an der Tür
klopft. Als sie öffnete, stand „auf der Schwelle ein großer,
sonderbar gekleideter junger Mann mit Schildmütze. Er trug
ein kariertes Jackett, Knickerbocker und Gamaschen. Dazu
einen schweren Stock und einen dicken Ring am Finger.“
Charms wollte zu Marinas Schwester Olga, die nicht zu Hause
war. Der „sonderbar gekleidete junge Mann“ gefiel Marina
sehr: „Ein netter junger Mensch, mit so einem offenen
Gesicht. Und mit ganz außergewöhnlichen Augen: so was von
blau!“ Und auch sie gefiel ihm gleich, wie er ihr, der sie
später "Pümmelfötchen" nennt, gestand...
(Band 2, S. 155: "Treff ich eine blöde
Schachtel, / wird sie von mir umgebracht. / Nur das Kräutlein, nur die Wachtel / liebe ich mit aller Macht. //
Nur mein treues Pümmelpfötchen / hat ein offnes Herz für
mich. / Wie ein Zettel, wie ein Flötchen / lässt sie niemals
mich im Stich. // Ich, der Damen früher scheute, / will mein
Pümmel lieber schaun / als zighundert hübsche Bräute / als
zigtausend fesche Fraun." // 1935).
[Nach dem Ende
der OBĖRIU
werden die Treffen der
Činari (Tschinari), denen nur noch der isolierte private
Rahmen offensteht, zum letzten geistig-künstlerischen
Zufluchtsort.] Die Gespräche der "Tschinari“ werden von
Lipawski bis 1934 niedergeschrieben.
1934
Am 16. Juli heiratet Charms Marina Malitsch.
Nachdem Charms die
Schwestern Marina und Olga des öfteren zu Ausflügen oder zum
Bummeln durch St. Petersburg oder ins Konzert eingeladen hat
– „Und es kam vor, dass Olga schon nicht mehr dabei war.“ –
saß Marina einmal bis spät bei Charms im Zimmer. Und
plötzlich habe er ihr einen Heiratsantrag gemacht. "Da bin
ich“, schreibt sie, „über Nacht bei ihm geblieben.“ Eine
Hochzeitsfeier fand nicht statt. Sie hatten kein Geld, um
sie auszurichten. Charms wohnte, als Marina zu ihm zog,
seit 1925 bis zu seinem Tod in der Nadeshdinskaja Uliza
(heute Uliza Majakowskogo), 11 / 9. Marina und Daniil lebten
seitdem in einer Gemeinschaftswohnung (Kommunalka) zusammen
mit dem Vater Iwan Pawlowitsch Juwaschow - „Ein großer,
spindeldürrer alter Mann mit Vollbart und ständig blassem
Gesicht“ - und mit Jelisaweta (Lisa), der Schwester von Charms und deren
Familie. Marinas und Charms´ Zimmer sei „bestenfalls“ fünfzehn
Quadratmeter groß gewesen. Mit der Familie von Lisa durfte
Marina keinen Kontakt haben - weil Lisas Mann Kommunist war.
-
Marina behält auch nach der Hochzeit mit Daniil Charms ihren Mädchennamen Malitsch. „Wenn wir erst
mal den gleichen Namen tragen“, hatte Charms gesagt, „will
heutzutage keiner mehr einsehen, daß du und ich zwei
verschiedene Personen sind. Man weiß ja nie was passiert!“ Der Sozialistische Realismus wird zur
Staatsdoktrin.
1935
Am 15. Mai stirbt Kasimir Malewitsch. auf
der Trauerfeier am 17. Mai trägt Charms sein Gedicht „Auf
den Tod von Kasimir Malewitsch“ vor.
„Kasimir Malewitsch
lernte ich kennen, als er schon im Sterben lag. Ich glaube,
ich sah ihn nur das eine Mal, als Danja und ich ihn
besuchten. (…) Danja und ich waren auf dem Begräbnis. (…)
Bei der Andacht in Malewitschs Zimmer las Danja über dem
offenen Sarg, zu Haupten des Toten stehend, sein Gedicht,
das sehr subtil und aristokratisch war.“
1936
Wwedenski heiratet Galina Wiktorowa und
zieht mir ihr nach Charkow.
