Belletristik REZENSIONEN

Vom Satan Geld geborgt...

Litauerin
Sterne der Eiszeit
Deutsch von Akvilė Galvosaitė
Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2002, 317 S.
 
Als anlässlich der Frankfurter Buchmesse 2002 acht litauische Lyriker aus ihren Werken lesen, sitzt sie, Zuhörerin wie ich, neben mir: Renata Šerelytė - nicht ganz so "dünn wie Makkaroni" - (...) aber doch fast eine "Verhöhnung der gesunden Arbeiterin, dieser wahren Heldin, die nicht nur einen Bulldozer fahren, sondern auch ein Gewehr im Nu auseinander nehmen und wieder zusammenlegen kann" (S. 229) - im "Sozrealismus", versteht sich, in dem, wäre Litauen kein unabhängiger Staat geworden, Renata Šerelytė nach eigener Aussage "Komsomolzin, Kommunistin, Maỉtre des Sozrealismus" hätte werden können. In Šerelytės Buch kommt der Sozialistische Realismus nur noch satirisch vor.

Auf allen veröffentlichten Bildern langhaarig, hatte ich sie mit ihren kurzen Haaren nicht gleich erkannt und so blieb dann bis zum Beginn der Lesung nur schnell die Frage an sie - die bisher Gedichte, Erzählungen, Dramen und Kinderbücher schrieb - warum sie sich nun an einen Roman gewagt habe. Sie antwortet ohne zu zögern (Man hat ihr diese Frage wohl schon oft gestellt.): "Ich war einfach neugierig, ein neues Genre auszuprobieren. Wahrscheinlich braucht man keine Gründe, um Literatur zu schaffen." Bevor die Lesung zu Ende war, entschwand Renata Šerelytė - denn sie hatte selbst einen Lesetermin, schließlich ist Litauen der Länderschwerpunkt der Frankfurter Buchmesse 2002. Auf einer solchen Lesung hörte ich sie sagen: "Die Schriftstellerei ist nicht nur ein Handwerk, sondern auch ein Geschenk Gottes. Ein Handwerk kann man erlernen, das Geschenk lässt einem die Gnade Gottes zukommen. Umsonst. Ohne Grund."

Die einen preisen Renata Šerelytė als "literarisches Ereignis" ("Die Zeit"), andere halten sie für die "wichtigste zeitgenössische Autorin" ("Rowohlt-Revue"), wieder andere ("Neues Deutschland")  halten ihr Buch eher für "sinnlos als für sinnvoll"...

Tatsächlich hat man Mühe, die Story der Geschichte zusammenzuklauben: Das Buch besteht aus zwei Teilen. Der erste Teil "Sterne des Wermuts" beginnt mit der Kindheit der im Buch namenlosen Ich-Erzählerin in dem abgeschiedenen kleinen Ort Palieknė. Spießertum, Langeweile, Trostlosigkeit, Aberglaube und Suff kennzeichnen das Dorf - "Was ist denn hier schon schön?" Nur einmal am Tag kann man dieser Tristes mit dem Bus entfliehen, morgens um halb Neun. Im nahe gelegenen Städtchen mit Bars und verschiedenen Plattenbauten treffen sich die "Maulwürfe und Trinker". Die Mutter der Roman-Erzählerin ist ertrunken, der kleine Bruder kam ins Heim, der schlampige Vater hat immer mal wieder eine neue Frau, nur zur Großmutter hat das Mädchen emotionalen Zugang. Die "Heldin" beschließt, dem Dorf zu entfliehen und Schriftstellerin zu werden. Doch erst einmal gewinnt sie einen Rayon-Wettbewerb und erhält eine Stelle im Kulturhaus des Städtchens, ein Stück von ihr wird aufgeführt. Danach klappt es mit dem Literaturstudium in Vilnius, und es beginnt der zweite Teil "Sterne des Pflasters". Danach arbeitet die Erzählerin bei den "Drei Pinguinen" - "ehemals eine saubere Jugendzeitschrift, jetzt ein populäres Massenblatt". Ob als Kind, ob als junges Mädchen oder nun als junge Frau - unentwegt träumt und albträumt sie, im Schlafen wie im Wachen. So erlebt sie an einer Müllkippe einen Hexensabbat, so steht eines Nachts ein zotteliger Dämon an ihrem Bett, mit dem sie davon reitet, so borgt ihr der Satan persönlich einen 200-Litas-Schein (der zu Hause zu Schafkot wird), lernt auch Engel persönlich kennen, auch den Tod, Geister, sprechende Statuen und tote Dichter... Ihr einziger wahrer Freund ist ihr Redaktionskaktus, mit dem zusammen sie so manches Fläschchen leert und für den sie, als er eines Tages verschwunden ist, ihr Leben riskiert. "Meine Erinnerungsarbeit, den literarischen Ansatz und das Raum-Zeit-Verhältnis in meinem Werk würde ich unter Vorbehalt als magischen Surrealismus bezeichnen." Mir scheint diese Selbsteinschätzung von Renata Šerelytė ist gerechtfertigt durch die magischen Elemente in ihrem literarischen Stil, die schließlich in einen Traumstil übergehen. Der Roman, denn doch mehr sinnvoll als sinnlos, lebt vom Erzählen, ohne einheitlichen Handlungsstrang. Das ist sicherlich gewöhnungsbedürftig...

Als ich diese Rezension schreibe, sehe ich das filigrane Persönchen vor mir... Renata Šerelytė (geboren 1970), hat Lituanistik an der Universität Vilnius studiert und arbeitete unter anderem als Redakteurin und Journalistin für verschiedene Zeitungen und Zeitschriften. Zur Zeit ist sie Leiterin der Literaturbeilage des Glasbilder-Puppentheaters Viavorykštė. Die ersten Gedichte von Renata Šerelytė wurden 1986 veröffentlicht. Die historische Abenteuernovelle für Jugendliche "Jundas Schicksal" (1997) wurde zum besten litauischen Kinderbuch gewählt und mit dem Šarūnas-Marčiulionis-Preis ausgezeichnet.. Für Sterne der Eiszeit erhielt sie 1999  den renommierten Žemaitė-Preis. Neben ihrer Tätigkeit als Schriftstellerin rezensiert  sie seit 1995 literarische Neuerscheinungen in Kulturzeitschriften und Zeitungen. 1997 debütierte sie als Dramatikerin. Ihr Stück "Das Dachfenster" gewann 1999 den zweiten Preis des Open-society-Wettbewerbs für Kinder- und Jugendtheater. Renata Šerelytės Kurzgeschichten wurden bisher ins Englische, Französische, Russische, Schwedische, Georgische und Polnische übersetzt. Sie lebt mit ihrem Mann und zwei Kindern in Vilnius. Ich freue mich über ihre Widmung anlässlich der Frankfurter Buchmesse 2002: Für Frau Gisela - herrlich (statt herzlich) - Renata.


Gisela Reller / www.reller-rezensionen.de

Nachfolgend die in dieser Rezension gebrauchten, für das Deutsche ungewöhnlichen Buchstaben des litauischen Alphabets und ihre Aussprache:

          Č č = tsch wie bei Tschaikowski
          Ė ė = langes offenes e wie in lesen
          Š š = Sch wie in Schule
          Ū ū = langes u wie in Schuh

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Am 10.02.2004 ins Netz gestellt. Letzte Bearbeitung am 25.11.2019.

Das unterschiedliche Schreiben von Eigennamen ist den unterschiedlichen Schreibweisen der Verlage geschuldet.

  
Der Teufel -
ist für die Litauer
fast

ein guter Freund.

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