BelletristikREZENSIONEN

Von Daniil Charms und seinem Pümmelpfötchen oder
Das Schreiben als Fest
 
Russin
Mein Leben mit Daniil Charms
Aus Gesprächen zusammengestellt von Vladimir Glozer
Aus dem Russischen von Andreas Tretner
Verlag Galiani Berlin 2010, 151 S.

Russe
Trinken Sie Essig, meine Herren
Werke, Band 1: Prosa
Herausgegeben von Vladimir Glozer und Alexander Nitzberg
Aus dem Russischen übersetzt von Beate Rausch, mit einem Nachwort von Alexander Nitzberg
Verlag Galiani Berlin 2010, 271 S.

Russe
Sieben Zehntel eines Kopfs
Werke, Band 2: Gedichte
Herausgegeben von Vladimir Glozer und Alexander Nitzberg
Aus dem Russischen übersetzt und herausgegeben von Alexander Nitzberg, von dem auch das Nachwort stammt
Verlag Galiani Berlin 2010, 313 S.

Russe
Wir hauen die Natur entzwei
Werke, Band 3: Theaterstücke
Herausgegeben von Vladimir Glozer und Alexander Nitzberg
Aus dem Russischen übersetzt und herausgegeben von Alexander Nitzberg, von dem auch das Nachwort stammt
Verlag Galiani Berlin 2011, 343 S.

Russe
Du siehst mich im Fenster
Werke, Band 4: Autobiographisches
Herausgegeben von Vladimir Glozer und Alexander Nitzberg, von dem auch das Nachwort stammt
Aus dem Russischen übersetzt von Beate Rausch
Verlag Galiani Berlin 2011, 231 S.

Der Berliner Galiani Verlag - 2009 gegründet - versteht sich als "Verlag, bei dem Entdeckungen zu machen sind. Egal, aus welchem Jahrhundert, egal in welchem `Genre´." Diesmal ist dies die vierbändige Werkausgabe, die uns den russischen Autor Daniil Charms (1905 bis 1942) als satirisch-grotesken Meister nahebringt. "Sein närrisches Gelächter", so der Verlag, "ist von seinen existentiellen Nöten nicht zu trennen. Von seiner Kunst zu reden, heißt immer auch, seine Person mit zu bedenken."

Dass wir uns des Buches von Marina Durnowo (1909 bis 2003) - der zweiten Ehefrau von Daniil Charms - erfreuen können, verdanken wir der Hartnäckigkeit Vladimir Glozers, der als Literaturhistoriker über vierzig Jahre lang Leben und Werk Daniil Charms studiert hat. Durch eine Freundin Marina Durnowos und durch Jelisaweta Tobilewitsch, der Schwester von Charms, wusste Glozer, dass es Charms´ zweite Ehefrau nach Venezuela verschlagen hat - nachdem sie aus der belagerten Stadt Leningrad mit einem letzten Transport evakuiert worden war, dann in eine von der deutschen Wehrmacht okkupierte Zone geriet, nach Deutschland verbracht und als Zwangsarbeiterin in einem deutschen Haushalt arbeiten musste. Aber wie sie in an der Karibik auftreiben und: Lebte sie noch? Die venezolanischen Botschaftsangehörigen bemühten sich vergeblich, ihre Adresse herauszufinden. "Ich hatte meinen Plan, Charms´  Frau zu finden", schreibt Glozer in seinem Vorwort, "schon so gut wie aufgegeben". Eines Tages verkündete der russische Künstler Leonid Tischkow, mit dem Glozer mehrere Bücher gemacht hatte, darunter zwei Charms-Ausgaben, dass er in Caracas eine Einzelausstellung haben werde. "Und", so Glozer, "das Unglaubliche geschah. Als Tischkow bereits wieder in Moskau war, machte seine venezolanische Bekannte doch noch die da schon siebenundachtzigjährige Marina Durnowo ausfindig." 1996 flog Vladimir Glozer nach Venezuela und klingelte nach zwanzigstündiger Reise spätabends an Marina Durnowos Wohnungstür. "Vor mir stand eine feine kleine Frau mit hellblauen Augen, sehr lebendig und beweglich, die wie ein kleines Mädchen durch ihre geräumige Wohnung lief, ja geradezu hüpfte. Edle Gesichtszüge und erlesene Manieren verrieten die aristokratische Abstammung." Marina Durnowos Mädchenname Malitsch stammt aus dem Serbischen, es ist der Name ihrer Großmutter; der Großvater war Fürst Golizyn. Die Golizyns sind ein bedeutendes, altes russisches Fürstengeschlecht litauischer Abkunft mit dem Fürsten Gediminas aus dem14. Jahrhundert als Ahnherrn. "Die Golizyns", erzählt Marina Durnowo ihrem Gesprächspartner Glozer, "waren nicht sehr reich, ein eigenes Haus besaßen sie nicht." Bald nach 1917 wird der fürstliche Großvater verhaftet und später vom Petersburger Gefängnis nach Moskau, zur Tscheka, verbracht. Da machte sich Marinas Großmutter auf nach Moskau, um die Freilassung ihres Mannes zu erwirken. Zu diesem Zweck stand sie "Schlange bei Gorkis Frau [Jekaterina Peschkowa],die Vorsitzende vom Roten Kreuz war. Dort stand sie eine Nacht und einen Tag, und am Ende stand sie bei ihr im Arbeitszimmer. Großmutter fiel auf die Knie und bat für ihren Mann. - Gorkis Frau sagte zu ihr: `Stehen Sie auf. Ich werde tun, was in meiner Macht steht.´ Und Großmutter kehrte zurück mit Großvater an ihrer Seite." Da war Marina Malitsch zwölf Jahre alt. Fünfzehn Jahre später wurde ihre Großmutter verhaftet. Nun machte sich Marina auf den Weg nach Moskau - auch zu Gorkis Ehefrau, die noch immer Vorsitzende vom Roten Kreuz war. Nach einem Blick in die Papiere, die Marina mitgebracht hatte, fragte Jekaterina Peschkowa: "´Ist das etwa dieselbe Fürstin Golizyna, die vor fünfzehn Jahren hier bei mir war?´ und  als ich bejahte, murmelte sie vor sich hin, daß es eine Schändlichkeit sei, eine so alte Frau abzuholen." Und dann habe sie versprochen: "Man wird Ihnen sagen, wo Ihre Großmutter gerade ist... Ich sehe zu, daß ich Ihnen helfen kann." - "Und ich nahm Großmutter mit nach Hause."

Daniil Charms, der mit bürgerlichem Namen Daniil Iwanowitsch Juwatschow hieß, hatte Marina Malitsch als junge Frau von  zweiundzwanzig Jahren kennengelernt. Stunde um Stunde, schreibt Vladimir Glozer, habe er an Marina Durnowos Lippen gehangen - in dem Wissen, "daß die letzte lebende Zeugin aus Daniil Charms Leben zu mir sprach". Daniil Charms - eventuell abgeleitet von dem englischen "charm" =  Zauber, Reiz, bezaubern, entzücken, reizen - gehört zu den Künstlern, deren Werk sich ohne Kenntnis des Lebensweges und des zeitgeschichtlichen Hindergrundes nicht erschließen lässt!

Charms erlebte als Dreizehnjähriger die Oktoberrevolution, die seine gutsituierte Familie von heute auf morgen mittellos machte. Nach Abschluss der Schule schloss er sich der Petersburger Avantgarde-Szene an, führte ein Bohéme-Leben - in bitterer Armut, aber immer spektakulär. Er lief herum wie Sherlok Holmes, schnitt Grimassen, trug einen Schnuller um den Hals; seine virtuosen, von Zauberkunststückchen begleiteten Lyrik-Rezitationen waren bald in aller Munde. Zu Lebzeiten erschienen von ihm nur zwei Erwachsenen-Gedichte, ansonsten hielt er sich - mehr schlecht als recht - mit den Honoraren für seine Kinder-Gedichte und Kinder-Geschichten über Wasser. Er wurde zweimal verhaftet und starb mit siebenunddreißig Jahren im Gefängnis.

Bis jetzt gab es in Deutschland Daniil Charms´ Texte nur verstreut in verschiedenen Ausgaben und Verlagen, in meiner Webseite sind vorgestellt: "Briefe aus Petersburg 1933" (Friedenauer Presse, 1988); "Zwischenfälle" (Luchterhand Literaturverlag, 2003); "Fälle" (Kein & Aber Records, 2003); "Seltsame Seiten" (Berlin Verlag, 2009). Jetzt nun ist die vierbändige Werkausgabe vom Berliner Galiani Verlag auf dem Markt und von Marina Durnowo (geborene Malitsch), das spannend-sympathische Buch Mein Leben mit Daniil Charms, in dem die Gefährtin seiner kompliziertesten Lebensjahre über ihn, über sich und ihre turbulenten Ehejahre erzählt. Nun wissen wir endlich mehr, viel mehr über des Dichters Lebensweg (doch warum 2010 die Erinnerungen Durnowos in der alten Schreibweise, so als hätte es in Deutschland die letzte Rechtschreibreform nie gegeben?):

Die „Chronologische Tafel zu Charms´ Leben“ (schwarz / kursiv) entnahm ich dem 1. Band der Werkausgabe, S. 265-269; der rote Text sind Angaben aus Marina Durnowos Buch, die ich den Lebensdaten jeweils zugeordnet habe. In eckigen Klammern stehen außerdem Informationen aus dem umfänglichen Werk von Gudrun Lehmann "Fallen und Verschwinden. Daniil Charms - Leben und Werk", diesem außerordentlich gut recherchierten, sehr umfangreichen Buch widme ich außerdem eine separate Rezension.

Marina Durnowo hat ihren Mann Daniil Charms um sechs Jahrzehnte überlebt. Als sehr positiv ist mir aufgefallen, dass sie an vielen Stellen des Biografie-Buches von Viktor Glozer sagt, dass sie sich nicht mehr erinnern könne... dass ihr das eine oder andere entfallen sei... Um so glaubwürdiger ist, was sie nach so vielen Jahrzehnten erinnert... Zum Beispiel  erzählt sie, dass ihr Danja (so nennt sie Daniil Charms) sie einmal mitten in der Nacht geweckt habe, um mit ihr den Ofen rosa anzustreichen. Hätte eine andere Frau wegen einer solchen Zumutung die Scheidung eingereicht, so hielten sich diese beiden "die Bäuche vor Lachen".  Oder: Daniil Charms habe einmal von dem wenigen Geld, das ihnen zur Verfügung stand, Konzertkarten zusammengespart - für Bachs "Matthäuspassion"; denn er habe Musik über alles geliebt. "Danja hat mich vorbereitet, mir alles erklärt, ich war ganz Ohr. (...) Es war etwas Unerhörtes. Schauer rieselten mir über den Rücken. Die Leute saßen da mit gefalteten Händen, zusammengekrümmt, weinend. Auch ich mußte mir die Tränen abwischen." Die Aufführung des Stücks "über das Sterben Christi" war in der Sowjetunion  lange Zeit verboten. In den dreißiger Jahren wurde es nur ein einziges Mal, zu Ostern, aufgeführt. Danja sei, schreibt Marina Durnowo, "tief gläubig gewesen". Oder: Marina hat Charms Tagebuch erst nach seinem Tod gelesen. Zwar habe er es nie versteckt, aber sie hätte nicht darin lesen können, ohne das Gefühl zu haben, wie ein Wurm in das Leben eines anderen Menschen hineinzukriechen. "Lese ich jetzt in diesem Tagebuch (...), dann sehe ich, wie kindlich doch vieles darin ausgedrückt ist. Ja, in Danja steckte dieses Kind..." Konnte er sich deshalb so in die Kinderseelen hineinfinden, dass die Kleinen von seinen Gedichten und Geschichten nicht genug bekommen konnten? Oder: "Wir hatten viele jüdische Freunde. Danja vor allem. Sein Verhältnis zu Juden war von besonderer Herzlichkeit geprägt. Und sie suchten seine Nähe." Warme Worte findet Marina über die Schwarzens, Natascha und Anton, die immer bereit waren, ihnen zu helfen. "Jederzeit." Die Schwarzens haben Marina und Daniil häufig eingeladen. "Anscheinend bekamen sie mit, daß wir hungerten, und gaben sich Mühe, uns aufzupäppeln und ein bißchen aufzuwärmen. Und daß wir mit Freuden zulangten, war ihnen recht. Ich spürte (nicht, daß es zu sehen gewesen wäre, sie zeigten es nicht offen), man war bereit, uns zu helfen. (...) "Es kam auch vor, daß die Schwarzens uns Geld borgten. Als Danja einmal eine dieser Schulden beglich, improvisierte er dazu das folgende: Hundert Rubel auf die Hand / und mit Dank zurück. / Von der Hoffnung, EUCH zu sehn / bin ich hin und weg."// Oder: Eines Nachts hatte sich Charms in den Kopf gesetzt, auf Rattenjagd zu gehen. Dazu zogen er und Marina das Schäbigste an, was sie hatten und "jagten Ratten, die es nicht gab". Diese und viel viel mehr bezaubernd-einprägsame Einzelheiten über Daniil Charms hat Vladimir Glozer seiner Zeitzeugin Marina Durnowo entlockt...

