Kinderbuch-JugendbuchREZENSIONEN

Zwei Ausreißer wollen nach Amerika 
 
Russe
Die Jungen[s]
Russische Klassiker für Kinder
Aus dem Russischen von Alexander Eliasberg
Illustrationen von Natalia Salienko
Verlagshaus Mescheryakov, Wien 2010

Außerordentlich  verdienstvoll finde ich es vom Wiener Verlagshaus Mescheryakov, eine Reihe "Russische Klassiker für Kinder" herauszugeben. Das Verlagshaus, 2005 von Vadim Mescheryakov gegründet, wurde 2008 von der "Professionalnoe Knishnoe Soobstschestwo" als bester russischer Verleger ausgezeichnet; im selben Jahr erhielt das Verlagshaus von der russischen Agentur für Verlagswesen das Sieger-Diplom für die Buchserie "Wissenschaftliche Hobbys". "Das Verlagshaus", schreibt der Verlag, "betreut den deutschsprachigen Raum mit Schwerpunkt Kinder- und Jugendbücher."

Vor mir liegt - schön anzusehen - von Anton Tschechow, "Die Jungs". Die Jungs?

Der Plural von "der Junge" ist "die Jungen". Ein Blick in den neuesten Duden bestätigt: Singular: der Junge, Plural: die Jungen. Als umgangssprachlich lässt der Duden noch gelten: "die Jungs" und "die Jungns". "Die Jungens" ist falsch! Und das auf der Titelseite (und dann auch weiterhin im Buch). Als Übersetzer entdecke ich auf Seite 4 der tschechowchen Erzählung Alexander Eliasberg. Der jüdisch-russische Literaturhistoriker, Übersetzer, Herausgeber und Autor, 1878 in Minsk geboren, 1924 in Berlin gestorben, war ein verdienstvoller Mann. Nach seinem Studium in Moskau emigrierte er 1905 nach München. Dort erschien 1907 seine erste Übersetzung, eine von ihm selbst zusammengestellte und eingeleitete Anthologie zeitgenössischer russischer Lyrik, unter anderem mit Gedichten von Konstantin Balmont, Waleri Brjussow und Iwan Bunin. Später entfaltete Alexander Eliasberg eine umfangreiche Übersetzungs- und Herausgebertätigkeit für den Leipziger Insel Verlag und gab dort 1922 - seit 1917 ist Eliasberg staatenlos -  zusammen mit seinem Bruder David in der Reihe Bibliotheka mundi den Russischen Parnaß (Руссkiй Парңас) heraus. Diese in der russischen Originalsprache erschienene Gedichtsammlung vereint Autoren von Lomonossow bis Anna Achmatowa. Alexander Eliasberg machte in den folgenden Jahren eine Reihe neuer russischer Erzähler, Dichter und Publizisten im deutschen Sprachraum bekannt, insbesondere Alexej Tolstoj, Alexej Remisow, Ilja Ehrenburg, dessen "Julio Jurenito" er ins Deutsche übertrug, und Dmitri Mereschkowski; gerade las ich in der Übersetzung von Alexander Eliasberg "Peter und Alexej" von Dmitri Mereschkowski, 1924 bei R. Piper & Co., München, erschienen. Auch Werke klassischer russischer Autoren wie Alexander Puschkin, Leo Tolstoj, Nikolai Gogol, Fjodor Dostojewskij, Anton Tschechow übertrug Eliasberg ins Deutsche. Alexander  Eliasberg war mit Thomas Mann befreundet und hat erheblich zu dessen Bekanntwerden in Russland beigetragen. "Mальчики" ("Die Jungen") von Anton Tschechow (1860-1904) übersetzte Alexander Eliasberg 1920 - vor fast einem Jahrhundert. Und diese Uralt-Übersetzung übernimmt der Verlag, ohne an irgendeiner Stelle auf  die Patina dieser Übersetzung hinzuweisen. Ich finde es verantwortungslos, sowohl deutschsprachigen als auch Kindern von russischen Immigranten ein überholtes Deutsch anzubieten. Ich fand alleine in meiner Bibliothek mehrere Übersetzungen von "Mальчики": In "Gesammelte Werke in Einzelausgaben, Heitere Erzählungen" (Verlag Rütten & Loening, Berlin 1955), übersetzt von Johannes von Günther wurde "Mальчики" mit "Die Knaben" übersetzt; in "Gesammelte Werke in Einzelausgaben, Kurzgeschichten und frühe Erzählungen" (Verlag Rütten & Loening, Berlin, 3. Auflage, 1978 von Georg Schwarz ist "Mальчики" mit "Jungen" übersetzt. Beide Übersetzungen sind allemal moderner als die von Eliasberg.