Charms nennt seine
Frau Marina „Fefjulka-Pümmelpfötchen“. "Wahrscheinlich, weil
ich so klein war.“ (Band 2, S. 156: "Ein gutes Liedelchen vom Pümmelpfötchen
// Du bist zwar sicherlich kein Riese, / doch schlank wie
Gräser auf der Wiese. / Refrain: / Umbau, Umbau, Umbau, ja!
/ Primakókin und Kinéb! // Dein Bild zwar eingefaßt von
Brauen / und doch gar niedlich anzuschauen. / Refrain: //
Wir lieben ihre Würstlein-Finger / mehr als Lataschkas
kleine Dinger. / Refrain: // Wir lieben Sie und ihre
Öhrchen, / Weil wir zusammen stets gehörchen. /Refrain: " //
1935 // Trotz ihres großen Zusammengehörigkeitsgefühls weiß Marina Malitsch von ihm:
"Sexuell stimmte
irgend etwas nicht mit ihm, glaube ich. Den einen Tag ging
er mit dieser ins Bett, den anderen mit jener… Immer
irgendeine Affäre. Oft noch eine zweite, dritte, vierte
dazu… Es hörte nie auf! (…) Ich vermute, alle seine Freunde
lachten hinter meinem Rücken über mich. Hielten mich für
blöd, weil ich es vorzog, weiter mit ihm zusammenzuleben,
anstatt ihn zu verlassen. Denn sie wußten selbstverständlich
Bescheid.“ (…)
Aber:: "All
seine Affären konnten mich nicht in den Schmutz ziehen.“ (Band
1, S.75: "Es heißt, gute Weiber haben alle einen dicken
Arsch. Ach, ich liebe Weiber mit Holz vor der Hütte.(...)"//
23. August 1936)
1937
Im Juli wird der Herausgeber der
Kinderzeitschrift „Igel“, Nikolai Olejnikow, verhaftet,
am 24. November wird er erschossen. Im August werden weitere
Mitarbeiter des Kinderbuchverlags verhaftet (Bronstein und
Spiridonow, beide sterben 1938 in Gefangenschaft). Im August
wird die gesamte Familie Russakow, auch Charms´ erste
Ehefrau Esther, verhaftet und zu 10 Jahren Lager verurteilt.
Esther Russakowa stirbt in der Haft.
Marina erinnert sich in ihrem Buch an
Esther Russakowa. Sie war
Französin, französische Jüdin. Marina und Esther hatten
sich kennengelernt, waren sich sympathisch, unternahmen miteinander
Spaziergänge. Einmal, erzählt Marina, habe es Schuhe auf
Marken zu kaufen gegeben. „Danja hatte ein gutes Herz. Du,
hör mal“, sagte er, „ich weiß, dass du die Schuhe selbst
gern hättest, aber trotzdem: Wollen wir sie nicht lieber
Esther geben? Sie hat es schwerer: Wir sind zu zweit, sie
ist alleine… (…) Ein braunes Paar Schuhe, elegant. Esther war
begeistert.“
Am 5. September wird die Redaktion des
Leningrader Kinderbuchverlags, deren Leitung Samuil Marschak
hat, zerschlagen. Marschak kann sich einer Verhaftung
entziehen, während andere Mitarbeiter verhaftet und einige
erschossen werden.
[Marschak (1887 bis 1964)
ist während der Verhaftungswelle im Urlaub.]
"Marschak hat Danja
sehr gemocht. Wie auch umgekehrt, denke ich, Danja eine sehr
hohe Meinung von Marschak hatte.“ [Der
mit Gorki befreundete Marschak war Dichter, Übersetzer und
beliebter russischer Kinderschriftsteller. Ab 1925 leitet er
die Redaktion der neuen Leningrader Kinderbuchabteilung des
Staatlichen Kinderbuchverlages DETGIZ.]