Marina Durnowo verstarb 2003, Vladimir Glozer 2009 - da ist es leicht für diverse "OBERIUten-Fachleute", die Biographie als frei erfunden zu bezeichnen. Dabei müssten sich die Aufzeichnungen doch nachweisen lassen, die Glozer - "der Technik mißtrauend - sicherheitshalber auf zwei Tonbandgeräten" mitgeschnitten hat!!! Auch Gudrun Lehman formuliert, wenn auch sehr vorsichtig, ihr Misstrauen, indem sie schreibt: "...aufgrund der zeitlichen Distanz und der gelenkten Gesprächsführung" sei die Biographie "eine nur bedingt zuverlässige Quelle"; dennoch zitiert Gudrun Lehmann Marina Malitsch / Durnowo an zwölf Stellen ihres Buches - der ersten Gesamtdarstellung (weltweit?) zum Leben und Werk Daniil Charms.

Einige Rezensenten greifen die Gedanken des Nachwortschreibers Alexander Nitzberg auf, dass ein Wunder geschehen sei, da der Musikwissenschaftler und Philosoph Jakow Druskin (1902 bis 1980) die im September 1941 halbzerbombte Wohnung der Juwatschows aufgesucht habe, um gemeinsam mit Marina Malitsch die Texte des im Leningrader Gefängniskrankenhaus gestorbenen Charms´ zu retten.

Ich halte dies nicht so sehr für ein Wunder, sondern vielmehr für einen echten Freundesdienst!

Verstaut in einem Koffer, harrten die geretteten (meist handschriftlichen) Werke Charms dann jahrzehntelang der Veröffentlichung. Das umfangreiche Material, schreibt der Mitherausgeber und Übersetzer Nitzberg in einem Nachwort zur Werkausgabe, sei in einem vollkommen labyrinthischen Zustand gewesen, ungeordnet und unübersichtlich;  ich kann mir lebhaft vorstellen, was allein dieses "Sortieren" an Arbeit für einen Herausgeber bedeutet;  gelegentlich sei in Charms, obwohl er an eine Veröffentlichung schon nicht mehr glaubte, "der literarische Ehrgeiz und Ordnungswille erwacht, so dass er einzelne Texte zu kleinen Zyklen gewissermaßen in Reinschrift zusammenstellte (wie etwa die berühmten `Vorfälle´"). Erstaunlicherweise waren bei Charms´ Verhaftung 1931 nur fünf seiner rund vierzig Notizbücher bei der Haussuchung 1941 beschlagnahmt worden, offenbar weil die Beamten die Kritzeleien Charms´ für die eines Geistesgestörten gehalten hatten; denn "es war eine Überlebensstrategie von Charms gewesen, den Behörden gegenüber Schizophrenie vorzutäuschen". Der erste russische Versuch, das Werk Charms als Ganzes zu publizieren, scheiterte 1978 auf Grund von staatlichen Repressalien. Der zweite - gelungene - Versuch  einer Gesamtedition erfolgte durch Waleri Saschin nach dem Zerfall der Sowjetunion von 1997 bis 2002. Seit 2011 liegt nun endlich auch eine deutschsprachige vierbändige Werkausgabe vor - mit Prosa, Gedichten, Theaterstücken und Autobiographischem (Briefe, Notizen, Tagebucheintragungen, Traktaten). Der Mitherausgeber Alexander Nitzberg hat in dieser Werkausgabe - im Gegensatz zu den meisten Herausgebern der Charms´schen Werke zwischen den einzelnen Genres - "so gut es nur ging" - unterschieden und auf die vier Bände verteilt. Die Konzeption und die Auswahl lagen zunächst in den Händen von Vladimir Glozer, "einem subtilen Kenner der Charms´schen Texte". Nach Glozers Tod im April 2009 setzte Alexander Nitzberg die Arbeit fort. Glozers Beziehung zu Charms´ Werk sei trotz seiner literaturwissenschaftlichen Tätigkeit, weniger akademisch als vielmehr persönlich gewesen, meint Nitzberg. "Sein Wissen über die Oberiuten stammt nicht aus Büchern, sondern aus direktem Kontakt mit deren ehemaligen Freunden und Kollegen. Jahrelang war er Privatsekretär der Kinderbuchautoren Samuil Marschak und Kornej Tschukowski, die beide Anfang der 1930er Jahre in den Redaktionen der (Kinder) Zeitschriften  `Igel´ und `Zeisig´ mit Charms zusammengearbeitet hatten. Er betätigte sich als Rezitator und nahm Kinderverse von Charms auf Schallplatten auf."

Der erste Band enthält Charms´ wichtigste Erzählungen und seinen einzigen Roman. Als Charms mit etwa achtzehn Jahren seine literarische Tätigkeit begonnen hatte, habe er sich zunächst als Lyriker gesehen, schreibt Alexander Nitzberg im Nachwort seines Prosa-Bandes. Seit 1928 dann, da ist Charms dreiundzwanzig Jahre alt, habe er angefangen Texte zu schreiben, auf welche die Bezeichnung "Prosa" zutreffe. Pate für Charms´ Erzählweise, meint der in Moskau geborene und heute in Wien lebende Nitzberg, ständen zum Beispiel Nikolai Gogol "mit seinen grellen Beschreibungen, Fjodor Dostojewski mit seinen Psychogrammen der Personen und vor allem Knut Hamsun mit seiner latenten trockenen Ironie und der Vorliebe für absurde Konstellationen". Inzwischen bin ich - durch beharrliches Charms-Lesen - gegenüber dem Menschen und Künstler Charms ehrlich aufgeschlossen und weiß, dass ich mich nicht für  bekloppt halten muss, wenn ich auch fürderhin viele von Charms´ Texten nicht verstehe, zum Beispiel diesen (S. 69): Möchten Sie, dass ich Ihnen eine Geschichte über diesen Kikrukiki erzähle? Das heißt, nicht Kikrukiki, sondern Kirikuki. Oder nein, nicht Kirikuki, sondern Krikikiku. Puh! Nicht Krikrikiku, sondern Kukerukiki. Nein, nicht Kukerukiki, sondern Kerikriukiki. Nein, wieder falsch! Krikrikruku? Nein, nicht Krikrikruku! Kirikurkiki? Nein, wieder falsch! - Ich hab vergessen, wie dieser Vogel heißt. Und wenn ich es nicht vergessen hätte, dann würde ich Ihnen eine Geschichte erzählen. Über diesen Kikerikikrukukiki. // 1934-1935 //. Gelesen, ist es wohl einer von Charms Nonsens- (Unsinn-)Versen. Aber man stelle sich diesen "Hähnchen"-Text einmal mündlich vorgetragen auf einer entsprechend ausgestatteten Bühne vor? Charms soll ein Könner im Rezitieren gewesen sein...  Vielleicht auch noch verkleidet? Auch darin war Charms ein Könner. Mich jedenfalls lässt dieser Zungenbrecher an Loriot / Hamanns Zungenbrecher "Die Englische Ansage" denken.

 Ihn  interessiere nur Quatsch, nur das, was gar keinen praktischen Sinn macht, soll Charms 1937 in sein Tagebuch geschrieben haben.  Vielleicht steht in seinem Tagebuch russisch вздор, was man sowohl mit "Quatsch" als auch mit "Unsinn" übersetzen kann. Und Unsinn, finde ich, ist etwas anderes als Quatsch... - Der kürzeste Text des ersten Bandes (auf S. 196) ist "Aus dem himmelblauen Heft" eine einzige Zeile lang und lautet: Heute habe ich nichts geschrieben. Das hat nichts zu sagen. // 9. Januar 1937 // Und weiter über das tägliche Schreiben im "Himmelblauen Heft" (S. 199): "Schluss mit Müßiggang und Untätigkeit! Schlag jeden Tag dieses Heft auf und schreib nicht weniger als eine halbe Seite hinein. Wenn es nichts zu schreiben gibt, dann schreib wenigstens, Gogols Rat gemäß, dass es mit dem Schreiben heute nicht geht. Schreibe immer mit Interesse und betrachte das Schreiben als Fest. // - Der längste Text dieses Bandes ist "Die Alte". Ein Roman? Eher doch eine längere Geschichte über eine tote alte Frau, die zum Schluss samt Koffer geklaut wird... Interessant, dass Charms seinem Text Zeilen von Knut Hamsun voranstellt und: wie er in "Die Alte" gegen Kinder vom Leder zieht. (Siehe die Rezension zu Charms´ "Seltsame Seiten".) -  Die Übersetzungen von Beate Rausch werden von dem Lyriker, Librettisten, freien Schriftsteller, Publizisten, Übersetzer, Nachdichter, Rezitator Alexander Nitzberg - zu Recht, wie ich finde - sehr gelobt. Ihr Ton  sei, so schreibt er, markig und hart zupackend, Charms´ Texte würden auch davon profitieren, dass Beate Rausch seit Jahren in St.Petersburg lebt - in einem geografischen und sprachlichen Umfeld also, wo die Charms´schen Texte selbst ihren Ursprung finden. "Solch eine Nähe zum russischen Alltag ermöglicht es ihr, gewisse Feinheiten jenes Jargons zu verstehen, den der Dichter durchgehend benutzt: Denn seine Erzählungen bewegen sich permanent im allgemeinen Leningrader Slang. Und wie immer bei der Idiomatik, wird zwischen den Wörtern mehr gesagt als mit den Wörtern. So kommt es, dass ihre Übersetzungen viele `dunkle Passagen´ der älteren lichten, manches zum ersten Mal richtigstellen.  Nitzberg nennt zahlreiche Beispiele dafür, wie Missverständnisse bzw. falsche oder ungeschickte Übersetzungen von Buch zu Buch und von Übersetzer zu Übersetzer weitergegeben worden sind. Ein (ausführliches) besonders kurioses  Beispiel sei hier zitiert: "In den `Anekdoten aus dem Leben Puschkins´ sagt Schukowski zum Letzteren auf  Russisch: `Da nikako ty pisaka!´ Dieser gereimte und ulkige Satz, der die altertümliche Sprache auf die Schippe nimmt und unterschwellig sogar mit fäkalen Anklängen spielt, drückt eindeutig ironisches Staunen und Bewunderung für den dichtenden Kollegen aus, wie etwa: `Aha! Du bist also von der schreibenden Zunft!´ Dieses antikisierende `nikako´ bereitete indes allen bisherigen Übersetzern Schwierigkeiten und wurde stets irrtümlich als Negation aufgefasst. So schreibt Tschörtner: `Du bist ja überhaupt kein Schreiber!´, was den Sinn des Satzes komplett verdreht! Ebenso Kay Borowsky in den `Fällen´ (Stuttgart, 1995): "Aber du bist doch kein Schreiber!´ So bleibt das Ende der Anekdote kryptisch: Bei Tschörtner heißt es: `Da schloß Puschkin Shukowski ins Herz und nannte ihn freundschaftlich nur noch Shukowoi.´ Abgesehen davon, dass bei Charms von `Shukowoi´ keine Rede ist (er nennt ihn `Žukov´), ist unklar, warum der so gern schreibende Puschkin sich darüber freuen soll, dass er auf einmal kein Schreiber ist. Tschörtner erblickt darin eine Art unübersetzbares Wortspiel und versucht das Problem durch eine Fußnote zu dem von ihr erfundenen Namen `Shukowoi´ zu lösen: `svw.: der Käferartige´. Obwohl `žuk´ tatsächlich `Käfer´ heißt, existiert das Wort `Shukowoi´ im Russischen nicht und bedeutet auch nicht `der Käferartige´ (dazu müsste es `žukoobraznyj´ oder ´žukopodobnyj´ heißen.) Aber selbst  wenn es stimmen würde, bliebe der Zusammenhang schleierhaft. Borowsky schreibt: `Da gewann Puschkin Shukowskij lieb und nannte ihn von nun an freundschaftlich einfach `Shuk´ und belässt die Passage unkommentiert. Urban übersetzt wie immer wortwörtlich: "Da gewann Puškin Žukovskij sehr lieb und nannte ihn von nun an freundschaftlich Žukov´, und auch hier bleibt das Ende vollkommen offen. Die Lesart, die er in der Endnote vorschlägt, ist allerdings noch um einiges abstruser: `Žukov  - žuk: der Käfer; ob Charms hiermit Figuren der Zeitgeschichte, z. B. G. K. Žukov, 1896 bis 1974, Militär, Marschall ab 1943, im Auge hatte, ist ungeklärt. Žukov war Befehlshabender der Truppe des Bezirks Leningrad´... Lesen wir dagegen die neue Übersetzung von Beate Rausch, entfällt die Notwendigkeit einer Anmerkung, denn die Situation klärt sich von selbst: `Puschkin war Dichter und schrieb immerzu irgendwas. Einmal traf ihn Schukowski beim Schreiben an und rief laut aus: `Potz Blitz, ein richtiger Dichtiger!´ Seitdem mochte Puschkin Schukowski sehr gern und nannte ihn freundschaftlich einfach Schuki.´ Nicht nur trifft sie [Beate Rausch] als Einzige den Sinn, sondern sie übernimmt auch noch die verspielte Ironie und den Reim des Originals. Auch in anderen Texten gehört es zu den Vorzügen der neuen Übersetzung, dass es ihr gelingt, die stilistischen Eigenheiten weit genauer wiederzugeben, als es die früheren tun." Zu ergänzen wäre noch, dass in einer der absichtlich wenigen Anmerkungen von Nitzberg erklärt wird, dass es sich bei Schukowski um Wassili Schukowski (1783 bis 1852) handelt, einem russischen Dichter, Übersetzer und Erzieher des Thronfolgers Alexander I., der als Begründer der russischen Romantik gilt und als kongenialer Übersetzer deutscher Klassiker; Schukowski war mit Puschkin eng befreundet und verwaltete dessen Nachlass.