Anton Tschechow, der vorwiegend für Erwachsene schrieb, hat auch wunderschöne Geschichten für Kinder geschrieben, seine bekannteste ist wohl die von der rotbraunen Hündin Kaschtanka. Seine Erzählung "Mальчики" wurde erstmals 1887 in der "Petersburger Zeitung" veröffentlicht. Sie erzählt von zwei abenteuerlustigen Jungen, die nach Amerika ausreißen wollen, "um [nach] Gold zu graben". Sie hatten sich schon eine Pistole, zwei Messer, Zwieback, ein Vergrößerungsglas, einen Kompass und vier Rubel [in] bar beschafft. Ein Junge nannte sich "Bruder Blassgesicht" (gemeint ist wohl eher "Bruder Bleichgesicht" oder "Weißer Bruder") der andere "Montigomo, die Habichtskralle". Ob der Verlag doch ein Auge auf andere Übersetzungen riskiert hat? Auf Seite 21 steht nämlich ganz unverhofft statt "Habichtskralle" - "Habichtsklaue" --- wie in der Übersetzung von Georg Schwarz. Beide abenteuerlustige Jungen werden Gott sei Dank aufgegriffen, weil sie von Laden zu Laden gegangen waren, um nach Schießpulver zu fragen. Wie sind Mama, Papa und die Schwestern Katja, Sonja und Mascha froh, dass ihr Bruder Woloditschka wieder wohlbehalten zu Hause ist. Nun kann Weichnachten kommen... Wer ganz bestimmt nicht kommt, sind Samojeden (S. 15), denn die benannten sich vor mehr als fünfzig Jahren in Nenzen um. Außerdem habe ich mir den Kopf zerbrochen, wer Main-Reed (S. 18) ist - bis ich darauf kam, dass Thomas Mayne Reid (1818-1883) gemeint sein könnte, der nach einem abgeschlossenen Theologiestudium als Hauslehrer arbeitete, 1839 aus Abenteuerlust nach Amerika ging, verschiedene Berufe ausübte - zum Beispiel war er Büffeljäger - und Bücher für Jugendliche und Erwachsene schrieb; Karl May hat die Bücher des irisch-amerikanischen Schriftstellers intensiv als Quelle benutzt.

Die hübschen Zeichnungen zu Die Jungen stammen von Natalia Salienko. 1961 in der Ukraine geboren, lebt sie seit 1970 in Moskau, wo sie am Polytechnischen Institut ihren Abschluss machte. Sie arbeitet für große Verlage in Russland und Südkorea und unterrichtet seit zehn Jahren selbst am Polytechnischen Institut.

Ich rate dem Verlagshaus Mescheryakov, seine "für den deutschsprachigen Raum" bestimmten Bücher - in denen sich orthographische, grammatische und Zeichenfehler finden - unbedingt von einem Muttersprachler korrigieren zu lassen - damit seine hübschen Bücher in Zukunft nicht "außen hui und innen pfui" sind, sondern sowohl außen als auch innen "hui".


Gisela Reller / www.reller-rezensionen.de

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  • Anthologie, Märchen-Samowar, (Darin: Nikolaj Gogol, Der Jahrmarkt von Sorotschinzy; Anton Tschechow, Kaschtanka;
    Nikolaj Gogol, Die Nase; Alexander Puschkin, Das Märchen vom Zaren Saltan.).
  • Anton Čechov (Tschechow), Kaschtanka und andere Kindergeschichten.
  • Antony Pogorelskij, Die kleine schwarze Henne. 
  • Leo Tolstoj, Philipok.
  • Anton Tschechow (Čechov), Kaschtanka.
  • Sergej Puschkin, Das Märchen vom Zaren Saltan.
Weitere Rezensionen zu Büchern aus dem "Verlagshaus Mescheryakov"

Am 30.08.2011 ins Netz gestellt. Letzte Bearbeitung am 27.11.2019.

Das unterschiedliche Schreiben von Eigennamen ist den unterschiedlichen Schreibweisen der Verlage geschuldet.

 

Im Anfang eines Abenteuers steckt schon das Ende.
Sprichwort der Russen


 

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