Belletristik REZENSIONEN |
Kleine Zwerge und Peter der Große
|
Helga Hegewisch |
Deutsche; über den Russen Peter I. |
Johanna Romanowa
|
Pendo Verlag, München und Zürich 2006, 462 S.
Neuruppin - eine deutsche Stadt im Brandenburgischen - hatte nicht
nur berühmte Söhne wie den Baumeister und Maler Karl Friedrich
Schinkel (1781-1841) und den Schriftsteller Theodor Fontane
(1819-1898), sondern auch eine berühmte Tochter: Johanna Wolters,
geborene Meller. Sie kennen diese Berühmtheit nicht? Können Sie auch
nicht; denn Johanna ist eine Erfindung der Autorin Helga Hegewisch.
Historisch überliefert ist, dass Natalja Naryschkina, die zweite
Frau des russischen
Zaren Alexej, unbedingt einen männlichen Erben gebären musste, weil
den Romanows sonst die Zarenkrone verloren gegangen wäre. Überliefert
ist auch, dass des Zaren Alexejs Söhne aus erster Ehe - Fjodor und
Iwan - schwächlich und krank waren - ungeeignet, Russland zu regieren.
Als dann am 30 Mai 1672 Natalja Naryschkinas einziges Kind geboren
wurde, war es ein schwächliches Mädchen. Dieses Mädchen, behaupten
eine nicht tot zu kriegende Legende und Helga Hegewisch, sei gegen
einen kräftigen Knaben ausgetauscht worden, aus dem dann Peter I., der
Zar aller Reußen, wurde. Die historischen Fakten stimmen, soweit sie
überliefert sind, bei Johanna Romanowa auf den Punkt, denn die Autorin hat sich,
nach eigener Aussage, lange mit dem Stoff um Pjotr (Peter)
Alexejewitsch Romanow beschäftigt.
Faszinierend ist, wie Helga Hegewisch die historischen Tatsachen mit
den erfundenen Geschichten um Johanna verknüpft. Johanna, inzwischen
Witwe, hat einen Sohn und eine russische Kinderfrau, die den Tausch
bezeugen kann. Zeuge ist auch der Kinderhändler "Schwarzbart", der den
Knaben "geliefert" hatte. Seit wann lassen Zarenhöfe solche Zeugen am
Leben?
Eines Tages im Jahre 1697 trifft eine große russische
Reisegesellschaft in Neurppin ein, unter ihnen Zar Peter und Stephan
Melchior, Zimmermann, Astrologe und Vertrauter Peter I. Johannas Sohn,
von seiner Kinderfrau Olga stets als ein Romanow behandelt, stürzt aus
der Menge der Gaffer auf den mit 2,10 Meter alle überragenden Zaren zu
und schreit auf russisch: "Lass mich mit dir nach Russland gehen, ich
bin ein Romanow." Dieses achtjährige Kind und dessen Mutter gehen dem
Zaren nicht mehr aus dem Kopf...
Johanna, die ihren Sohn mit einem Kaiserschnitt geboren hatte, will
sich um jeden Preis medizinisches Wissen aneignen. Sie ist geradezu
besessen davon, alles über den menschlichen Körper zu erfahren, um
Gebärenden und Kranken besser helfen zu können. Dies ist für mich der
interessanteste Aspekt des Romans, denn Ende des 17. Jahrhunderts war
es Frauen nicht erlaubt, sich medizinisches Wissen anzueignen, sogar
ihre Hebammen-Instrumente hätte Johanna eigentlich nicht besitzen
dürfen. Diese aus heutiger Sicht moderne junge Frau, Hebamme und
Heilerin, galt damals als Hexe. Interessant, dass diese "Hexe" nichts
so sehr liebt wie ihre Unabhängigkeit, und ihr der (eventuelle?) Anspruch auf den
Zarenthron völlig schnuppe ist.
Zar Peter und sein Astrologe Melchior werden ihr Leben
verändern...
Eigentlich, sagte Helga Hegewich anlässlich einer Buchlesung, habe
sie ein Buch über Zwerge schreiben wollen. Dieses Thema habe sie schon
lange bewegt, denn "Zwerge werden immer als Objekte behandelt, nie als
Persönlichkeiten". Nach hundert Seiten habe sie aber bemerkt, dass sie
die Zwerge auch nur wegen ihrer Kleinheit berücksichtigt habe, "und so habe
ich sie als Hauptfiguren gestrichen, aber einige Zwerge sind doch im
Buch geblieben" - was um so einfacher war, da der Zar aller Reußen für
sein Amüsement ein Zwergenvölkchen am Hofe hält." Außerdem ist
Johanna von einer verzweifelten Mutter ein Zwergenmädchen untergeschoben worden, das sie später
adoptieren wird und das - natürlich - zu einer Persönlichkeit
heranwächst...
Auch das Unwahrscheinlichste erscheint bei Helga Hegewisch, der
1931 geborenen Reederstochter aus Hamburg, --- wahrscheinlich.
"Historisch korrekt ist dieses Buch nicht, aber es hätte alles so
sein können", sagt sie, die Mutter von sechs Kindern, aus deren Feder
auch "Lauf, Lily lauf",
"Kitty und Augusta", "Die Totenwäscherin" und "Windsbraut" stammen.
|
Gisela Reller /
www.reller-rezensionen.deWeitere Rezensionen zu "Russische Zarinnen und Zaren":
|
- Boris Akunin, Der Favorit der Zarin. (Katharina die Große.)
- Ellen Alpsten, Die Zarin. (Katharina I.)
- Daniil Granin, Peter der Große.
- Iny Lorentz, Die Tatarin. (Peter der Große).
- Reinhold Neumann-Hoditz, Iwan der Schreckliche / Peter der Große.
|
Am 27.07.2007 ins Netz gestellt. Letzte Bearbeitung am
22.11.2019.
Das unterschiedliche Schreiben von Eigennamen ist den unterschiedlichen Schreibweisen der Verlage geschuldet. |
Schlechte Nachricht reist schnell. |
Sprichwort der Russen |
|
|