Unbehaglich ist mir allerdings, in welchem Ton der renommierte Herausgeber, Übersetzer, Nachdichter Alexander Nitzberg mit dem renommierten Herausgeber, Übersetzer, Nachdichter Peter Urban umspringt. Zwar hat Nitzberg Recht mit seinen angeführten Beispielen, aber ein kollegial-freundschaftliches Verweisen auf Fehlerhaftes hätte mir mehr zugesagt... Deshalb hiermit ein freundlicher Hinweis an Nitzberg von mir: Im Band 1, S. 116 / 117 mutiert in der Geschichte "Geburtstagsmarsch" Chrytschow zu Chruschtschow. Statt charms´scher Absicht - das Gedicht entstand am 2. August 1938 - scheint mir hier eher der vermaledeite Tippfehler-Teufel seine Hufe im Spiel zu haben... Und warum werden bei der Übertragung der Texte von Nitzberg mal die russischen Namen des Originals beibehalten und mal nicht? Nur des Reimes wegen? Bei einem Charms´schen Gedicht von 1929 finde ich es geradezu sträflich, den Namen Anne zu gebrauchen, nur weil er sich auf Tanne reimt...; denn da heißt es: liebe Patentante Anne / wo ist unsre Weihnachtstanne / und ihr Stiefel wo ist der / tja der nutzte wohl nicht sehr //; denn die Patentante von Charms ist seine Tante Natalja (Natascha) Koljubakina und im russischen Original steht da dann auch nicht zufällig "Natascha" und nicht "Anne".

Der zweite Band enthält über zweihundert Gedichte, geordnet nach: Frühe Gedichte / Gemischte Gedichte / An oder über Freunde / Kindergedichte / Reklamegedichte / Agitprop-Gedichte / Kurz- und Kürzestgedichte / Naturgedichte / Verliebte Gedichte / Erotische Gedichte / Balladen und Moritaten / Philosophische Gedichte / Gebete und Meditationen / Von Greisen und Weltuntergängen / Verzweifelte Gedichte. Darüber hinaus, schreibt Nitzberg, ergaben sich zahlreiche Fragen: "Welche der erhaltenen Werke dürfen mit vollem Recht als poetische Produktionen gelten (und nicht etwa als Dialoge, Traktate etc.)? Sind sie fertig oder nur Skizzen? Hat der Autor sie akzeptiert oder verworfen?" Daniil Charms, schreibt Nitzberg in seinem Nachwort zum zweiten Band, sei kein Schreibtischautor, allem Akademischen und "rein Literarischen" bringe er bestenfalls Spott entgegen. "Er ist von Kopf bis Fuß ein Artist und liebt allein das Außergewöhnliche. Er zeichnet, musiziert, singt, steppt, betätigt sich als Akrobat, Chansonnier, Schauspieler, Jongleur und Zauberer. Er verkleidet sich, spielt Schach und Billard, beschäftigt sich mit okkulten Lehren, konsumiert Äther, gibt sich sexuellen Ausschweifungen hin und entwirft absonderliche Maschinen." Auch sein Umgang mit Sprache habe alle Kennzeichen solcher Exzentrik, und die Verse seien nicht dazu bestimmt, ihr Dasein im Bücherstaub der Universitätsbibliotheken zu fristen - "erst im lebendigen Vortrag und im Gestus erwachsen sie zum wirklichen Leben".

Wohl wahr!!!

Bisher wurde in Deutschland von Daniil Charms gerade mal das Marionettenstück "Zirkus Schardam" des Öfteren aufgeführt, und hier und da wurden in kleinem illustrem Kreis seine Texte aufgesagt. Seitdem beim Galiani Verlag der letzte Band der vierbändigen deutschsprachigen Werkausgabe mit den zum Teil neu übersetzten Texten von Beate Rausch und Alexander Nitzberg erschienen ist, war ich in Berlin ganz kurz hintereinander zu zwei ganz groß(artig)en Veranstaltungen, Charms betreffend: Die eine ging im ausverkauften großen Saal des Berliner Festspielhauses über die Bühne und war ein Gastspiel des Wiener Burgtheaters, die andere fand in der ebenfalls ausverkauften Volksbühne statt. Die Wiener Aufführung "Zwischenfälle ist eine Szenenfolge nach Texten der französischen Autoren Georges Courteline und Cami sowie dem Russen Charms; Regie führte Andrea Breth, die ihre zehn Darsteller in beinahe neunzig Rollen dreißig Szenen formen ließ - zu einem Panorama der seltsamsten "Zwischenfälle". Das Publikum dankte mit vielen herzerfrischenden Lachern und geizte auch nicht mit Szenenapplaus. Ich war hingerissen (was so oft nun auch wieder nicht vorkommt...).- Im Grossen Haus Am-Rosa-Luxemburg-Platz fand unter dem Titel "CHARMS JETZT!" ein Showcase mit drei Slampoeten, vier Schauspielern und zwei Moderatoren statt. Charms stimme immer, meint die Volksbühne, und ist trotzdem jetzt dran! "Jetzt gehen die Schauspieler die Gelegenheit an, Charms-Texte in den Körper und über die Lippen zu bringen, und die Poeten nehmen die Gelegenheit wahr, dem Jahrhundertgenie Charms zu huldigen, indem sie sein Leben in ihrem Slang verdichten und zum Vortrag bringen. Charms gilt als Klassiker des existentiell Absurden, Meister des Paradoxen und Genie des komischen kosmischen Leerlaufs. (...) In virtuoser Sinnverdichtung werden die Figuren Charms auf brutalstkomische Weise gedemütigt und verstümmelt, sie stolpern durch die Idiotie des Alltags, fallen oder lösen sich bis hin zum völligen Verschwinden auf. Auch das Werkzeug der Sprache selbst verliert auf unnachahmlich groteske Weise ihren Sinn. Ein Fest für alle, die den Nonsens und den Abgrund lieben", so steht´s im Programmzettel. Obwohl ich eigentlich für Nonsens gar nicht zu haben bin, war die mehr gespielte als gelesene Textrevue in der Volksbühne ein wunderbarer russischer Abend; in der Pause gab´s  einen (kitzekleinen)  Wodka und ein Scheibchen süßsaure Gurke, russisch eingelegt.

Noch ist Charms in Deutschland ein  Autor für einen kleinen Kenner-Kreis, der sichtbar größer wird. In der Süddeutschen Zeitung war zu lesen, dass derjenige, der zwei Hosen, besitze, eine verkaufen solle, um sich für diese Summe die vier Bände vom Galiani-Verlag zu kaufen. Ein guter Tipp, denn diese Werkausgabe ist  wahrhaftig eine liebevoll ausgestattete Edition mit Zeichnungen von Charms und vielen neu übersetzten Texten auf        Papier. Das Ziel der Ausgabe, schreibt Nitzberg, sei es nicht, Charm´s Gedichte "nachzuerzählen", sondern sie für sich selbst sprechen zu lassen, sie goutierbar zu machen. "Nicht mit Hilfe von Kommentaren und Verweisen auf Sekundärquellen sollen die Verse vorgestellt werden (wieder ein Dolchhieb gegen Peter Urban), sondern unmittelbar  - durch die Kunst der Übertragung. Hier zum Vergleichen die jeweilige Fassung von Urban und Nitzberg.

Kleines Lied (Übersetzung: Peter Urban)                           Liedchen (Übersetzung: Alexander Nitzberg)                 

Einst ging ein Mensch aus seinem Haus                              Ein Mann mit Säckchen und mit Stock
in Mantel, Stock und Hut.                                                    trat einmal aus dem Haus
Lang ist der Weg                                                                und in die Wolt,
lang ist der Weg                                                                 und in die Wult,
der vor ihm auf sich tut.                                                       und in die Welt hinaus.
 
Er ging und schritt geradeaus                                              Er schaute nur geradeaus,
und schaute nicht beiseit.                                                   geradeaus er lief,
Nicht schlief nicht trank,                                                      wobei er
nicht trank nicht schlief                                                       weder trank noch aß
er gestern, morgen, heut.                                                    noch aß noch trank noch schlief.                                   
 
Und eines Tags im Morgengraun                                          Bis er sich eines Morgens früh                                                
stand er im dunklen Wald,                                                   im dunklen Wald befand,
und seit der Zeit,                                                                worauf er dinn,
und seit der Zeit                                                                 worauf er donn,
er für verschwunden galt.                                                    worauf er dann verschwand.
 
Begegnet ihr ihm irgendwann                                              Und trifft ihn einer unter euch
an irgendeiner Stell,                                                           so rein eventuell,
dann sagt es uns                                                               dann sagt es ins,
dann sagt es uns,                                                              dann sagt es ans,
dann sagt es uns ganz schnell.                                           dann sagt es uns ganz schnell.

Dieses Gedicht von Daniil Charms erschien im März 1937 in der Kinderzeitschrift "Zeisig", weshalb es Nitzberg (verständlich, wie ich finde) bewusst als Kindergedicht übertragen hat! Urban hingegen, stellt Nitzberg fest, stelle das Kindliche des Gedichts ungerechtfertigt in Frage... Hm. Aber darf man bei der Übersetzung so weit gehen, dass man zum Beispiel "dinn und donn und dann" dazu erfindet?

