Belletristik REZENSIONEN |
Stolz auf den Atomreaktor, der "seit Jahren schnurrt wie eine Katze"...
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Wladimir Jaworiwski |
Ukrainer |
Maria mit der Wermutspflanze
Roman um die Havarie von Tschernobyl
Aus dem Russischen von Thea-Marianne Bobrowski
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Verlag der Nation, Berlin 1990, 2.Auflage, 172 S.
Vor mir liegt ein Buch, das 1986/87 geschrieben wurde und 1989, drei
Jahre nach dem Super-Gau in
Tschernobyl, erschienen ist. Der Autor Wladimir Jaworiwski, 1942 geboren,
ist
Ukrainer. Gereizt, dieses Buch mehr als zwanzig Jahre nach Erscheinen zu lesen, hat mich der
Untertitel "Roman um die Havarie um Tschernobyl".
Ein Roman?
Ja, es ist ein Roman und kein schlechter, obwohl an einigen
Stellen an Trivialliteratur anklingend: "Sie küssen sich, erhitzt
von der schnellen Fahrt, allein am menschenleeren Flußufer. Sie
haben noch nicht die Sturzhelme abgenommen, die behindern sie jetzt,
stoßen mit einem unheimlichen hohlen Laut aneinander, als würden
zwei Schädel gegeneinanderprallen. Doch die beiden hören es nicht.
Noch pfeift der Frühlingswind in ihren Ohren, noch flimmert die
dahinrasende Landstraße vor ihren Augen, der Wald und der
Sternenhimmel über ihnen scheinen zu bersten, und der Rausch der
Leidenschaft stürmt in ihren Körpern, betäubt sie und lähmt alle
Willenskraft..."
Der Autor setzt seinem Roman diese Zeilen voran: "Es reicht nicht
aus, von diesen [Tschernobyler] Ereignissen zu berichten. Deshalb will ich Ihnen
helfen, sie zu sehen. Daraus erklärt sich der Stil.
Vielleicht ist es ein `Videoroman´."
Ein Videoroman? Was ist ein Videoroman?
Im Mittelpunkt des berührenden Buches steht die Familie
Mirowitsch mit ihren fünf erwachsenen Kindern - Alexander, Mikola,
Odarka, Grigori und Fjodor. Sie kommen im Frühjahr 1986 zu ihrer
Mutter Maria ([...] "klein,
erschöpft von der schweren Arbeit und gewichtlos wie ein schwarzer
Vogel, mit großen blauen Augen, die in dem langen Leben nicht
verblaßt sind"). Sie treffen sich in ihrem Heimatdorf Gorodischtscha*
("Stille, Einsamkeit, Verfall."), um ihren Vater zu Grabe zu tragen. Wie es die
ukrainische
Sitte vorschreibt, verabreden sie sich beim Abschied, neun Tage
später zum ersten Totengedenken wieder zu kommen. Doch Mutter Maria
wartet auf ihre Kinder vergeblich!
Was ist geschehen?
Am 26. April 1986 hat es im
"Tschernobyler Atomkraftwerk hinter dem Wald" ein Unglück gegeben -
der Reaktorblock 4 ist explodiert und hat Radioaktivität von
einhundert Atombomben von der Zerstörungskraft der Atombomben auf
Nagasaki und Hiroshima freigesetzt. Alle Kinder Marias sind auf die
eine oder andere Weise von diesem Reaktorunglück betroffen; denn das
Atomkraftwerk ist nahezu der einzige Arbeitgeber für die Bewohner
von Gorodischtscha.
Alexander, der Erstgeborene,
verheiratet mit einer Ärztin, Held der sozialistischen Arbeit,
ausgezeichnet mit dem Staatspreis Goldener Stern, ist Atomphysiker
in Moskau, Korrespondierendes
Mitglied der Akademie der Wissenschaften der UdSSR [Union der Sozialistischen
Sowjetrepubliken], Direktor des Projektierungsinstituts für
Atomenergiewesen und --- der Konstrukteur des Unglücksreaktors. "Auf
der Sitzung des Wissenschaftlichen Rats gingen die Meinungen der
Fachleute über die Reaktorvariante [...] auseinander. [...] Der
Reaktor von [Alexander] Mirowitsch wurde vom Minister und von der
Kommission als der billigste gewertet: Er forderte keine riesigen
unterirdischen Schächte für den Fall einer Havarie und konnte
überall errichtet werden, wo ein Fluß oder ein See in der Nähe war.