1939
Im Oktober wird Charms nach einer kurzen
Beobachtung in einer Nervenheilanstalt vom Militärdienst
befreit.
Marina Malitsch
beschreibt, wie Charms in der Klinik simuliert, damit er vom
Militärdienst ausgemustert wird. „Nichts fürchtete er mehr,
als zur Armee eingezogen zu werden. Davor hatte er panische
Angst. Ein Gewehr in die Hand zu nehmen und hinzugehen, um
zu töten, das ging über seine Vorstellung.“ (2.
Band, S.110 / 111: ein Agitprop-Gedicht - Auftragsarbeit
der Kinderzeitschrift "Der Zeisig"? - erschienen in der
Nummer 4: Die ersten zwei Strophen von Das Erste-Mai-Lied //
Heute wollen du und ich, / du und ich, / heute wollen du und
ich /einmal Erste sein. / Und ganz sicher kommen wir, /
kommen wir / und ganz sicher kommen wir / in die ersten
Reihn. // Zur Tribüne laufen wir, / laufen wir, / zur
Tribüne laufen wir, / sind als erste da. / Und für Stalin
rufen wir, / rufen wir / und für Stalin rufen wir / dreimal
laut Hurra.// 1939 //)
1940
Am 17. Mai stirbt Charms´ Vater Iwan
Pawlowitsch Juwatschow.
Wenn Charms Vater
seinen Besuch ankündigte, erzählt Marina Malitsch, „was
äußerst selten und immer nur auf ein paar Worte geschah“,
sei Charms aufgesprungen und die ganze Zeit stramm wie ein
Soldat stehengeblieben. „Ich kann mich nicht erinnern, daß
der Vater jemals in unserem Zimmer gesessen hätte.„
(…) Zu mir war er nett, und ich denke, er fand mich ganz in
Ordnung, doch ich fürchtete ihn und kam ihm lieber nicht zu
nahe.“ Charms Vater sei äußerst asketisch veranlagt gewesen,
erinnert sich Marina. Er habe buchstäblich gar nichts
gegessen. „Er besaß eine Blechschüssel. Und einen Löffel.
(…) Iwan Pawlowitsch goß heißes Wasser in die Schüssel und
gab einen Löffel Sonnenblumenöl dazu. Dahinein brockte er
schwarzes Brot. Das war seine ganze Nahrung.“ (…) Und er
schrieb immerzu. Leider habe ich nie etwas von ihm gelesen.
(…) Nach seinem Tod, da hat man alle seine Manuskripte
abgeholt und in die Kasaner Kathedrale gebracht." (…) "Man
weiß, daß Iwan Juwatschow Tolstoi nahestand. Mehrfach ist er
bei ihm in Jasnaja Poljana gewesen. Er war Narodowolez, ein
Volkstümler. Wegen Beteiligung am Attentat auf den Zaren war
er zum Tode verurteilt und später zu lebenslänglicher
Verbannung begnadigt worden. Irgendwann kam er ganz frei."
1941
Im Juni entsteht die letzte Erzählung von
Charms, „Rehabilitierung“. Am 22. Juni beginnt die Wehrmacht
den Angriff auf die Sowjetunion. Am 23. August wird Charms
zum zweiten Mal verhaftet. Ihm wird „Verbreitung
defätistischer Propaganda“ vorgeworfen. Eine Haussuchung
wird vorgenommen.
Eines Tages sei
Charms besonders nervös gewesen. „Es war ein Samstag. Um
zehn oder elf Uhr morgens klingelte es an der Tür. Wir
zuckten zusammen, denn es war klar: Das konnte nur die GPU
sein. Und wir ahnten, gleich würde etwas Schreckliches
geschehen. (…) Danja bebte am ganzen Leibe. Es war absolut
schrecklich. (…) Wir schafften es gerade noch, uns in die
Augen zu blicken. Ich habe ihn nie wiedergesehen.“
Am 8. September beginnt die fast 900 Tage
währende Blockade Leningrads durch die Nationalsozialisten.
