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        Als anlässlich der Frankfurter Buchmesse 2002 acht litauische 
        Lyriker aus ihren Werken lesen, sitzt sie, Zuhörerin wie ich, neben mir: 
        Renata Šerelytė 
        - nicht ganz so "dünn wie Makkaroni" - (...) aber doch fast eine 
        "Verhöhnung der gesunden Arbeiterin, dieser wahren Heldin, die nicht nur 
        einen Bulldozer fahren, sondern auch ein Gewehr im Nu auseinander nehmen 
        und wieder zusammenlegen kann" (S. 229) - im "Sozrealismus", versteht sich, in dem, wäre 
        Litauen kein unabhängiger Staat geworden, Renata          
        Šerelytė nach eigener Aussage "Komsomolzin, Kommunistin, Maỉtre des 
        Sozrealismus" hätte werden können. In  
        Šerelytės 
        Buch kommt der Sozialistische Realismus  nur noch satirisch vor. 
        Auf allen veröffentlichten Bildern 
        langhaarig, hatte ich sie mit ihren kurzen Haaren nicht gleich erkannt 
        und so blieb dann bis zum Beginn der Lesung nur schnell die Frage an sie - 
        die bisher Gedichte, Erzählungen, Dramen und Kinderbücher schrieb - warum sie sich nun an einen Roman gewagt habe. Sie antwortet ohne 
        zu zögern (Man hat ihr diese Frage wohl schon oft gestellt.): "Ich war 
        einfach neugierig, ein neues Genre auszuprobieren. Wahrscheinlich braucht man keine  Gründe, um 
        Literatur zu schaffen." Bevor die Lesung zu Ende war, entschwand Renata Šerelytė 
        - denn sie hatte selbst einen Lesetermin, schließlich ist Litauen der 
        Länderschwerpunkt der Frankfurter Buchmesse 2002. Auf einer solchen 
        Lesung hörte ich sie sagen: "Die Schriftstellerei ist nicht nur ein 
        Handwerk, sondern auch ein Geschenk Gottes. Ein Handwerk kann man 
        erlernen, das Geschenk lässt einem die Gnade Gottes zukommen. Umsonst. 
        Ohne Grund." 
        
  
        Die einen preisen Renata Šerelytė 
        als "literarisches Ereignis" ("Die Zeit"), andere halten sie für die 
        "wichtigste zeitgenössische Autorin" ("Rowohlt-Revue"), wieder andere 
        ("Neues Deutschland")  halten ihr Buch eher für "sinnlos als für 
        sinnvoll"...
        
  
        Tatsächlich hat man Mühe, die Story der 
        Geschichte zusammenzuklauben: Das Buch besteht aus zwei Teilen. Der 
        erste Teil "Sterne des Wermuts" beginnt mit der Kindheit der im Buch 
        namenlosen Ich-Erzählerin in dem abgeschiedenen kleinen Ort Palieknė. 
        Spießertum, Langeweile, Trostlosigkeit, Aberglaube und Suff kennzeichnen 
        das Dorf - "Was ist denn hier schon schön?" Nur einmal am Tag kann man 
        dieser Tristes mit dem Bus entfliehen, morgens um halb Neun. Im nahe 
        gelegenen Städtchen mit Bars und verschiedenen Plattenbauten treffen 
        sich die "Maulwürfe und Trinker". Die Mutter der Roman-Erzählerin ist 
        ertrunken, der kleine Bruder kam ins Heim, der schlampige Vater hat 
        immer mal wieder eine neue Frau, nur zur Großmutter hat das Mädchen 
        emotionalen Zugang. Die "Heldin" beschließt, dem Dorf zu entfliehen und 
        Schriftstellerin zu werden. Doch erst einmal gewinnt sie einen 
        Rayon-Wettbewerb und erhält eine Stelle im Kulturhaus des Städtchens, 
        ein Stück von ihr wird  aufgeführt. Danach klappt es mit dem 
        Literaturstudium in Vilnius, und es beginnt der zweite Teil "Sterne des 
        Pflasters". Danach arbeitet die Erzählerin bei den "Drei Pinguinen" - 
        "ehemals eine saubere Jugendzeitschrift, jetzt ein populäres 
        Massenblatt". Ob als Kind, ob als junges Mädchen oder nun als junge Frau 
        - unentwegt träumt und albträumt sie, im Schlafen wie im Wachen. So 
        erlebt sie an einer Müllkippe einen Hexensabbat, so steht eines Nachts 
        ein zotteliger Dämon an ihrem Bett, mit dem sie davon reitet, so borgt 
        ihr der Satan persönlich einen 200-Litas-Schein (der zu Hause zu 
        Schafkot wird), lernt auch Engel persönlich kennen, auch den Tod, 
        Geister, sprechende Statuen und tote Dichter... Ihr einziger 
        wahrer Freund ist ihr Redaktionskaktus, mit dem zusammen sie so manches 
        Fläschchen leert und für den sie, als er eines Tages verschwunden ist, 
        ihr Leben riskiert. "Meine Erinnerungsarbeit, den literarischen Ansatz 
        und das Raum-Zeit-Verhältnis in meinem Werk würde ich unter Vorbehalt 
        als magischen Surrealismus bezeichnen." Mir scheint diese 
        Selbsteinschätzung von Renata  
        Šerelytė ist gerechtfertigt durch die 
        magischen Elemente in ihrem literarischen Stil, die schließlich in einen 
        Traumstil übergehen. Der Roman, denn doch mehr sinnvoll als sinnlos, 
        lebt vom Erzählen, ohne einheitlichen Handlungsstrang. Das ist 
        sicherlich gewöhnungsbedürftig...
        
  
        Als ich diese Rezension schreibe, sehe ich 
        das filigrane Persönchen vor mir... Renata Šerelytė (geboren 1970), hat 
        Lituanistik an der Universität Vilnius studiert und arbeitete unter 
        anderem als Redakteurin und Journalistin für verschiedene Zeitungen und 
        Zeitschriften. Zur Zeit ist sie Leiterin der Literaturbeilage des 
        Glasbilder-Puppentheaters Viavorykštė. 
        Die ersten Gedichte von Renata Šerelytė wurden 1986 veröffentlicht. Die 
        historische Abenteuernovelle für Jugendliche "Jundas Schicksal" (1997) 
        wurde zum besten litauischen Kinderbuch gewählt und mit dem Šarūnas-Marčiulionis-Preis 
        ausgezeichnet.. Für Sterne der Eiszeit erhielt sie 1999  den 
        renommierten Žemaitė-Preis. Neben ihrer Tätigkeit als Schriftstellerin 
        rezensiert  sie seit 1995 literarische Neuerscheinungen in 
        Kulturzeitschriften und Zeitungen. 1997 debütierte sie als Dramatikerin. 
        Ihr Stück "Das Dachfenster" gewann 1999 den zweiten Preis des Open-society-Wettbewerbs für Kinder- und Jugendtheater. Renata Šerelytės 
        Kurzgeschichten wurden bisher ins Englische, Französische, Russische, 
        Schwedische, Georgische und Polnische übersetzt. Sie lebt mit ihrem Mann 
        und zwei Kindern in Vilnius. Ich freue mich über ihre Widmung anlässlich 
        der Frankfurter Buchmesse 2002: Für Frau Gisela - herrlich (statt 
        herzlich) - Renata.
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