[...] Der Reaktor von Mirowitsch kostete nur eine halbe Milliarde
Rubel (das Wohngebiet mitgerechnet), der Staat brauchte dringend
Atomkraftwerke, um Länder des Warschauer Vertrags mit Strom zu
versorgen, jemand `ganz hoch oben´ lobte ihn und schlug den begabten
Wissenschaftler für eine Auszeichnung vor. [...] Wenn jetzt jemand
den Reaktor von Mirowitsch als dilettantisch bezeichnete und
man Alexander Iwanowitsch das hinterbrachte, lächelte er großmütig
und scherzte: "Alles Geniale scheint auf den ersten Blick einfach
und dilettantisch zu sein, eben weil es genial ist..."
Mikola, mit Ludmilla
verheiratet, ist der Oberoperator am Block 4. Er wusste seit
längerem, dass man "schon im Projekt hätte vorsehen müssen, daß das
Notkühlsystem unter keinen Umständen abgeschaltet werden" darf. Er
weiß, dass er dem Bruder längst "von diesem Fehler im Projekt hätte
sagen müssen, aber er sieht den Bruder immer nur flüchtig und will
ihn nicht mir nichts, dir nichts in seinem Ehrgeiz kränken. Trotzdem
hätte er es tun sollen... Wenn sie sich am vierzigsten Tag nach
Vaters Tod [Am neunten Tag, zum zweiten Treffen, würde er nicht im
Lande sein...] alle wiedersehen, sagt er´s ihm bestimmt."
Grigori, der Junggeselle und
Schwerenöter, genannt Griz, ist Feuerwehrmann und gehörte zu den
Ersten am Brandherd des Reaktorbloks 4. Ihm und seinen Mannen ist es zu verdanken, daß
das Feuer nicht auf Block 3 übergegriffen hat.
Odaka, die einzige Tochter, ist
Hausmeisterfrau und verheiratet mit
dem Trinker Stepan, deren beide Kinder aus erster Ehe sie groß
zieht; Stepan arbeitet ebenfalls im
Atomkraftwerk.
Der jüngste Sohn Fjodor ist
taubstumm und lebt noch im Dorf bei seiner Mutter Maria.
1986,
Michail Gorbatschow hatte vor etwa einem Jahr
Perestroika und Glasnost verkündet. Überall wehte
frischer Wind. "Die Zeitungen berichteten über himmelschreiende
Beispiele von Lotterwirtschaft und Korruption. [...] allmählich
wurde man auch in der Betriebszeitung der Energetiker mutiger. Der
alte Minister für Energiewesen wurde pensioniert. [...] alle
erwarteten Veränderungen zum Besseren. Obendrein näherten sich
die Feiertage: 1.Mai, Ostern (obwohl dieses Fest nur von den Alten
begangen wurde, die alle möglichen leckeren Speisen vorbereiteten),
der Tag des Sieges und danach noch der zehnte Jahrestag der
Inbetriebnahme des ersten Blocks. Es war ein offenes Geheimnis, daß
das Kraftwerk und die Belegschaft ausgezeichnet werden sollten.
[...] Die Devise der Atomenergetiker: Zum 1. Mai hundert Millionen
Kilowatt über den Plan hinaus!"
Der 26.April 1986 war ein Sonnabend,
alle freuten sich, bei schönem Wetter auf das Wochenende und die
kommenden Feiertage. Am Sonntag, dem 27. April, gingen die Menschen,
leicht bekleidet, spazieren, grillten, feierten...
Michail Gorbatschow,
der Erfinder von Umbau und Transparenz, verrät drei Tage lang keinem im In- und
Ausland, in welcher Gefahr die Menschheit ist!!!