Durch den Einschlag einer Fliegerbombe wird die Wohnung der
Juwatschows unbewohnbar. Am 10. September wird Charms nach
einer gerichtsmedizinischen Untersuchung für schizophren
erklärt. Am 27. September wird Wwedenski in Charkow
verhaftet. Am 22. Oktober wird Charms aus der
psychiatrischen Abteilung zurück ins Gefängnis verlegt. Im
November fällt Leonid Lipawski bei der Verteidigung
Leningrads. Am 7. Dezember wird Charms für geisteskrank
erklärt. Die Anklage wird fallengelassen, er wird in die
psychiatrische Abteilung des Gefängniskrankenhauses
überstellt. Um den 20. Dezember stirbt Alexander Wwedenski
während eines Gefängnistransports.
„Von dem Tag an, da
wir zusammengezogen waren, hat er mir alles vorgelesen. Das für
Kinder ebenso wie das, was nicht für Kinder war. Kaum fing
er an zu lesen, mußte ich schon lachen. (…) Ich kugelte mich
buchstäblich, es war einfach so komisch, daß ich nicht an
mich halten konnte, dieses ganze `Bu-bu-bu und be-be-be,
go-go-go, bul-bul´. Das war, als er mir (1940) das Gedicht
vom `Lustigen Alten´ vorlas: Der lustige Alte // War einmal
ein alter Mann, / nicht sehr hochgewachsen, / dieser kleine
alte Mann / machte gerne Faxen: / „Ha-ha-ha / und he-he-he,
/ hi-hi-hi / und bumm-bumm! / Bu-bu-bu / und be-be-be-be,
/ding-ding-ding / und drumm-drumm!“ (…)
1942
Charms stirbt am 2. Februar in Haft.
Als sich die
Erstarrung nach der Verhaftung gelegt habe, sei sie los
gelaufen, sagt Marina Malitsch / Durnowo, um in den Gefängnissen nach
ihm zu suchen. „Ich suchte überall. (…) Bis mir endlich
jemand sagte, wo er sich befand und an welchem Tag ich ein
Päckchen für ihn würde abgeben können. Ich lief also
dorthin. Dazu mußte ich übers Eis der Newa gehen. Auf der
Newa lag der Schnee so hoch, daß er mir bis über den Kopf
ging. Ein Pfad war getrampelt, so schmal, daß zwei Menschen
sich gerade noch aneinander vorbeizwängen konnten. (…) Als
ich zu Hause losging, war es Morgen – als ich zurückkam,
tiefe Nacht. Zweimal lief ich die Strecke, und meine Pakete
wurden entgegengenommen. Beim dritten Mal aber… Ich
klopfte an, das Fensterchen ging auf. Ich nannte den Namen – Juwatschow-Charms – und reichte mein Päckchen hinein. Der
Mann drinnen sagte: `Treten Sie vom Schalter zurück und
warten Sie.´ Dann klappte er das Fenster zu. Zwei Minuten
vergingen oder auch fünf. Dann ging das Fenster wieder auf,
und derselbe Mann sprach die Worte: `Gestorben am zweiten
Februar.´ Und schmiß das Päckchen wieder heraus. (...)
Der Tod meines Mannes Daniil Charms ist mir für immer im
Gedächtnis geblieben. Es war gestern..."