Im dritten Band sind Dramen und Szenen veröffentlicht. - Gegen Ende des Jahres 1926 war im Umfeld des Leningrader Instituts für Kunstwissenschaft eine studentische Gruppe namens Radix entstanden, "die sich in allen erdenklichen Formen des Theaters übte" (Nitzberg). Einer der Gründer der Radix-Gruppe war der Charms-Freund Igor Bachterew (1908 bis 1996), Lyriker, Prosaschriftsteller, Dramatiker und Künstler. Radix experimentierte insbesondere mit dem sogenannten  Akzentvers. "Der Parodie und der Verfremdung", schreibt Alexander Nitzberg im Nachwort zum vierten Band, sei eine wichtige Rolle zugefallen. Nach zahlreichen intensiven Proben habe sich die Gruppe allerdings aufgelöst  und auch das von Alexander Wwedenskij und Daniil Charms für Radix geschriebene Stück "Meine Mutter ganz in Uhren" sei verloren gegangen. Im November 1927 bildete sich dann die Gruppe OBERIU (Vereinigung für reale Kunst); das U haben die Gründer der Gruppe (aus Ulk) einfach angehängt - als Parodie auf alle "ismen". Die OBERIU übernahm auf dem Gebiet der Dramaturgie "im Großen und Ganzen die Positionen von Radix und hielt sie in ihrer Deklaration fest. Vorbild für die OBERIUten war u. a. die russische Folklore mit ihren Gauklern. Anfang 1928 erfolgte eine große Präsentation der OBERIUten, die als "Drei linke Stunden" in die Literatur-Theater-Film-Geschichte eingegangen ist. Der erste Teil der drei Stunden war der Lyrik vorbehalten, der zweite Teil der Theaterarbeit, der dritte der Filmkunst. Daniil Charms steuerte das Stück "Jelisaweta Bam" bei, das unter seiner Regie aufgeführt wurde. Im dritten Band der Werkausgabe ist "Jelisaweta Bam" der längste Text. Er beginnt damit, dass zwei verschiedene Stimmen hinter der Tür Jelisaweta Bam sehr energisch auffordern, die Tür zu öffnen. Jelisaweta Bam fürchtet sich, hat Angst, dass "die" reinkommen, dass "die" sie töten. Sie denkt an Flucht. Doch sie könnte "die" auf der Treppe treffen... Ich denke sofort an "die" vom russischen Geheimdienst NKWD. Wollen "die" sie abholen? Doch 1928? Das waren ja noch nicht die dreißiger Schreckensjahre... Nitzberg gibt in seinem Nachwort darauf keine Antwort. Eine Antwort finde ich in Gudrun Lehmanns Werk "Fallen und Verschwinden. Daniil Charms - Leben und Werk". Der Auslöser für das Stück, schreibt die Autorin, könnte die 1927 erfolgte Festnahme des Radiks-Redakteurs Georgi ("Gaga") Kacman (Katzman 1908 bis 1985), eines Freundes von Charms, gewesen sein. "Charms hält Datum und Uhrzeit ausdrücklich fest: `Sonnabend. 16. Apr. Um zwei Uhr mittags Verhaftung von Gaga K.´"

An dieser Stelle sei schon einmal darauf hingewiesen, dass beide Verlagsunternehmen schwer zu vergleichen sind. Wird bei der Werkausgabe des Berliner Geliani Verlages der meiste Platz dem Werk Charms´ eingeräumt, und je Band jeweils in einem fundierten Nachwort interpretiert, so hat im Verlagsunternehmen des Wuppertaler Arco Verlages die Interpretation Priorität und das Werk Charms´ wird meist nur auszugsweise zitiert. Ideal wäre sicherlich gewesen, wenn die sechs Bücher in einem Verlag erschienen wären. Der geneigte Leser hätte sich dann nicht noch zusätzlich mit der wissenschaftlichen Transkription herumschlagen müssen...

Charms teilt sein Stück "Jelisaweta Bam in neunzehn szenische Abschnitte ein: 1. Realismus, Melodram. / 2. Realismus, Komödie. / 3. Absurde Komik, naiv. / 4. Realismus, Alltagskomödie. / 5. Radix, rhythmisch. / 6. Radix, alltäglich. / 7. Festliches Melodram, Radix-betont. / 8. Verschiebung der Höhen. / 9. Landschaftsbild. / 10. Monolog zur Seite, zwei Schichten. / 11. Ansprache. / 12. Tschinari. / 13. Radix. / 14. Pathos, klassisch. / 15. Pathos, balladesk. / 16. Spieluhr. / 17. Pathos, physiologisch. / 18. Realismus, trocken offiziös. / 19. Kadenz, opernhaft. // "Das Spiel mit dramatischen Kategorien ist vor allem eine Parodie auf das Theater selbst", schreibt Gudrun Lehmann. Alle Kategorien seien parodiert, nicht aber verspottet.

Neben dem "Paradestück" "Jelisaweta Bam" finden sich im dritten Band Stücke und Szenen für Kinder, Szenen in Prosa für Erwachsene und Szenen in Versen.

Der vierte Band gilt dem Menschen Charms, er beinhaltet von Beate Rausch zusammengetragene und zum Teil erstmals übersetzte Briefe, Tagebucheintragungen und philosophische Traktate. Die Texte, so Alexander Nitzberg, "zeugen von einer permanenten  Beschäftigung mit dem gesamten Erbe der menschlichen Kultur - ob in der bildenden Kunst, der Literatur, der Musik, der Philosophie, der Religion, der Mystik oder des Okkultismus. Die Texte vermittelten auch einen Eindruck "von dem gewaltigen Beziehungsgeflecht, in welchem Charms sich zeit seines Lebens bewegte, von seinen Kontakten zu anderen Künstlern und Intellektuellen". Zu seinen Freunden und Bekannten zählten berühmte Musiker wie Maria Judina, bildende Künstler wie Kasimir Malewitsch, Regisseure wie Igor Terentjew, Dramatiker wie Jewgeni Schwarz und Schauspieler wie Klawdia Pugatschowa. Charms Texte mit autobiografischem Bezug durchleuchten den ständigen Kampf des Autors gegen die eigenen fünf Sinne, gegen Schwächen und Komplexe, gegen sexuelle Obsessionen." Apropos Sex. Da bis auf zwei Erwachsenengedichte von Charms zu Lebzeiten nur Kindergedichte und -geschichten erschienen sind, finde ich die Veröffentlichung mancher Texte fragwürdig, weil sie (ganz sicherlich) von Charms nicht für eine Veröffentlichung bestimmt gewesen sind, zum Beispiel S. 48 / 49: "Es ist das Jahr 1828, 31. Januar. Esther hockt bei meiner Schwester... Warum soll ich wegen dieser Göre leiden? Ich tue viel, was ich gar nicht tun wollte, und ich tue vieles nicht, was ich tun würde - einzig aus dem Grund, sie nicht zu kränken.  - Aber ich bin mit meiner Geduld am Ende. Wieso ziert sie sich? Wenn sie bloß geradeheraus sagen würde: ja oder nein. Sie ist sowieso von vorne bis hinten durchgefickt. Wenn sie mich liebt, dann hätte sie von sich aus in den geschlechtlichen Beziehungen entgegenkommender sein müssen. - Ich verstehe sie nicht. - Aber es ist wohl besser, sie in die Wüste zu schicken. Hau bloß ab, du Nutte und Gebieterin! - Ich habe genug von deinem Benehmen. Geh, wohin du willst, und wackel da mit deinem Hintern." Oder am 4. Dezember 1928, S. 71: "Bei diesem Aas komm ich nicht an, und darum versuch ich´s erst gar nicht. Pfeif drauf. - Dina Wassiljewna kann niemals die meine werden. Sie wird die eines andern. Ich möchte es ihr französisch machen. [...] Dina hat eine schöne Fotze." - Die zahlreichen Freunde und Bekannten Charms sind in seinen Texten oft nur mit ihrem Vor- und Vatersnamen genannt, manchmal sogar nur mit ihrem Kose- oder Spitznamen. Da finde ich es sehr hilfreich, dass uns der Herausgeber Nitzberg in zahlreichen Anmerkungen nicht nur den vollen Namen mitteilt, sondern uns auch lästiges Nachschlagen in Lexika erspart und uns vermittelt, um wen genau es sich handelt - mit Lebensdaten, Funktion, Beziehung zu Charms... - Nitzberg geht in seinem Nachwort ausführlich auf das "lyrische Ich" in der russischen Literatur ein. So habe bereits Alexander Puschkin lebende Gestalten aus dem eigenen Umfeld in die Fiktion des Versromans `Eugen Onegin´ eingeführt wie zum Beispiel seinen Freund Peter Wjasemski. "Aber das eigentliche Experiment mit solchen Überlappungen und Verschiebungen begann in der Moderne. Das allgegenwärtige und göttergleiche "`lyrische Ich´ der Avantgardisten wurde oft - paradoxerweise - mit dem Namen, den Charakterzügen und der Biografie des jeweiligen Dichters ausdekoriert". 1914 schrieb Wladimir Majakowski das Theaterstück mit dem Titel "Tragödie Wladimir Majakowski". Nitzberg nennt als weitere Beispiele den futuristischen Dichter und Flieger Wassili Kamenski, der sich in seinem Gedicht "Provokation" die Identität mit dem eigenen "lyrischen Ich" mit der abgedruckten Nummer seiner amtlichen  Pilotenlizenz bestätigte. Besagter Kamenski stellte sich auch selbst als "lebendes Denkmal" aus. Die Imaginisten Wadim Scherschenewitsch, Anatoli Marienhof und Sergej Jessenin benannten während einer nächtlichen Aktion Moskauer Straßen nach sich selbst um. (Vielleicht ein Tip für die Berliner "Piraten"...) "Stark performative Züge", meint Nitzberg, habe 1914 der Selbstmord des Ego-Futuristen Iwan Ignatjew getragen, der sich am Tag seiner Hochzeit vor dem Spiegel die Kehle mit einem Rasiermesser durchschnitt - "eine bizarre Selbstinszenierung, die gleichsam als lebendes (oder sterbendes...) Gedicht konzipiert war", so Nitzberg über diesen makabren Suizid. Mein Gott, ich stelle mir vor, ich wäre die Braut gewesen... 

1905
Am 17. (30). Dezember** wird Daniil Charms als Daniil Iwanowitsch Juwatschow in St. Petersburg*** geboren. [Seine Geburtsstadt ist in jenem Jahr Ausgangspunkt der ersten russischen Revolution: Am 9. (22.) Januar 1905 lösen Soldaten eine friedliche Demonstration streikender Arbeiter auf dem Weg zum Petersburger Winterpalais des Zaren brutal auf; das Blutbad vom "Roten (Blutigen) Sonntag" ruft eine Welle von Protesten und Unruhen in ganz Rußland hervor. Im Dezember weiten sich in Moskau Streikbewegungen zum bewaffneten Aufstand aus. Am Jahresende begegnen sich Lenin und Stalin in Tammerfors zum ersten Mal.] "Danja", so nennt Marina ihren Mann Daniil, „hat mir da so eine Geschichte erzählt." Einmal sei der Vater Iwan Pawlowitsch Juwatschow auf das Gut der Tolstois eingeladen worden. Von da aus rief Iwan Pawlowitsch seine hochschwangere Frau an, um ihr zu prophezeien, dass die Geburt am 30. Dezember stattfinden werde, dass es ein Junge sein würde und: „Wir nennen ihn Daniil.“ Auf Einwände seiner Frau: „Keine Widerrede! Daniil****, wie ich gesagt habe.“

1915
Charms wechselt auf die deutsche Peterschule in seiner Geburtsstadt, wodurch er gute Deutschkenntnisse erwirbt.
[Die deutsch-lutherische "Schule des heiligen Petri" ist eine der bekanntesten Petrograder Bildungseinrichtungen, 1710 gegründet.] Das Deutsche, die deutsche Kultur müsse ihm irgendwie im Blut gelegen haben, meint Marina Malitsch. „Alles, was deutsch war, gefiel ihm. Sein Deutsch war perfekt. Manchmal wollte er, daß ich mich zu ihm setze, und er las mir auf Deutsch Gedichte vor. Goethe und andere. Und obwohl ich kein Deutsch konnte, lauschte ich mit Vergnügen, und hinterher erklärte er es mir. Ich weiß noch, wie viel Spaß es ihm machte, „Plisch und Plum“ von Wilhelm Busch zu übersetzen. In Danjas Bibliothek waren ziemlich viele deutsche Bücher, und er griff ständig danach. Wenn er irgendwohin ging oder er verreiste, hatte er oft eine deutschsprachige Bibel dabei. Sie war ihm unerläßlich.“ Charms habe auch eigene Gedichte auf deutsch verfasst. (Band 2, Seite 144: Daniil ist 14 Jahre alt, als er auf Deutsch schreibt: Hät´ nicht dact / das Fisch kräten / dies Thäten / das Thäten / das sie auch noch stechen taten / dimpfer dampfer/ Fisch krähten // [Charms hat sich seit seiner Kindheit für Wilhelm Buschs Kindergeschichten begeistert. In den Lebensläufen von Charms und Busch, schreibt Gudrun Lehmann, gäbe es eine Reihe von Übereinstimmungen: "Ihre Erziehung ist protestantisch geprägt; sie beginnen auf Geheiß der Väter ein technisches Studium, das sie jedoch abbrechen. Darauf wenden sie sich der Kunst und Literatur zu. Ihre Werke richten sich an Erwachsene wie auch an Kinder. Ferner teilen sie eine große Leidenschaft: das Rauchen. Charms zeichnet Tabakspfeifen in seine Notizbücher. Tabak und Pfeife finden auch in ihrem Schaffen einen Niederschlag. Davon abgesehen kennzeichnet ihre Werke eine Mischung aus Humor, brachialer Zerstörungswut und Gewaltexzessen."]

[1917]
[Bis zur Revolution waren von Iwan Pawlowitsch Juwatschow, dem Vater Charms´, etwa 25 Bücher und Broschüren erschienen, teilweise durch die Förderung von Lew Tolstoi. Der Vater publizierte zu Lebzeiten mehr als sein Sohn, von dem 14 Kinderbücher erschienen.] -
(Band 2, S. 14: "Epigramm an den Vater // meine Gedichte Papa mussten / dir vorgekommen sein wie Husten / deine Gedichte sind ganz sicher / gehobener doch icher kicher" // 1925).