Wladimir Jaworiwski wendete sich in
Maria mit der Wermutpflanze** der Atomproblematik zu - nach
Fukushima wieder brandaktuell. Nachdrücklich fordert er dazu auf, mit der
Atomkraft verantwortungsbewusst und äußerst wachsam
umzugehen. Durchaus beeindruckend die hohe Einsatzbereitschaft bei
der Begrenzung der Schäden und die tragischen Folgen für das Leben
der Menschen in dieser Gegend. Erstaunlich aber auch die
Technikgläubigkeit und der Stolz auf den "brodelnden Reaktor, der
seit Jahren schnurrt wie eine Katze". Kaum zu glauben, was man bei Jaworiwski zu lesen
bekommt: "In den Brusttaschen stecken die
Strahlungsmeßgeräte, die vor jeder Schicht aufgeladen werden müssen,
aber lieber sitzt man diese fünf Minuten noch im Rauchzimmer herum.
Früher, als sie so eine niedliche Jungsche als Ingenieur für
Sicherheitstechnik hatten, ging noch der eine oder andere zum
Aufladen, aber jetzt sitzt da ein eingebildeter Laffe, der mit dem
Direktor und dem Chefingenieur pausenlos Karten spielt, soll er sich
doch zu Tode spielen! Am Knopf des Schutzanzuges hängt eine Berlocke,
mag die mitzählen. Ende des Monats wird sie im Labor abgeliefert, da
zeigt sie schon an, was die Stunde geschlagen hat. Wenn man sein
Meßgerät aufladen läßt, lachen die einen die anderen bloß aus und
frotzeln rum."
Da ist zum Beispiel der
Stellvertretende Chefingenieur, Wassil Goloborodko, der sich mal
"ein Stündchen" von seiner Arbeit ´frei nimmt´, um sich mit seiner
alten Liebe Ludmilla zu treffen, der unzufriedenen Frau von Mikola
("Keine echte Freude, keine Zufriedenheit. Nur Müdigkeit und
Traurigkeit sind echt. Weinen und wehklagen, daß es durchs Haus
hallt, laut heulen und schreien, doch nicht einmal dafür reichen
Leidenschaft und Gefühle.") Sicherlich hat Jaworiwski diese Szene
für seinen Roman erfunden, aber sie hätte sich genau so abgespielt
haben können. Ich erinnere mich noch daran, wie unter Juri Andropow
- von Juni 1983 bis Februar 1984 Staatsoberhaupt der
Sowjetunion - die Leute auf
Moskaus
Straßen kontrolliert wurden, ob sie statt auf der Arbeit zu sein zum Friseur gingen, einkauften,
Erledigungen machten...
Der Oberoperator Mikola ruft
verzweifelt nach Goloborodko: "Wo steckt der Hund? Schalt das
Notkühlsystem an, die Kühlwasserpumpen versagen! Ich hab die Turbine
nicht mehr in der Gewalt. Fahr die Brennstäbe runter! Jede Sekunde
zählt! Der Reaktor geht durch!" - "Die Feuersäule erstarrt in
anderthalb Kilometer Höhe, auf ihrer Spitze bildet sich ein
Lichtball, der diesen gespenstischen Rumpf aufzusaugen scheint. Am
Himmel wächst ein riesiger Pilz, in dessen Innern sich etwas bewegt,
ballt und aufrichtet. Der Pilz selbst aber hängt über der
nächtlichen Erde wie riesiger Weihnachtsschmuck von blutroter Farbe [...] Der radioaktive Pilz über dem
Atomkraftwerk breitet sich am
Himmel aus und ist deshalb nicht recht wahrnehmbar, nur eine große
schwere Wolke bewegt sich langsam nach Westen, nach
Belorußland***
von einem leisen Wind getrieben, den man auf der Erde kaum spürt. In
weitem Umkreis um das Kraftwerk brennen die durch die Explosion
herausgeschleuderten Uranstücke wie helle Kerzen - im Gras, auf dem
Beton, auf dem Asphalt, auf den Dächern der Gebäude, in den tiefen
Radspuren der Laster. Dort gluckst es, brodelt es. Mühselig kriechen
krepierende Frösche heraus, können aber vor der Gefahr nicht mehr
fliehen, weder zum Kriechen noch zum Quaken reicht ihnen die Kraft.