Leider haben die vier Bände der Werkausgabe kein
Personenverzeichnis! Ich hätte
gerne noch einmal die biographischen Daten der Personen im
Zusammenhang gelesen, denen sich Charms verbunden fühlte. Dafür
schließt das Werk von Gudrun Lehmann*******
mit
einem akkurat-informativen Personenregister. Es macht
zutiefst betroffen zu erfassen, wie viele Menschen aus Charms
Freundes- und Bekanntenkreis in
den zwanziger, dreißiger und in den vierziger
Jahren verhaftet wurden, verbannt wurden, umgekommen sind:
Baskakov, Nikolaj Pawvovič
(1896 bis 1938); Mitarbeiter des "Kommissariats für
Volksbildung" (NARKOMPROS), Journalist, Redakteur verschiedener
Zeitungen; seit 1926 leitender Direktor am "Haus der
Presse", Förderer zeitgenössischer Kunst und Literatur;
Parteiausschluß und am 15. Februar 1928 Verhaftung wegen
angeblicher Verbreitung oppositionellen Gedankenguts; am 9.
April 1928 wird ihm zur Last gelegt, dass seine Institution
zu einem "Leningrader Untergrundzentrum" verkommen sei;
am 21. April 1928 Verbannung nach Sibirien; arbeitet während
langjähriger Lagerhaft zeitweise als Photograph, stirbt 10.
April 1938 im Lager in Magadan, die Todesursache ist
unbekannt; 1989 rehabilitiert.
Bronštejn, Matvej
Petrovič
1906 bis 1938); russischer Physiker, Mathematiker und
Schriftsteller, verheiratet mit Lidija Čukovskaja,
fällt dem Stalinterror zum Opfer.
(Im 4. Band der
Werkausgabe zu Daniil Charms lese ich, dass
Lydia Tschukowskaja im staatlichen Kinderbuchverlag als
Redakteurin gearbeitet hat. Am 18. September 1932 lässt
Charms sie in einem Brief an Leonid Pantelejew aus der Verbannung grüßen.)
Florenskij, Pavel Aleksandrovič
(1882 bis 1937); russischer Philosoph, Theologe,
Mathematiker, Physiker, Ingenieur, Linguist,
Kunstwissenschaftler, Historiker, Priester; 1921-1924
Professor am eigens für ihn eingerichteten Lehrstuhl der
"Raumanalyse in Kunstwerken" am Moskauer VChUTEMAS; übt mit
seinen Schriften zur Kunst und Ikonenmalerei erheblichen
Einfluß auf die russische Avantgarde aus; bereits Ende der
20er Jahre angefeindet wegen religiöser Agitation"; 1933
Verhaftung und Verurteilung zu langjähriger Lagerhaft;
1937 hingerichtet.
Gumilёv, Nikolaj
Stepanovič (1886 bis 1921); russischer Dichter, Dramatiker,
Kritiker, Übersetzer; Begründer und Wortführer des Akmeismsu;
1910 bis 1918 mit Anna Achmatova verheiratet; als
angeblicher Konterrevolutionär erschossen.
Kacman, Georgij
Nikolaevič ("Gaga"; Pseudonym: Koch-Boot, Kach-Boat)
1908-1985); Regisseur; Mitbegründer der Gruppe "Radiks";
April 1927 Verhaftung; verbringt - nach Verbüßung seiner
Strafe freiwillig
- fast sein ganzes Leben in Lagern, wo
er Laienkünstler anleitet; vom sibirischen Gulag aus besucht
er dann gelegentlich Charms in Leningrad; in den 50er Jahren
Regisseur am Dramatischen Theater in Magadan.
Lipavskij, Leonid
Lavelévič (1904 bis 1941); Pädagoge, Sprachwissenschaftler,
Philosoph, Schriftsteller, Redakteur; Studium der
Philosophie an der Petrograder Universität (bei N. Losskij
und in der pädagogischen Abteilöung für
Gesellschaftswissenschaften); 1921/22 Veröffentlichung
"dialogischer Gedichte u. a. im von N. Gumiljёw
herausgegebenen Almanach der Poetenwerkstatt;
unterrichtet an verschiedenen Schulen u. a. für
schwererziehbare Kinder; Verfasser diverser philosophischer
Traktate, u. a. Traktat über das Wasser, über Die Zeit,
Abhandlung über das Entsetzen, Über die Angst, Theorie der
Wörter; notiert die "Gespräche" der Činari;
Kinderliteratur unter dem Pseudonym "Savelёv"; seit 1931
verheiratet mit Tamara Meyer (Lipavskaja); fällt während
der Verteidigung Leningrads (Luftabwehr der Flotte) im
November 1941.