1918-1919
Die Familie Juwatschow flieht vor dem Bürgerkrieg für einige Monate aus der Stadt in die Wolgaregion.
[Gudrun Lehman schreibt jedoch in ihrem Buch "Fallen und Verschwinden", dass es sich bei der Flucht aus Leningrad um einige Jahre gehandelt habe. Die Umwälzungen dieser Zeit, hätten jäh Kindheit, Jugend und das trügerische Heil der Familie zerstört. "Für einige Jahre verlassen die Juvaĉёvs (Juwatschows) wie viele Einwohner Petrograds überstürzt die Stadt und verlieren dadurch sämtliches Hab und Gut."]

1922
Charms wechselt auf das Mariengymnasium in Detskoje Selo, wo er bei seiner Tante Natalja Koljubakina wohnt.
[Charms musste die prestigeträchtige Peter-Schule verlassen wegen vieler "ungenügender" Noten und unbotmäßigen Verhaltens.] Auf die Meinung der Tante Natalja – sie hatte an einigen Petersburger Lehranstalten unterrichtet [auch in Detskoje Selo] - habe Charms den größten Wert gelegt, erinnert sich Marina Malitsch / Durnowo. „Er (…) liebte sie, glaube ich, mehr als den eigenen Vater. Auch sie hatte einen Narren an ihm gefressen.“ – Zuhause hatte die Tante ein großes Portrait von Lew Tolstoi über ihrem Tisch hängen, „und den konnte Danja nicht ausstehen, ich weiß auch nicht, warum.“ (Band 2, S. 52: "Der Traum zweier Negerdamen //  zwei Damen träumten nein das nicht / kein Träumen nein schon wieder nicht / natürlich träumen sie - im Traum / tritt plötzlich Iwan in den Raum / ihm nach der Herr vom Mieterbund / in seiner Hand ein Tolstoi-Band / Anna Karenina Teil zwei / nein nein das nicht das ist nicht gut / kommt Tolstoi rein nimmt ab den Hut / zieht aus den Mantel und die Schuh / und brüllt heh Iwan wo bist du / und Iwan packt ein Beil und bumm / haut Tolstoi eins über den Kopf / und Tolstoi kippt oje wie dumm / die ganze russische Literatur im Pipitopf // 1936).

1924
Am 14. Juli beendet er die Schule mit dem Abitur
[was, so ist zu vermuten, mit ein Verdienst der Patentante war]. Er kehrt nach Leningrad / St. Petersburg zurück und beginnt am 1. September ein Studium am Elektrotechnikum [auf Wunsch des Vaters, der als Finanzberater an der Umsetzung von Lenins Elektrifizierungsplänen beim Staudamm- und Kraftwerksprojekt am Volchov (Wolchow) beteiligt ist.] In dieser Zeit beschäftigt er sich intensiv mit den Ideen des Futurismus von Welimir Chlebnikow und Wladimir Majakowski, durch deren Einfluss Charms´ erste „transnationale“ Gedichte entstehen. Welche Dichter Charms besonders liebte, über wen er sich äußerte, welche literarischen Kontakte er pflegte – von alledem ist Marina Malitsch / Durnowo wenig in Erinnerung geblieben. Des öfteren und immer mit Ehrfurcht habe er von Welimir Chlebnikow gesprochen, „das auf jeden Fall. Majakowski ließ er gelten. Er hat die Achmatowa gekannt, ist bei ihr gewesen. Mochte Gumiljow, ihren Sohn. Fühlte mit ihr im Unglück, als er ins Gefängnis kam.“ Marina mochte besonders Wwedenski. "Er war mir sympathisch. Und er war in unserem Leben allzeit präsent. Schurka*****war da! Schurka kommt! Schurka hat gesagt – so ging es die ganze Zeit. Danja und Schura waren ständig zusammen, ein Herz und eine Seele.“ (Band 2, S. 55: "An Viktor / Welimir Wladimirowitsch Chlebnikow // Ein Bein über das andere hebt / im Sitzen Welimir. Der lebt." // 1926).

1925
Erste Lautgedichte und Auftritte als Rezitator fremder und eigener Lyrik.
[Es ist anzunehmen, daß die Zeit zwischen 1925 und 1930 die glücklichste und verheißungsvollste im Leben von Charms ist. Er macht Bekanntschaft mit zahlreichen Autoren, Künstlern und Musikern, die ihn entscheidend mitprägen. Der Schriftsteller Aleksandr Vvedenskij - Alexander Wwedenski - wird trotz (oder gerade wegen) großer Differenzen zu Charms´ engstem Freund, wichtigstem "Lehrer" und literarischen Mitstreiter.] (Band 2, S. 16: "Klitsch // gewidmet (Esther) // Also spricht klein Michael / sein Mundwerk ist lose / - hichila kichila / ich trag eine Hose - // unddu machs ihm / finz fanz funz / b m paxim / funz fanz finz // I-a I-a Y-a / N N N / ich putzte hia / N N N // dripp schripp bobu / dschin dschen baba / pitsch patsch - wunderbar - gips schon Mama! / hia hastu hichila! finz fanz funz / stex ein kichila! / funz fanz finz // SCHLUSS" // 1925 // Die Formel "Schluss" am Ende eines Gedichts wird vom Autor oft verwendet und kann als sein "Markenzeichen gelten.). Im März / April lernt Charms in dem Dichterkreis um Alexander Tufanow Alexander Wwedenski kennen, mit dem ihn eine lebenslange Freundschaft verbindet. Wo auch immer Charms hingekommen sei, erinnert sich Marina Malitsch, gab es ein großes Hallo. Man vergötterte ihn. Weil er alle zum Lachen brachte.“ Meist aber ging er ohne Marina: „Ich hätte sowieso nichts anzuziehen gehabt – weder Kleid noch Schuhe – nichts. (…) Dies alles änderte übrigens nichts an unserer Liebe.“ (Band 2, S. 56: "Für A. Wwedenski - der Freund der fiel ins lustge Bad / die Wand herum rotieren tat / die Kuh schwamm herrlich durchs Gebraus / die Straße lag über dem Haus / der Freund jedoch voll Glanz auf Sand / Lief in der Socke seine Hand / im Zauber zu schwirrn begann / zuerst mit links die andre dann / und haute sich voll Wucht aufs Ohr / der Wachtelkönig sang im Moor / als kleiner Hut und heulte sehr / da war mein Freund im Bad nicht mehr" // 1927)

1926
Erste Auftritte der „Linken Flanke“, einer künstlerischen Vereinigung, die sich um Charms und Wwedenski zentriert.
[Der Name "Linke Flanke" verweist - ein letztes Mal vor der endgültigen kulturpolitischen Gleichschaltung unter Stalin - auf vorrevolutionäre avantgardistische "linke" Kunstströmungen und Theorien...] Gemeinsam mit Wwedenski gründet Charms die informelle Gruppe „Tschinari“, der u. a. auch der Philosoph und Schulfreund Wwedenskis Jakow Druskin sowie Leonid Lipawski angehören. „Einmal“, erzählt Marina Malitsch, „nahm Danja mich mit, ich weiß schon nicht mehr zu wem. (…) Ich erinnere mich, daß dort alle auf dem Fußboden saßen. Auch das, was jeder so mitgebracht hatte, stand auf ausgebreiteten Zeitungen auf dem Boden: Sardinen, Schwarzbrot und natürlich Wodka, der fleißig eingeschenkt wurde. (…) „Charms“, schreibt seine Witwe, „habe ich kein einziges Mal betrunken gesehen.“ Bei dem Treffen auf dem Fußboden waren auch die Brüder Druskin, Jascha (Jakow) und Mischa, beide Absolventen des Konservatoriums. Jakow Druskin „spielte Klavier wie ein Gott. (…) Ich habe Jascha immer sehr geliebt und verehrt. Er war ein so Netter! Mich bedauerte er wohl. Er sah, wieviel Mühe ich mir gab, nicht aufzufallen, mich im Hintergrund zu halten. (…) Jedenfalls: ein großes Zimmer, darin ein Flügel und viele Leute. Schura, Wwedenski war auch da und Lipawski." Im Februar wird er aus dem Elektrotechnikum ausgeschlossen. [In sein Tagebuch notiert Charms "Versäumnisse und erschwerende Umstände: `1) Seltene Anwesenheit. 2) Inaktivität in der gesellschaftlichen Arbeit. 3) Ich passe physiologisch nicht in die Klasse´".] Am 26. März wird er in den Allrussischen Dichterverband, Sektion Leningrad, aufgenommen, in dessen Lyrikalmanach sein erstes gedrucktes Gedicht erscheint, das Gedicht “Ein Vorfall an der Eisenbahn“. Am 17. September beginnt er ein Studium im Bereich Film am Institut für Kunstgeschichte (INChUK). Im Oktober wird der Künstlergruppe „Radix“, für deren Auftritt Charms gemeinsam mit Wwedenski ein Stück beisteuert, von Kasimir Malewitsch, dem Direktor des INChUK, ein Raum zur Verfügung gestellt. In diesem Zusammenhang schließen Charms und Malewitsch Bekanntschaft. Im November entsteht die Künstlergruppe OBERIU („Vereinigung für reale Kunst“), die aus der „Linken Flanke“ hervorgeht. Das Haus der Presse hatte der Gruppe angeboten, dort eine eigene Sektion zu bilden. Zu den Mitgliedern gehören neben Charms und Wwedenski noch Igor Bachterew, Nikolai Sabolotzki, Konstantin Waginow u. a. (Band 2, S. 57: "'Für N. A. Sabolotzki // fort meines Lebens Absteckstange / ich selbst bin überaus und roh / aus Leningrad grad fortgegangen / dahin nach Deskoje Selo und du oh Freund versende Briefe / solang noch heiß das Herze dein / auf dass der Vers als Hindin liefe / zu mir gleich einem Kerzenschein" ******/ 1927).

(1927)
[Am 26. März 1927 kommt es zu einem folgenschweren Auftritt der "Linken Flanke", die sich tags zuvor in "Akademie der linken Klassiker" umbenannt hat. Dieser findet im Rahmen einer Sitzung des Literarischen Zirkels am Staatlichen Institut für Kunstgeschichte statt und endet mit einem Skandal: Am 3. April erscheint in der Komsomolzeitung Smena (Neue Generation) ein harscher Verriß...] (Band 1, S. 200: "So beginnt der Hunger: / Am Morgen erwachst du munter, / Dann beginnt die Mattigkeit, / Dann beginnt die Langeweile; / Dann setzt das Nachlassen / des raschen Denkvermögens ein, - / Dann setzt die Ruhe ein, / Und dann beginnt der Horror."// 1937) - (Band 4, S. 51: "Ich sage mir: Ich bin ein Pechvogel, bei nichts habe ich Glück. Das ist nur deshalb so, weil ich meine eigenen Kräfte nicht kenne. Ich nehme Dinge in Angriff, denen ich nicht gewachsen bin. Und außerdem beherrsche ich nicht die Wissenschaft, aus allen Dingen Glück herauszuholen.  - Das ist eine große Wissenschaft..." - 1927).

1928
Im Januar erscheint das Manifest der OBERIU in den „Mitteilungen des Hauses der Presse“. Am 24. Januar findet die erste Abendveranstaltung der OBERIU im Haus der Presse unter dem Titel „Drei linke Stunden“ statt. In der ersten Stunde, die der Literatur gewidmet ist, trägt u. a. Charms seine Gedichte vor. Er gibt sie verkleidet auf einem schwarzen Schrank stehend zum Besten. In der zweiten, der Theaterstunde, wird Charms´ „Jelisaweta Bam“ uraufgeführt. Die dritte Stunde gehört dem Film. [Mit der Umsetzung der Deklaracija OBERIU beginnen eine letzte innovative Etappe der russischen Avantgarde und ein neues Kapitel der sowjetischen Theatergeschichte...] Die propagandistischen Kritiken sind vernichtend, wodurch weitere öffentliche Auftritte der Gruppe erschwert werden. Im Januar / Februar erscheint die erste Ausgabe der Kinderzeitschrift „Igel“ (…) unter der Redaktion von Nikolai Olejnikow, in der Charms regelmäßig publiziert. Die Veröffentlichungen in den Kinderzeitschriften bilden über weite Zeiträume seine einzige Einnahmequelle. (Band 2, S. 93, Ein Reklamegedicht: "laufen laufen  laufen  laufen / rennen rennen rennen rennen / im Schritt im Ritt / einzeln oder im Haufen / den neuen `IGEL´ kaufen! // 1928.) Die Honorare, die Charms für seine Veröffentlichungen im „Igel“ bekam, „waren das einzige Geld, das wir fürs tägliche Leben hatten". Verdiente er etwas (…), "gab es für uns etwas zu essen. Wir nagten immer irgendwie am Hungertuch. Oft kam es vor, daß nichts, aber auch gar nichts zu essen im Haus war. Einmal konnte ich vor Schwäche nicht mehr aufstehen.“  - (Band 4, S. 66: "Den 10. Oktober 1928 markiere ich als den ersten Tag auf dem Weg zu Hunger und Armut."). Am 5. März heiratet Charms Esther Russakowa. (Band 4, S. 52: "Seit ich Esther das letzte Mal gesehen habe, sind 270 180 Sekunden vergangen. / 24. / 25. Juli / Mitternacht / 1927 //). Ein paar Tage nach ihrer Hochzeit [am 7. März] wird er zum Grundwehrdienst eingezogen, aus unbekannten Gründen aber kurz darauf wieder entlassen. (Band 4, S. 55 / 56: "Am 7. März in den Militärdienst geraten. Interessant, aber widerwärtig. - Ich sitze abseits von allen. So wird es weitergehen, denke ich. Schon im Treppenhaus schwappte mir der ekelhafte, säuerliche Geruch von Hundepisse und von dieser Suppe entgegen, nach der es in der Schule riecht. - Wir sind 14 Mann. Was das für welche sind, weiß ich noch nicht. Intelligente Leute gibt es fast keine. Außer mir wohl noch einen, aber auch der ist mir suspekt. - Ein Genosse Kommandeur mit einem Rangabzeichen sieht aus wie ein roter Kakerlak und brüllt rum. - Ich schreibe, weil ich nicht weiß, was ich tun soll. - 8. März. Wir sind sehr viel mehr geworden. Sehr ungut. Herr, hilf mir, mich vom Militärdienst zu befreien - ganz.").

