Außerordentlich verdienstvoll finde ich es vom Wiener
Verlagshaus Mescheryakov, eine Reihe "Russische Klassiker für
Kinder" herauszugeben. Das Verlagshaus, 2005 von Vadim Mescheryakov
gegründet, wurde 2008 von der "Professionalnoe Knishnoe
Soobstschestwo" als bester russischer Verleger ausgezeichnet;
im selben Jahr erhielt das Verlagshaus von der russischen Agentur für Verlagswesen
das Sieger-Diplom für die Buchserie "Wissenschaftliche Hobbys". "Das Verlagshaus", schreibt der Verlag, "betreut
den deutschsprachigen Raum mit Schwerpunkt Kinder- und
Jugendbücher."
Vor mir liegt - schön anzusehen - von Anton Tschechow, "Die Jungs".
Die Jungs?
Der Plural von "der Junge" ist "die Jungen". Ein Blick in
den neuesten Duden bestätigt: Singular: der Junge, Plural: die
Jungen. Als umgangssprachlich lässt der Duden noch gelten: "die
Jungs" und "die Jungns". "Die Jungens" ist falsch! Und das auf der
Titelseite (und dann auch weiterhin im Buch). Als Übersetzer
entdecke ich auf Seite 4 der tschechowchen Erzählung Alexander
Eliasberg. Der jüdisch-russische Literaturhistoriker, Übersetzer, Herausgeber und Autor, 1878 in
Minsk geboren, 1924 in Berlin
gestorben, war ein verdienstvoller Mann. Nach seinem Studium in
Moskau emigrierte er 1905 nach München. Dort erschien 1907 seine
erste Übersetzung, eine von ihm selbst zusammengestellte und
eingeleitete Anthologie zeitgenössischer russischer Lyrik, unter
anderem mit Gedichten von Konstantin Balmont, Waleri Brjussow und
Iwan Bunin. Später entfaltete
Alexander Eliasberg eine umfangreiche Übersetzungs- und
Herausgebertätigkeit für den Leipziger Insel Verlag und gab dort
1922 - seit 1917 ist Eliasberg staatenlos - zusammen mit seinem
Bruder David in der Reihe Bibliotheka
mundi den Russischen Parnaß (Руссkiй
Парңас) heraus. Diese in der
russischen Originalsprache erschienene Gedichtsammlung vereint Autoren von Lomonossow bis
Anna Achmatowa.
Alexander Eliasberg machte in den folgenden Jahren eine Reihe neuer
russischer Erzähler, Dichter und Publizisten im deutschen Sprachraum
bekannt, insbesondere Alexej Tolstoj, Alexej Remisow, Ilja Ehrenburg, dessen "Julio Jurenito" er ins Deutsche
übertrug, und Dmitri Mereschkowski; gerade las ich in der Übersetzung von Alexander Eliasberg "Peter und Alexej" von
Dmitri Mereschkowski, 1924 bei R. Piper & Co., München, erschienen.
Auch Werke klassischer russischer Autoren wie
Alexander Puschkin,
Leo Tolstoj,
Nikolai Gogol,
Fjodor Dostojewskij,
Anton Tschechow übertrug
Eliasberg ins Deutsche. Alexander Eliasberg war mit Thomas Mann befreundet und hat erheblich zu dessen Bekanntwerden in
Russland beigetragen. "Mальчики" ("Die Jungen") von
Anton Tschechow (1860-1904) übersetzte Alexander Eliasberg 1920 - vor fast
einem Jahrhundert. Und diese Uralt-Übersetzung übernimmt der Verlag,
ohne an irgendeiner Stelle auf die Patina dieser Übersetzung
hinzuweisen. Ich finde es verantwortungslos, sowohl
deutschsprachigen als auch Kindern von russischen Immigranten ein
überholtes Deutsch anzubieten. Ich fand alleine in meiner
Bibliothek mehrere Übersetzungen von "Mальчики": In "Gesammelte
Werke in Einzelausgaben, Heitere Erzählungen" (Verlag Rütten &
Loening, Berlin 1955), übersetzt von Johannes von Günther wurde "Mальчики"
mit "Die Knaben" übersetzt; in "Gesammelte Werke in Einzelausgaben,
Kurzgeschichten und frühe Erzählungen" (Verlag Rütten & Loening,
Berlin, 3. Auflage, 1978 von Georg Schwarz ist "Mальчики" mit
"Jungen" übersetzt. Beide Übersetzungen sind allemal moderner als
die von Eliasberg.
Anton Tschechow, der vorwiegend für
Erwachsene schrieb, hat auch wunderschöne Geschichten für Kinder
geschrieben, seine bekannteste ist wohl die von der rotbraunen
Hündin Kaschtanka. Seine Erzählung "Mальчики" wurde erstmals 1887
in der "Petersburger Zeitung" veröffentlicht. Sie erzählt von zwei
abenteuerlustigen Jungen, die nach Amerika ausreißen wollen, "um [nach]
Gold zu graben". Sie hatten sich schon eine Pistole, zwei Messer,
Zwieback, ein Vergrößerungsglas, einen Kompass und vier Rubel [in]
bar beschafft. Ein Junge nannte sich "Bruder Blassgesicht" (gemeint
ist wohl eher "Bruder Bleichgesicht" oder "Weißer Bruder") der andere "Montigomo, die
Habichtskralle". Ob der Verlag doch ein Auge auf andere
Übersetzungen riskiert hat? Auf Seite 21 steht nämlich ganz
unverhofft statt "Habichtskralle" - "Habichtsklaue" --- wie in der
Übersetzung von Georg Schwarz. Beide abenteuerlustige Jungen werden Gott sei Dank
aufgegriffen, weil sie von Laden zu Laden gegangen waren, um nach
Schießpulver zu fragen. Wie sind Mama, Papa und die Schwestern
Katja, Sonja und Mascha froh, dass ihr Bruder Woloditschka wieder
wohlbehalten zu Hause ist. Nun kann Weichnachten kommen... Wer ganz
bestimmt nicht kommt, sind Samojeden (S. 15), denn die benannten
sich vor mehr als fünfzig Jahren in Nenzen um. Außerdem habe ich mir den Kopf
zerbrochen, wer Main-Reed (S. 18) ist - bis ich darauf kam, dass Thomas Mayne Reid
(1818-1883) gemeint sein könnte, der nach einem abgeschlossenen
Theologiestudium als Hauslehrer arbeitete, 1839 aus Abenteuerlust
nach Amerika ging, verschiedene Berufe ausübte - zum Beispiel war er
Büffeljäger - und Bücher für Jugendliche und Erwachsene schrieb; Karl May hat die Bücher des irisch-amerikanischen
Schriftstellers intensiv als Quelle benutzt.
Die hübschen Zeichnungen zu Die Jungen stammen von Natalia Salienko. 1961 in der
Ukraine geboren, lebt sie seit 1970 in
Moskau,
wo sie am Polytechnischen Institut ihren Abschluss machte. Sie
arbeitet für große Verlage in Russland und Südkorea und unterrichtet
seit zehn Jahren selbst am Polytechnischen Institut.
Ich rate dem Verlagshaus
Mescheryakov, seine "für den deutschsprachigen Raum"
bestimmten Bücher - in denen sich orthographische, grammatische und
Zeichenfehler finden - unbedingt von einem Muttersprachler korrigieren zu lassen
- damit seine hübschen Bücher in Zukunft nicht "außen hui und innen pfui"
sind, sondern sowohl außen als auch innen "hui".
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