[...] Menschen rennen zur Anmeldung, springen über die glimmenden
Uran- und Graphitstäbe. Wer von ihnen weiß schon, daß diese Stäbe
den Tod verstrahlen? Sie sehen sie zum ersten Mal im Leben. Woher
sollen sie es wissen?"
"Seit seiner Studienzeit hatte man
ihm [Pusatsch] weisgemacht, die sowjetischen Reaktoren seien
ungefährlich, ihr Verkleidung sei zuverlässig, der Havarieschutz
funktioniere immer. Wer das anzuzweifeln gewagt hätte, wäre als
Provokateur abgestempelt worden."
Als endlich durchsickert, was
Schreckliches geschehen ist, macht sich überall Hilflosigkeit breit.
Einem Brigadier, verantwortlich für die Evakuierung der umliegenden
Ortschaften, fällt angesichts des Chaos nur ein, Panikmacher zu
bestrafen! "250 Rubel für Panik." Es gibt einige Szenen
(Videobilder?), die unvergesslich sind, z. B. der schwer verstrahlte
Schäferhund, der verzweifelt hinter den Evakuierungsbussen her rennt
(Haustiere müssen in der Zone bleiben.)...
Im Internet schreibt Thomas
Schiemann: "Nachdem das Buch fast zwanzig Jahre [ungelesen] bei mir
im Bücherschrank lag, habe ich es jetzt gelesen, und es hat mich
vollkommen in seinen Bann gezogen."
Mich auch!
*
In der "Thüringer Allgemeinen" vom
26. April 2010 entdecke ich einen Artikel anlässlich des 24.
Jahrestages der Katastrophe von Tschernobyl: "Kurz vor dem Jahrestag
erschreckte der ukrainische Abgeordnete und Tschernobyl-Experte
Wladimir Jaworiwski [der Autor von "Maria mit der
Wermutspflanze"] die internationale Öffentlichkeit. Wenn es zu
einem Erdbeben der Stärke fünf komme, könne das Dach des
Betonsarkophags abrutschen, meinte der Parlamentarier [...]. Wenn
das Dach des Sarkophags abrutsche, könne es zu einer zweiten
Explosion kommen, schwerer als die von 1986, warnte der Experte. -
Bis heute ist immer noch vieles unbekannt, was in Tschernobyl
eigentlich in der Nacht auf den 26 April 1986 passierte. Man weiß
zum Beispiel nicht, wie hoch die Strahlung nach der Explosion war.
Als 69 Feuerwehrleute den Brand im Maschinensaal und im
Reaktorgebäude bekämpften, streikten ihre Dosimeter, die auf 1 000
Röntgen in der Stunde ausgelegt waren. Unbekannt ist auch, wie viel
von dem radioaktiven Brennstoff in die Unwelt gelangte. Nach
offiziellen Angaben gelangten fünf bis 30 Prozent des radioaktiven
Stoffs in die Luft. Augenzeugen berichteten jedoch, der zerstörte
Reaktor sei leer und somit sei viel mehr in die Umwelt gelangt. Bei
den 69 Feuerwehrleuten machte sich die Strahlenkrankheit sofort
bemerkbar. Als sie ihre Handschuhe auszogen, fiel die Haut von den
Händen ab. - Bei den am Unfall beteiligten Personen gäbe es ein
kollektives Schweigen, die Protokolle der schichtführenden Brigade
seien verschwunden, schreibt der Experte Boris Gorbatschow in der
angesehenen Kiewer Zeitung `Serkalo Nedeli´. Nicht der Reaktortyp,
sondern ein falscher Befehl aus
Moskau sei für das Unglück
verantwortlich gewesen. Der Befehl kam angeblich per Telefon von einem ehemaligen Chefingenieur des
Kernkraftwerkes Tschernobyl mit
dem Namen G. Koptschinski, der zum Zeitpunkt des Unglücks einen
leitenden Posten im Ministerrat in Moskau innehatte und der heute
unbescholten als Rentner in einem Haus der höheren Preisklasse im
Stadtzentrum lebt." |
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