1929
Am 18. Februar stirbt Charms´ Mutter an Lungentuberkulose.
[Über Daniil Charms Mutter, Nadežda Ivanovna, so Gudrun Lehman, sei wenig bekannt. Sie entstammte einer angesehenen alteingesessenen Adelsfamilie aus dem Saratower Gouvernement. "Ihre Vorfahren lassen sich mit dem alten Geschlecht der Aksakovs, den altgläubigen Brüdern Denysov und dem Fürstenhaus Myšeckij in Verbindung bringen. Nadežda Ivanovna Koljubakina arbeitet als Erzieherin und leitet von 1900 bis 1918 ein Frauenasyl, wo sie entlassene weibliche Strafgefangene betreut." Charms´ Vater und sie lernen sich im April 1902 kennen, sie heiraten am 16. April 1903.] Im September werden Charms und Wwedenski wegen nichtbezahlter Mitgliedsbeiträge aus dem Leningrader Dichterverband ausgeschlossen. Für den 12. Dezember ist ein Auftritt der OBERIU geplant. Ob er stattgefunden hat, ist unklar. Im Winter 1929/30 bricht die Ehe mit Esther Russakowa auseinander.  (Band 4, S. 76: "Wie weit ist es mit mir gekommen! Ich habe Angst vor dem Leben. Der Mensch sollte keine Angst vor dem eigenen Leben haben." // 21. Juli 1929).

1930
Im Januar erscheint die erste Ausgabe der Kinderzeitschrift „Zeisig“ (…) als Pedant zum „Igel“ für Kinder im Vorschulalter. Auch in dieser Zeitschrift veröffentlicht Charms bis zu seinem Lebensende Texte. [Bis zur Oktoberrevolution gab es ingesamt nicht weniger als 150 Periodika für Kinder und Jugendliche. Das Spektrum reichte von konservativ-monarchistisöchen bis zu aufklärerischen, progressiven
pädagogischen Publikationen. (...) In der vorrevolutionären Epoche von 1909 bis 1917 waren noch 19 Zeitschriften auf dem Markt; wöchentlich erscheinende Detektiv-Zeitschriften mit Helden wie Sherlock Holmes, Nick Carter und Nat Pinkerton erfreuten sich vor allem bei Jungen großer Beliebtheit... Mit der Revolution erhebt der Staat den gesamtgesellschaftlichen Herrschaftsanspruch und tritt damit an die Stelle der Familie...] Sonntags vormittags wurden im Pionierpalast an der Fontanka Kinderprogramme veranstaltet. Zu diesen Matineen trat Danja auf. Das hat Marschak (der Leiter des Leningrader Kinderbuchverlages) ihm ermöglicht.“ Charms habe mit Zaubertricks begonnen. „Plötzlich hatte er eine Spielzeugkanone in der Hand. Keine Ahnung, wie und wo er sie hervorgezogen hatte. Aus dem Ärmel vielleicht. Als nächstes irgendwelche Kugeln. Er holte sie hinterm Kragen hervor, aus Ärmeln, Schuhen, Hosenbeinen, ja, aus der Nase… (…) „Ich schaute zu und wunderte mich: Der da auf der Bühne stand, war ein ganz anderer Mensch! Nicht der Danja, den ich kannte. Vollkommen verwandelt. Danach las er seine Gedichte vor. (…) Von allen, die bei den Kindermatineen auftraten, hatte Danja den größten Erfolg.“

1931
Am 10. Dezember wird Charms wie auch viele seiner Schriftstellerkollegen im Zuge einer größeren Verhaftungswelle festgenommen. Sie werden „der Organisation und Beteiligung an einer antisowjetischen illegalen Vereinigung von Literaten“ verdächtigt.
[Vvedenskij und Charms verlegen ich in späteren Jahren notgedrungen auch aufs Übersetzen. Nachdem sie bereits in die Kinderliteratur als eine Art künstlerisches Refugium ausgewichen waren, verengt sich ihr beruflicher Spielraum angesichts verstärkter Zensur und dohender politischer Verfolgung noch weiter...] Charms´ Aufzug sei immer eigenwillig gewesen, so Marina Malitsch Durnowo. Und er habe einen Tick gehabt: eine ruckartige Bewegung beider Hände, die – genauer gesagt, die Zeigefinger – unter der Nase zusammenfanden. so daß sie ein Dach bildeten; dabei gab er einen Laut von sich, der wie ein Räuspern klang, beugte sich leicht nach vorn und tippte mit der rechten Fußspitze ein paarmal leicht und schnell gegen den Boden. (…) Doch an all seine Absonderlichkeiten war ich gewöhnt, sie machten mir nicht zu schaffen. Ich liebte ihn, und die Mätzchen, die er trieb, bereiteten mir eher Spaß.“

1932
Am 21. März, wird Charms zu drei Jahren Straflager verurteilt.
[Charms wird "ALS FEIND DER SOWJETMACHT UND MONARCHIST AUS ÜBERZEUGUNG" hingestellt.  Am 18. Juni wird er aus der Haft entlassen. Im Juli trifft Charms gemeinsam mit Wwedenski in Kursk, ihrem Verbannungsort ein. (Band 4, S. 170: "Kursk ist eine sehr unangenehme Stadt. Dann schon lieber U-Haft. Hier gelte ich bei den meisten Einwohnern als Idiot. Auf der Straße ruft man mir immer unbedingt irgendwas hinterher. Deshalb hocke ich beinahe die ganze Zeit in meinem Zimmer.") Beide kehren vorzeitig aus der Verbannung zurück. Im November wird die Verbannung offiziell aufgehoben.

1933
Charms lernt Marina Malitsch kennen.
Marina war gerade dabei, ihren Schreibtisch aufzuräumen, als es an der Tür klopft. Als sie öffnete, stand „auf der Schwelle ein großer, sonderbar gekleideter junger Mann mit Schildmütze. Er trug ein kariertes Jackett, Knickerbocker und Gamaschen. Dazu einen schweren Stock und einen dicken Ring am Finger.“ Charms wollte zu Marinas Schwester Olga, die nicht zu Hause war. Der „sonderbar gekleidete junge Mann“ gefiel Marina sehr: „Ein netter junger Mensch, mit so einem offenen Gesicht. Und mit ganz außergewöhnlichen Augen: so was von blau!“  Und auch sie gefiel ihm gleich, wie er ihr, der sie später "Pümmelfötchen" nennt, gestand... (Band 2, S. 155: "Treff ich eine blöde Schachtel, / wird sie von mir umgebracht. / Nur das Kräutlein, nur die Wachtel / liebe ich mit aller Macht. // Nur mein treues Pümmelpfötchen / hat ein offnes Herz für mich. / Wie ein Zettel, wie ein Flötchen / lässt sie niemals mich im Stich. // Ich, der Damen früher scheute, / will mein Pümmel lieber schaun / als zighundert hübsche Bräute / als zigtausend fesche Fraun." // 1935). [Nach dem Ende der OBĖRIU werden die Treffen der Činari (Tschinari), denen nur noch der isolierte private Rahmen offensteht, zum letzten geistig-künstlerischen Zufluchtsort.] Die Gespräche der "Tschinari“ werden von Lipawski bis 1934 niedergeschrieben. 

1934
Am 16. Juli heiratet Charms Marina Malitsch.
Nachdem Charms die Schwestern Marina und Olga des öfteren zu Ausflügen oder zum Bummeln durch St. Petersburg oder ins Konzert eingeladen hat – „Und es kam vor, dass Olga schon nicht mehr dabei war.“ – saß Marina einmal bis spät bei Charms im Zimmer. Und plötzlich habe  er ihr einen Heiratsantrag gemacht. "Da bin ich“, schreibt sie, „über Nacht bei ihm geblieben.“ Eine Hochzeitsfeier fand nicht statt. Sie hatten kein Geld, um sie auszurichten. Charms wohnte, als Marina zu ihm zog, seit 1925 bis zu seinem Tod in der Nadeshdinskaja Uliza (heute Uliza Majakowskogo), 11 / 9. Marina und Daniil lebten seitdem in einer Gemeinschaftswohnung (Kommunalka) zusammen mit dem Vater Iwan Pawlowitsch Juwaschow  - „Ein großer, spindeldürrer alter Mann mit Vollbart und ständig blassem Gesicht“ - und mit Jelisaweta (Lisa), der Schwester von Charms und deren Familie. Marinas und Charms´ Zimmer sei „bestenfalls“ fünfzehn Quadratmeter groß gewesen. Mit der Familie von Lisa durfte Marina keinen Kontakt haben - weil Lisas Mann Kommunist war. - Marina behält auch nach der Hochzeit mit Daniil Charms ihren Mädchennamen Malitsch. „Wenn wir erst mal den gleichen Namen tragen“, hatte Charms gesagt, „will heutzutage keiner mehr einsehen, daß du und ich zwei verschiedene Personen sind. Man weiß ja nie was passiert!“ Der Sozialistische Realismus wird zur Staatsdoktrin.

1935
Am 15. Mai stirbt Kasimir Malewitsch. auf der Trauerfeier am 17. Mai trägt Charms sein Gedicht „Auf den Tod von Kasimir Malewitsch“ vor.
„Kasimir Malewitsch lernte ich kennen, als er schon im Sterben lag. Ich glaube, ich sah ihn nur das eine Mal, als Danja und ich ihn besuchten. (…) Danja und ich waren auf dem Begräbnis. (…) Bei der Andacht in Malewitschs Zimmer las Danja über dem offenen Sarg, zu Haupten des Toten stehend, sein Gedicht, das sehr subtil und aristokratisch war.“

1936
Wwedenski heiratet Galina Wiktorowa und zieht mir ihr nach Charkow.
Charms nennt seine Frau Marina „Fefjulka-Pümmelpfötchen“. "Wahrscheinlich, weil ich so klein war.“ (Band 2, S. 156: "Ein gutes Liedelchen vom Pümmelpfötchen // Du bist zwar sicherlich kein Riese, / doch schlank wie Gräser auf der Wiese. / Refrain: / Umbau, Umbau, Umbau, ja! / Primakókin und Kinéb! // Dein Bild zwar eingefaßt von Brauen / und doch gar niedlich anzuschauen. / Refrain: // Wir lieben ihre Würstlein-Finger / mehr als Lataschkas kleine Dinger. / Refrain: // Wir lieben Sie und ihre Öhrchen, / Weil wir zusammen stets gehörchen. /Refrain: " //  1935 // Trotz ihres großen Zusammengehörigkeitsgefühls weiß Marina Malitsch von ihm: "Sexuell stimmte irgend etwas nicht mit ihm, glaube ich. Den einen Tag ging er mit dieser ins Bett, den anderen mit jener… Immer irgendeine Affäre. Oft noch eine zweite, dritte, vierte dazu… Es hörte nie auf! (…) Ich vermute, alle seine Freunde lachten hinter meinem Rücken über mich. Hielten mich für blöd, weil ich es vorzog, weiter mit ihm zusammenzuleben, anstatt ihn zu verlassen. Denn sie wußten selbstverständlich Bescheid.“ (…) Aber:: "All seine Affären konnten mich nicht in den Schmutz ziehen.“ (Band 1, S.75: "Es heißt, gute Weiber haben alle einen dicken Arsch. Ach, ich liebe Weiber mit Holz vor der Hütte.(...)"// 23. August 1936)

1937
Im Juli wird der Herausgeber der Kinderzeitschrift „Igel“, Nikolai Olejnikow, verhaftet, am 24. November wird er erschossen. Im August werden weitere Mitarbeiter des Kinderbuchverlags verhaftet (Bronstein und Spiridonow, beide sterben 1938 in Gefangenschaft). Im August wird die gesamte Familie Russakow, auch Charms´ erste Ehefrau Esther, verhaftet und zu 10 Jahren Lager verurteilt. Esther Russakowa stirbt in der Haft.