Maršak, Samuil
Jakovlevič (1887 bis 1964); Dichter, Übersetzer und
beliebter russischer Kinderbuchautor; 1912 -1914 Studium der
Kunstgeschichte in London; Übersetzer u. a. von Shakespeare,
Burns und Blake ins Russische; gründet 1914 in Rußland zwei
Jugendtheater: 1920 im ehemaligen Ekaterinodar das erste
Theater für Kinder und das "Theater des Jungen Zuschauers"
in Petrograd. Maršak wurde 1926 zum Leiter des Leningrader
Staatsverlags für Kinderliteratur ernannt. Dass er,
der nie Mitglied der Kommunistischen Partei war, einen solch
einflussreichen Posten erhielt, wird auf seine guten
Beziehungen zu Maxim Gorki zurückgeführt. Nach dessen Tod
verlor auch Marčak
seinen Posten und zog 1938 nach Moskau um. Zu den Verfolgten
aus seiner Redaktion und dem näheren Umfeld gehören Die
Redaktionssekretärin und Schriftstellerin
Ėster Papernaja, der
verantwortliche Redakteur des "Igel", D. Rachmilow, der
Redakteur des "Zeisig", Michail Majsler, die
Schriftstellerin Raisa Vasiléva, die Autoren Olejnikov, N.
Konstantinov, Sergej Bezborodov, Matvej Bronštejn,
Isaj Mil´čik, Grigory
Belych, Tėki Odulok, die
Redakteure Kirill Šavrov
und Jan Kalnyn´ sowie Abram Serebrjannikov, der Direktor des
Hauses für Kinderliteratur "DDL" - die meisten Genannten
werden noch 1938 erschossen oder in Gefängnis und Lager zu
Tode gequält; auch Zabolocki kommt in Lagerhaft, danach
wird er bis 1944 verbannt.
Matveev, Vladimir
Pavlovč (1897 bis 1935); russischer Journalist, (Kinder-)Schriftsteller;
Redakteur des Staatsverlags, Leiter der Leningrder Abteilung
"Sojus-foto"; während des Bürgerkriegs politischer
Kommissar, danach sowjetischer Handelsvertreter in Helsinki;
beteiligt sich später in der Leningrader Opposition um
Zinov´ev; Bekanntschaft mit Olejnikov; nach der Ermordung
Kirovs gerät er in die allgemeine Verhaftungswelle, obwohl
er keinem ideologischen Kader mehr angehört; 1935
erschossen.
Olejnikov, Nikolaj
Makarovič (1898 bis 1937); Schriftsteller, Lyriker,
Journalist, Radioredakteur, Regisseur; ab 1925 in Leningrad;
Bekanntschaft mit Charms, Vvedenskij und Lipavskij; Mitglied
der Činari und kinderliterarischer Verbände; ab 1928
Chefredakteur der Leningrader Kinderzeitschriften Ėž und Čiž;
1937 als "Volksfeind" erschossen; von seinem Werk für
Erwachsene kann er zu Lebzeiten - ähnlich wie Charms und
Vvedenskij - nur einen Bruchteil, fünf Gedichte,
veröffentlichen.
Rusakova, Ėster
Aleksandrovna (1906 bis 1943 ?); erste Ehefrau von Charms;
dieser widmet ihr zahlreiche Texte; sie arbeitet im
Zentral-geochemischen Labotratorium und später im
Informationsbüro des Kaufhauses "Passaž" am Nevskij
Prospekt; wird später wegen angeblicher westlicher Spionage
und Konspiration zusammen mit ihrem Schwager, dem bekannten
Schriftsteller, Publizist und Trotzkist V.-N.L Kibal´čič (d.
i. Viktor Serge), verhaftet und 1936 zu fünf Jahren
Lagerhaft verurteilt; stirbt in einem Lager in
Nordostsibirien.