Marina erinnert sich in ihrem Buch an Esther Russakowa. Sie war Französin, französische Jüdin. Marina und Esther hatten sich kennengelernt, waren sich sympathisch, unternahmen miteinander Spaziergänge. Einmal, erzählt Marina, habe  es Schuhe auf Marken zu kaufen gegeben. „Danja hatte ein gutes Herz. Du, hör mal“, sagte er, „ich weiß, dass du die Schuhe selbst gern hättest, aber trotzdem: Wollen wir sie nicht lieber Esther geben? Sie hat es schwerer: Wir sind zu zweit, sie ist alleine… (…) Ein braunes Paar Schuhe, elegant. Esther war begeistert.“
Am 5. September wird die Redaktion des Leningrader Kinderbuchverlags, deren Leitung Samuil Marschak hat, zerschlagen. Marschak kann sich einer Verhaftung entziehen, während andere Mitarbeiter verhaftet und einige erschossen werden.
[Marschak (1887 bis 1964) ist während der Verhaftungswelle im Urlaub.]
"Marschak hat Danja sehr gemocht. Wie auch umgekehrt, denke ich, Danja eine sehr hohe Meinung von Marschak hatte.“ [Der mit Gorki befreundete Marschak war Dichter, Übersetzer und beliebter russischer Kinderschriftsteller. Ab 1925 leitet er die Redaktion der neuen Leningrader Kinderbuchabteilung des Staatlichen Kinderbuchverlages DETGIZ.]

 1939
Im Oktober wird Charms nach einer kurzen Beobachtung in einer Nervenheilanstalt vom Militärdienst befreit.
Marina Malitsch beschreibt, wie Charms in der Klinik simuliert, damit er vom Militärdienst ausgemustert wird. „Nichts fürchtete er mehr, als zur Armee eingezogen zu werden. Davor hatte er panische Angst. Ein Gewehr in die Hand zu nehmen und hinzugehen, um zu töten, das ging über seine Vorstellung.“ (2. Band, S.110 / 111: ein Agitprop-Gedicht - Auftragsarbeit der Kinderzeitschrift "Der Zeisig"? - erschienen in der Nummer 4: Die ersten zwei Strophen von Das Erste-Mai-Lied // Heute wollen du und ich, / du und ich, / heute wollen du und ich /einmal Erste sein. / Und ganz sicher kommen wir, / kommen wir / und ganz sicher kommen wir / in die ersten Reihn. // Zur Tribüne laufen wir, / laufen wir, / zur Tribüne laufen wir, / sind als erste da. / Und für Stalin rufen wir, / rufen wir / und für Stalin rufen wir / dreimal laut Hurra.// 1939 //)

 1940
Am 17. Mai stirbt Charms´ Vater Iwan Pawlowitsch Juwatschow.
Wenn Charms Vater seinen Besuch ankündigte, erzählt Marina Malitsch, „was äußerst selten und immer nur auf ein paar Worte geschah“, sei Charms aufgesprungen und die ganze Zeit stramm wie ein Soldat stehengeblieben. „Ich kann mich nicht erinnern, daß der Vater jemals in unserem Zimmer gesessen hätte.„ (…) Zu mir war er nett, und ich denke, er fand mich ganz in Ordnung, doch ich fürchtete ihn und kam ihm lieber nicht zu nahe.“ Charms Vater sei äußerst asketisch veranlagt gewesen, erinnert sich Marina. Er habe buchstäblich gar nichts gegessen. „Er besaß eine Blechschüssel. Und einen Löffel. (…) Iwan Pawlowitsch goß heißes Wasser in die Schüssel und gab einen Löffel Sonnenblumenöl dazu. Dahinein brockte er schwarzes Brot. Das war seine ganze Nahrung.“ (…) Und er schrieb immerzu. Leider habe ich nie etwas von ihm gelesen. (…) Nach seinem Tod, da hat man alle seine Manuskripte abgeholt und in die Kasaner Kathedrale gebracht." (…) "Man weiß, daß Iwan Juwatschow Tolstoi nahestand. Mehrfach ist er bei ihm in Jasnaja Poljana gewesen. Er war Narodowolez, ein Volkstümler. Wegen Beteiligung am Attentat auf den Zaren war er zum Tode verurteilt und später zu lebenslänglicher Verbannung begnadigt worden. Irgendwann kam er ganz frei."

1941
Im Juni entsteht die letzte Erzählung von Charms, „Rehabilitierung“. Am 22. Juni beginnt die Wehrmacht den Angriff auf die Sowjetunion. Am 23. August wird Charms zum zweiten Mal verhaftet. Ihm wird „Verbreitung defätistischer Propaganda“ vorgeworfen. Eine Haussuchung wird vorgenommen.
Eines Tages sei Charms besonders nervös gewesen. „Es war ein Samstag. Um zehn oder elf Uhr morgens klingelte es an der Tür. Wir zuckten zusammen, denn es war klar: Das konnte nur die GPU sein. Und wir ahnten, gleich würde etwas Schreckliches geschehen. (…) Danja bebte am ganzen Leibe. Es war absolut schrecklich. (…) Wir schafften es gerade noch, uns in die Augen zu blicken. Ich habe ihn nie wiedergesehen.“
Am 8. September beginnt die fast 900 Tage währende Blockade Leningrads durch die Nationalsozialisten. Durch den Einschlag einer Fliegerbombe wird die Wohnung der Juwatschows unbewohnbar. Am 10. September wird Charms nach einer gerichtsmedizinischen Untersuchung für schizophren erklärt. Am 27. September wird Wwedenski in Charkow verhaftet. Am 22. Oktober wird Charms aus der psychiatrischen Abteilung zurück ins Gefängnis verlegt. Im November fällt Leonid Lipawski bei der Verteidigung Leningrads. Am 7. Dezember wird Charms für geisteskrank erklärt. Die Anklage wird fallengelassen, er wird in die psychiatrische Abteilung des Gefängniskrankenhauses überstellt. Um den 20. Dezember stirbt Alexander Wwedenski während eines Gefängnistransports.
„Von dem Tag an, da wir zusammengezogen waren, hat er mir alles vorgelesen. Das für Kinder ebenso wie das, was nicht für Kinder war. Kaum fing er an zu lesen, mußte ich schon lachen. (…) Ich kugelte mich buchstäblich, es war einfach so komisch, daß ich nicht an mich halten konnte, dieses ganze `Bu-bu-bu und be-be-be, go-go-go, bul-bul´. Das war, als er mir (1940) das Gedicht vom `Lustigen Alten´ vorlas: Der lustige Alte // War einmal ein alter Mann, / nicht sehr hochgewachsen, / dieser kleine alte Mann / machte gerne Faxen: / „Ha-ha-ha / und he-he-he, / hi-hi-hi / und bumm-bumm! / Bu-bu-bu / und be-be-be-be, /ding-ding-ding / und drumm-drumm!“ (…) 

1942
Charms stirbt am 2. Februar in Haft.

Als sich die Erstarrung nach der Verhaftung gelegt habe, sei sie los gelaufen, sagt Marina Malitsch / Durnowo, um in den Gefängnissen nach ihm zu suchen. „Ich suchte überall. (…) Bis mir endlich jemand sagte, wo er sich befand und an welchem Tag ich ein Päckchen für ihn würde abgeben können. Ich lief also dorthin. Dazu mußte ich übers Eis der Newa gehen. Auf der Newa lag der Schnee so hoch, daß er mir bis über den Kopf ging. Ein Pfad war getrampelt, so schmal, daß zwei Menschen sich gerade noch aneinander vorbeizwängen konnten. (…) Als ich zu Hause losging, war es Morgen – als ich zurückkam, tiefe Nacht. Zweimal lief ich die Strecke, und meine Pakete wurden entgegengenommen. Beim dritten Mal aber…  Ich klopfte an, das Fensterchen ging auf. Ich nannte den Namen – Juwatschow-Charms – und reichte mein Päckchen hinein. Der Mann drinnen sagte: `Treten Sie vom Schalter zurück und warten Sie.´ Dann klappte er das Fenster zu. Zwei Minuten vergingen oder auch fünf. Dann ging das Fenster wieder auf, und derselbe Mann sprach die Worte: `Gestorben am zweiten Februar.´ Und schmiß das Päckchen wieder heraus. (...)
Der Tod meines Mannes Daniil Charms ist mir für immer im Gedächtnis geblieben. Es war gestern..."

Leider haben die vier Bände der Werkausgabe kein Personenverzeichnis! Ich hätte gerne noch einmal die biographischen Daten der Personen im Zusammenhang gelesen, denen sich Charms verbunden fühlte. Dafür schließt das Werk von Gudrun Lehmann******* mit einem akkurat-informativen Personenregister. Es macht zutiefst betroffen zu erfassen, wie viele Menschen aus Charms Freundes- und Bekanntenkreis in den zwanziger, dreißiger und in den vierziger Jahren verhaftet wurden, verbannt wurden, umgekommen sind:

Baskakov, Nikolaj Pawvovič (1896 bis 1938); Mitarbeiter des "Kommissariats für Volksbildung" (NARKOMPROS), Journalist, Redakteur verschiedener Zeitungen; seit 1926 leitender Direktor am "Haus der Presse", Förderer zeitgenössischer Kunst und Literatur; Parteiausschluß und am 15. Februar 1928 Verhaftung wegen angeblicher Verbreitung oppositionellen Gedankenguts; am 9. April 1928 wird ihm zur Last gelegt, dass seine Institution zu einem "Leningrader Untergrundzentrum" verkommen sei;  am 21. April 1928 Verbannung nach Sibirien; arbeitet während langjähriger Lagerhaft zeitweise als Photograph, stirbt 10. April 1938 im Lager in Magadan, die Todesursache ist unbekannt; 1989 rehabilitiert.

Bronštejn, Matvej Petrovič 1906 bis 1938); russischer Physiker, Mathematiker und Schriftsteller, verheiratet mit Lidija Čukovskaja, fällt dem Stalinterror zum Opfer. (Im 4. Band der Werkausgabe zu Daniil Charms lese ich, dass Lydia Tschukowskaja im staatlichen Kinderbuchverlag als Redakteurin gearbeitet hat. Am 18. September 1932 lässt Charms sie in einem Brief an Leonid Pantelejew aus der Verbannung grüßen.)

Florenskij, Pavel Aleksandrovič (1882 bis 1937); russischer Philosoph, Theologe, Mathematiker, Physiker, Ingenieur, Linguist, Kunstwissenschaftler, Historiker, Priester; 1921-1924 Professor am eigens für ihn eingerichteten Lehrstuhl der "Raumanalyse in Kunstwerken" am Moskauer VChUTEMAS; übt mit seinen Schriften zur Kunst und Ikonenmalerei erheblichen Einfluß auf die russische Avantgarde aus; bereits Ende der 20er Jahre angefeindet wegen religiöser Agitation"; 1933 Verhaftung und Verurteilung zu langjähriger Lagerhaft; 1937 hingerichtet.

Gumilёv, Nikolaj Stepanovič (1886 bis 1921); russischer Dichter, Dramatiker, Kritiker, Übersetzer; Begründer und Wortführer des Akmeismsu; 1910 bis 1918 mit Anna Achmatova verheiratet; als angeblicher Konterrevolutionär erschossen.

Kacman, Georgij Nikolaevič ("Gaga"; Pseudonym: Koch-Boot, Kach-Boat) 1908-1985); Regisseur; Mitbegründer der Gruppe "Radiks"; April 1927 Verhaftung; verbringt - nach Verbüßung seiner Strafe freiwillig - fast sein ganzes Leben in Lagern, wo er Laienkünstler anleitet; vom sibirischen Gulag aus besucht er dann gelegentlich Charms in Leningrad; in den 50er Jahren Regisseur am Dramatischen Theater in Magadan.