Terent´ev, Igor´ Gerasimowič (1892 bis 1937); russischer futuristischer
Lyriker, Dramatiker, Kunsttheoretiker, Regiisseur; Besuch
einer Kunstschule in Char´kov; Jura-Studium in Moskau;
Schüler Kručёnychs; aktives
Mitglied der futuristischen "Gruppe 41 0" (1919. Tiflis);
Gedichtbände u. a. Fakt (1919); theoretische
Betrachtungen zu Wort, Klang, Rhythmus und Dichtung, 17
Unsinnswaffen, 1919, ein Buch über I. Zdanevič Rekord
der Zärtlichkeit, 1919; veröffentlicht 1920 die "Bibel"
der transmentalen Futuristen: Traktat über totale
Unanständigkeit; 1923-1929 in Petrograd / Leningrad;
Leiter des "phonologischen Studios" am INChUK; 1924
Eröffnung des "Krasnyj teatr" ("Rotes Rheater") in Leningrad
mit einer Inszenierung nach J. Reeds Sieben Tage, die die
Welt veränderten; ab 1926
leitender Regisseur des experimentellen Theaters am
Leningrader "Haus der Presse"; nach 1928 wird ihm weitere
Arbeit in Leningrad verwehrt; 1929 tritt er in Charkow und
der Ostukraine mit einem Wandertheater auf; im Januar 1931
in Dnepropetrowsk, verhaftet wegen angeblicher Beteiligung an
einer konterrevolutionären Organisation, 1931 bis 1935 im
GULAG beim Ausbau des Weißmeer-Ostsee und
Moskau-Wolga-Kanals; 1937 erneute Verhaftung, am 17.
Juni 1937 erschossen.
Tufanov,
Aleksandr Vasilévič
(Pseudonym Belomorski) (1877-1941?); russischer Dichter,
Philologe, Journalist, Theaterkritiker, Pädagoge; 1913-1917
Redakteru der Zeitschrift Severnyj gusljar
(Nördlicher Gusljar), 1917 erscheint der erste Gedichtband
Die Äolsharfe; 1924 Zu Zaum und 1927
Freibeuter; entwickelt seine Zaum´-Theorie unter dem
Einfluß Bergsons und Matjušins; November 1922 Nachruf auf
Chlebnikov; 1925 Gründung des literarischen Ordens DSO;
1931 verhaftet und nach Novgorod verbannt, dort Leiter
des Historischen Kabinetts im Pädagogischen Institut; ab
November 1941 verwischen sich die Lebensspuren; Charms reiht
Tufanov in seine Liste der "Naturdenker" und Petersburger
"weisen" Männer ein.
Vvedenskij, Aleksandr
Ivanovič (1904-1941); russischer Schriftsteller; studiert
zunächst Jura und wechselt dann zur Sinologie; 1921-1931
erste Ehe mit Tamara Mejer; er ist Mitglied des
literarischen Ordens DSO, beteiligt sich an der „linken
Flanke“ und nimmt am philosophischen Dichterkreis „Tschinari“
teil. Seit 1927 ist er Mitglied der
spätavantgardistisch-literarischen Vereinigung
OBĖRIU.
1931 heiratet er Anna Ivanter. Aus politischen Gründen
erfolgt am 13. Juli 1932 seine Verbannung nach
Kursk. Im Winter konnte
er nach Leningrad zurückkehren. Mitte der 1930er Jahre zieht
er von Petersburg nach Charkov um, wo er Galina Viktorova
heiratet. 1941 erfolgt die zweite Verhaftung. Er
stirbt am 20. Dezember 1941 auf einem Gefangenentransport
bei Charkov, während die deutschen Truppen vorrücken.
Es lohnt sich außerordentlich, das Werk von Gudrun
Lehmann zu lesen; denn es ist weit mehr als eine Ergänzung des
hier Geschriebenen!
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