Lipavskij, Leonid Lavelévič (1904 bis 1941); Pädagoge, Sprachwissenschaftler, Philosoph, Schriftsteller, Redakteur; Studium der Philosophie an der Petrograder Universität (bei N. Losskij und in der pädagogischen Abteilöung für Gesellschaftswissenschaften); 1921/22 Veröffentlichung "dialogischer Gedichte u. a. im von N. Gumiljёw herausgegebenen Almanach der Poetenwerkstatt; unterrichtet an verschiedenen Schulen u. a. für schwererziehbare Kinder; Verfasser diverser philosophischer Traktate, u. a. Traktat über das Wasser, über Die Zeit, Abhandlung über das Entsetzen, Über die Angst, Theorie der Wörter; notiert die "Gespräche" der Činari; Kinderliteratur unter dem Pseudonym "Savelёv"; seit 1931 verheiratet mit Tamara Meyer (Lipavskaja); fällt während der Verteidigung Leningrads (Luftabwehr der Flotte) im November 1941.

Maršak, Samuil Jakovlevič (1887 bis 1964); Dichter, Übersetzer und beliebter russischer Kinderbuchautor; 1912 -1914 Studium der Kunstgeschichte in London; Übersetzer u. a. von Shakespeare, Burns und Blake ins Russische; gründet 1914 in Rußland zwei Jugendtheater: 1920 im ehemaligen Ekaterinodar das erste Theater für Kinder und das "Theater des Jungen Zuschauers" in Petrograd. Maršak wurde 1926 zum Leiter des Leningrader Staatsverlags für Kinderliteratur ernannt. Dass er, der nie Mitglied der Kommunistischen Partei war, einen solch einflussreichen Posten erhielt, wird auf seine guten Beziehungen zu Maxim Gorki zurückgeführt. Nach dessen Tod verlor auch Marčak seinen Posten und zog 1938 nach Moskau um. Zu den Verfolgten aus seiner Redaktion und dem näheren Umfeld gehören Die Redaktionssekretärin und Schriftstellerin Ėster Papernaja, der verantwortliche Redakteur des "Igel", D. Rachmilow, der Redakteur des "Zeisig", Michail Majsler, die Schriftstellerin Raisa Vasiléva, die Autoren Olejnikov, N. Konstantinov, Sergej Bezborodov, Matvej Bronštejn, Isaj Mil´čik, Grigory Belych, Tėki Odulok, die Redakteure Kirill Šavrov und Jan Kalnyn´ sowie Abram Serebrjannikov, der Direktor des Hauses für Kinderliteratur "DDL" - die meisten Genannten werden noch 1938 erschossen oder in Gefängnis und Lager zu Tode gequält; auch Zabolocki kommt in Lagerhaft, danach wird er bis 1944 verbannt.

Matveev, Vladimir Pavlovč (1897 bis 1935); russischer Journalist, (Kinder-)Schriftsteller; Redakteur des Staatsverlags, Leiter der Leningrder Abteilung "Sojus-foto"; während des Bürgerkriegs politischer Kommissar, danach sowjetischer Handelsvertreter in Helsinki; beteiligt sich später in der Leningrader Opposition um Zinov´ev; Bekanntschaft mit Olejnikov; nach der Ermordung Kirovs gerät er in die allgemeine Verhaftungswelle, obwohl er keinem ideologischen Kader mehr angehört; 1935 erschossen.

Olejnikov, Nikolaj Makarovič (1898 bis 1937); Schriftsteller, Lyriker, Journalist, Radioredakteur, Regisseur; ab 1925 in Leningrad; Bekanntschaft mit Charms, Vvedenskij und Lipavskij; Mitglied der Činari und kinderliterarischer Verbände; ab 1928 Chefredakteur der Leningrader Kinderzeitschriften Ėž und Čiž; 1937 als "Volksfeind" erschossen; von seinem Werk für Erwachsene kann er zu Lebzeiten - ähnlich wie Charms und Vvedenskij - nur einen Bruchteil, fünf Gedichte, veröffentlichen.

Rusakova, Ėster Aleksandrovna (1906 bis 1943 ?); erste Ehefrau von Charms; dieser widmet ihr zahlreiche Texte; sie arbeitet im Zentral-geochemischen Labotratorium und später im Informationsbüro des Kaufhauses "Passaž" am Nevskij Prospekt; wird später wegen angeblicher westlicher Spionage und Konspiration zusammen mit ihrem Schwager, dem bekannten Schriftsteller, Publizist und Trotzkist V.-N.L Kibal´čič (d. i. Viktor Serge), verhaftet und 1936 zu fünf Jahren Lagerhaft verurteilt; stirbt in einem Lager in Nordostsibirien.

Terent´ev, Igor´ Gerasimowič (1892 bis 1937); russischer futuristischer Lyriker, Dramatiker, Kunsttheoretiker, Regiisseur; Besuch einer Kunstschule in Char´kov; Jura-Studium in Moskau; Schüler Kručёnychs; aktives Mitglied der futuristischen "Gruppe 41 0" (1919. Tiflis); Gedichtbände u. a. Fakt (1919); theoretische Betrachtungen zu Wort, Klang, Rhythmus und Dichtung, 17 Unsinnswaffen, 1919, ein Buch über I. Zdanevič Rekord der Zärtlichkeit, 1919; veröffentlicht 1920 die "Bibel" der transmentalen Futuristen: Traktat über totale Unanständigkeit; 1923-1929 in Petrograd / Leningrad; Leiter des "phonologischen Studios" am INChUK; 1924 Eröffnung des "Krasnyj teatr" ("Rotes Rheater") in Leningrad mit einer Inszenierung nach J. Reeds Sieben Tage, die die Welt veränderten; ab 1926 leitender Regisseur des experimentellen Theaters am Leningrader "Haus der Presse"; nach 1928 wird ihm weitere Arbeit in Leningrad verwehrt; 1929 tritt er in Charkow und der Ostukraine mit einem Wandertheater auf; im Januar 1931 in Dnepropetrowsk, verhaftet wegen angeblicher Beteiligung an einer konterrevolutionären Organisation, 1931 bis 1935 im GULAG beim Ausbau des Weißmeer-Ostsee und Moskau-Wolga-Kanals; 1937 erneute Verhaftung, am 17. Juni 1937 erschossen.

Tufanov, Aleksandr Vasilévič (Pseudonym Belomorski) (1877-1941?); russischer Dichter, Philologe, Journalist, Theaterkritiker, Pädagoge; 1913-1917 Redakteru der Zeitschrift Severnyj gusljar (Nördlicher Gusljar), 1917 erscheint der erste Gedichtband Die Äolsharfe; 1924 Zu Zaum und 1927 Freibeuter; entwickelt seine Zaum´-Theorie unter dem Einfluß Bergsons und Matjušins; November 1922 Nachruf auf Chlebnikov; 1925 Gründung des literarischen Ordens DSO; 1931 verhaftet und nach Novgorod verbannt, dort Leiter des Historischen Kabinetts im Pädagogischen Institut; ab November 1941 verwischen sich die Lebensspuren; Charms reiht Tufanov in seine Liste der "Naturdenker" und Petersburger "weisen" Männer ein.

Vvedenskij, Aleksandr Ivanovič (1904-1941); russischer Schriftsteller; studiert zunächst Jura und wechselt dann zur Sinologie; 1921-1931 erste Ehe mit Tamara Mejer; er ist Mitglied des literarischen Ordens DSO, beteiligt sich an der „linken Flanke“ und nimmt am philosophischen Dichterkreis „Tschinari“ teil. Seit 1927 ist er Mitglied der spätavantgardistisch-literarischen Vereinigung OBĖRIU. 1931 heiratet er Anna Ivanter. Aus politischen Gründen erfolgt am 13. Juli 1932 seine Verbannung nach Kursk. Im Winter konnte er nach Leningrad zurückkehren. Mitte der 1930er Jahre zieht er von Petersburg nach Charkov um, wo er Galina Viktorova heiratet. 1941 erfolgt die zweite Verhaftung. Er stirbt am 20. Dezember 1941 auf einem Gefangenentransport bei Charkov, während die deutschen Truppen vorrücken.

Es lohnt sich außerordentlich, das Werk von Gudrun Lehmann zu lesen; denn es ist weit mehr als eine Ergänzung des hier Geschriebenen!

 

 

 

 

;

 


Gisela Reller / www.reller-rezensionen.de

                         * Jekaterina Pawlowna Peschkowa (1887 bis 1965), erste Ehefrau Gorkis; Menschenrechtsaktivistin und Vorsitzender der Organisation "Hilfe für politische Häftlinge" (1918-1937); arbeitet an der Seite von V. Figner für Hilfsorganisationen; setzt sich während des großen Terrors erfolgreich für die Unterstützung und Freilassung von Gefangenen ein; besitzt enge Kontakte u. a. zur NKWD (Nach Gudrun Lehmann)

                      ** Der in Russland geltende Julianische Kalender wurde Ende Januar 1918 auf den Gregorianischen Kalender umgestellt: Auf dem 31.1.1918 folgte daraufhin der 14.2., wodurch 13 Tage "verloren" gingen. Durch die Kalenderreform verschiebt sich Charms´ Geburtsdatum "alten Stils" um 13 Tage auf den 30.12.1905 neuen Stils.

                    *** St. Petersburg hieß von 1914 bis 1924 Petrograd, von 1924 bis 1991 Leningrad, seit 1991 wieder St. Petersburg; die Petersburger sagen liebevoll Pieter.

                  **** Charms Vater hielt anlässlich der Namensgebung seines Sohnes in seinem Notizbuch fest, dass Daniil der ihm liebste Prophet sei, auf dem seine Philosophie beruhe.

               *****Schurka und Schura sind Koseformen für Viktor / Welimir Wladimirowitsch Chlebnikow.

          ****** Fehlende Satzzeichen, orthografisch falsch geschriebene Worte - all das sind keine Tippfehler, sondern Eigentümlichkeiten Daniil Charms´.

      *******  Gudrun Lehmanns Buch "Fallen und Verschwinden. Daniil Charms. Leben und Werk" erschien 2010 im Arco Verlag Wuppertal, als Sonderband in der Reihe Wissenschaft, weshalb die Autorin die wissenschaftliche Transkription verwendet.

  

Weitere Rezensionen zur Person "Daniil Charms": 

  • Daniil Charms, Seltsame Seiten. (Kinderbuch)
  • Daniil Charms, Fälle. (Hörbuch)
  • Daniil Charms, Brief aus Petersburg 1933.
  • Gudrun Lehmann, Fallen und Verschwinden. Daniil Charms - Leben und Werk.
Weitere Rezensionen zu "Von Alexander Nitzberg initiierte Werke":

  • David Burliuk / Wladimir Majakowski, Cityfrau. Futuristische Gedichte.
  • Nikolai Gumiljow, Pavillon aus Porzellan. Gedichte.
  • Jelena Schwarz, Das Blumentier. Gedichte.
  • Michael Senkewitsch, Elga.
Weitere Rezensionen  zu "Gedichtbände (und Poeme)":

  • Abai, Zwanzig Gedichte.
  • Marina Zwetajewa / Anna Achmatowa, mit dem strohhalm trinkst du meine seele, Hörbuch.
  • Valentina Babak, Häuser überall verstreut.
  • Kay Borowski (Hrsg.), Petersburg - Die Trennung währt nicht ewig. Eine Stadt im Spiegel ihrer Gedichte.
  • Kay Borowski (Hrsg.), Bei mir in Moskau leuchten die Kuppeln. Eine Stadt im Spiegel ihrer Gedichte.
  • Joseph Brodsky, Haltestelle in der Wüste. Gedichte. 
  • David Burliuk / Wladimir Majakowski, Cityfrau. Futuristische Gedichte.
  • Nikolai Gumiljow, Pavillon aus Porzellan. Gedichte.
  • Elena Guro, Lieder der Stadt.
  • Laurynas Katkus, Tauchstunden.
  • Wjatscheslaw Kuprijanow, Wie man eine Giraffe wird. Gedichte.
  • Wjatscheslaw Kuprijanow, Wohin schreitet die Pappel im Mai? Gedichte.
  • Oskar Pastior, Mein Chlebnikov.
  • Muchtar Schachanow, Irrweg der Zivilisation. Ein Gesang aus Kasachstan.
  • Jelena Schwarz, Das Blumentier. Gedichte.
  • Hans Thill (Hrsg.), Vorwärts, ihr Kampfschildkröten. Gedichte aus der Ukraine.
  • Marina Zwetajewa / Anna Achmatowa, mit dem strohhalm trinkst du meine seele. (Hörbuch.

Am ... .2012 ins Netz gestellt.

Das unterschiedliche Schreiben von Eigennamen ist den unterschiedlichen Schreibweisen der Verlage geschuldet.

  
Daniil Charms:
Selbstporträt 1925, aus:
Trinken Sie Essig, meine Herren!
Daniil Charms, Prosa, Werkausgabe, Band 1

 [  zurück  |  drucken  |  nach oben  ]