Kinderbuch-JugendbuchREZENSIONEN |
Ein Buch, das lügt?
|
Leo Tolstoj |
Russe |
Philipok |
Mit ganzseitigen farbigen
Illustrationen von Gennadij Spirin
Nacherzählt von Ann Keay Beneduce
Esslinger Verlag J. F. Schreiber, Esslingen / Wien 2002, 3.
Auflage, 32 S.
Der Russe Leo Nikolajewitsch
Tolstoj (1828-1910) und der Deutsche Jakob Ferdinand
Schreiber (1809-1868) - ein Großer der Weltliteratur und ein
erfolgreicher Verlagsgründer. Was die beiden Männer
gemeinsam haben? Beide wurden als Kinder zu Waisen und haben
es als Erwachsene zu Erfolg und Ansehen gebracht. Die Eltern
von Jakob Ferdinand starben als er drei Jahre alt war, die
Mutter von Leo Nikolajewitsch, als er ebenfall drei war, und
sein Vater starb, als er neuen Jahre alt war. Jakob
Ferdinand Schreiber wuchs in Stuttgart im Militärwaisenhaus
auf, Leo Nikolajewitsch Tolstoj bei Versandten. J. F.
Schreiber machte eine Ausbildung zum Lithografen, ging nach
Esslingen und gründete mit zweiundzwanzig Jahren einen
lithografischen Verlag. L. N. Tolstoj übersiedelte von
Moskau nach Kasan, begann
sein Studium an der Fakultät für
orientalische Sprachen, wechselte zur juristischen Fakultät
über, beendete sein Studium jedoch nicht. Schreibers Verlag
druckte ab 1840 Kinderbücher, Tolstoj gründete 1850 seine
erste Schule und schrieb Geschichten für Kinder, die er in
einem Lehrbuch für die Kinder seiner Dorfschule sammelte.
Als Jakob Ferdinand Schreiber mit neunundfünfzig Jahren
starb, war das ehemalige Waisenkind zum erfolgreichen
Unternehmer avanciert. Als Leo Nikolajewitsch Tolstoj mit
zweiundachtzig Jahren starb, hatte das ehemalige Waisenkind so berühmte Werke wie
"Hadschi Murat", "Krieg und Frieden",
"Anna Karenina"
geschrieben...
Graf Leo Nikolajewitsch Tolstoj gilt
weltweit als einer der größten Dichter. Weniger bekannt
dürfte sein, dass Graf Tolstoj auch viele sehr schöne
Geschichten für Kinder geschrieben hat, darunter die
Geschichte vom kleinen Philipok. Leo
[Lew] Tolstoj wurde auf
Jasnaja Poljana, dem Landgut seiner Familie geboren, das
etwa einhundert Kilometer südlich von Moskau liegt. Sein
Studium in Kasan brach er 1847 ab und
ließ sich wieder in Jasnaja Poljana nieder, dem Stammsitz der
Familie. Hier versuchte er mit Landreformen, die Lage seiner
dreihundertfünfzig geerbten Leibeigenen zu verbessern. Ab
1851 kämpfte er während der Befreiungskämpfe im
Kaukasus und
nach Ausbruch des Krimkrieges 1854 in der zaristischen
Armee. Die Erzählungen über diesen Krieg machten Leo Tolstoj
als Schriftsteller bekannt. 1857 und 1860/61 bereiste er
einige westeuropäische Länder, auch Deutschland. Sein
Interesse auf diesen Reisen galt vorrangig pädagogischen
Fragen. Nach seiner Rückkehr verstärkte Tolstoj
seine reformpädagogischen Bestrebungen und richtete
Dorfschulen nach dem Vorbild Rousseaus ein. Viele seiner
kleinen volkstümlichen Geschichten hat Tolstoj 1875 in "Das
neue Alphabet. Die russischen Lesebücher" veröffentlicht.
Als ein Meisterstück seiner kleinen Prosa für Kinder gilt
Philipok.
Der kleine Philipok möchte schon wie sein älterer Bruder
Peter zur Schule gehen. Seine Mutter aber meint, dass er
noch zu klein sei, und erlaubt es nicht. So verlässt
Philipok eines Tages, als die Großmutter beim Stricken eingenickt ist,
heimlich das Haus, um in die Schule zu gehen. Welche
Gefahren und Überraschungen ihn auf dem Weg erwarten - denn
die Schule ist am anderen Ende des Dorfes -, und wie der
Vierjährige schließlich in der Schule von den Kindern und
vom dem Lehrer empfangen wird, davon erzählt diese kleine
Geschichte, die Ann Keay Beneduce für Kinder nacherzählt
hat. Ann Keay Beneduce war Kinderbuchlektorin, hat selbst
zahlreiche Bücher für Kinder geschrieben und einige
klassische Kindergeschichten nacherzählt, darunter Texte von
Shakespeare und Swift, ebenfalls in Zusammenarbeit mit
dem Zeichner Gennadij Spirin. Für Phlipok hat sie einen zum
Vorlesen gut geeigneten Erzählstil verwendet "und kommt
damit dem russischen Original von Tolstoj sehr nahe", so der
Verlag.
Der Russe Gennadi Spirin wurde 1948 in einem kleinen Dorf bei
Moskau geboren. 1991 verließ
er mit seiner Frau Raissa und den beiden Söhnen Ilja und
Gennadij seine Heimat und ließ sich in Princeton, New
Jersey, nieder, wo der dritte Sohn Andrej geboren wurde.
Spirin hat sich gerade diese Geschichte von Tolstoj
ausgesucht, weil Phlipok zu seinen
Lieblingsgeschichten gehört, die er noch aus seiner eigenen
Kindheit kennt. Für die Figur des Philipok stand ihm
sein Sohn Andrej, der gerade eingeschult wurde, Modell.
Ich habe immer wieder meine Freude an den vielen Details seiner
Zeichnungen: an den geflochtenen Bastschuhen, an der
Zopfschnecke der Mutter, an den russischen Spielzeugfiguren,
an dem blumigen Umschlagtuch der Großmutter, an der Pelzschapka des Vaters, an dem Tragholz mit den zwei
Wassereimern, dem Kätzchen, den Hunden --- russisches
Bauernleben im 19. Jahrhundert. Gennadi Spirin hat auch
diese Bücher mit wunderschönen Illustrationen versehen:
"Das Märchen vom Zaren Saltan" von Alexander Puschkin;
"Kaschtanka" von Anton Tschechow;
"Die Nase" von Nikolaj Gogol;
"Die kleine
schwarze Henne" von Antony Pogorelskij;
"Märchen-Samowar" von
Puschkin, Gogol und Tschechow),
Laut Verlag ist die "anrührende Geschichte des kleinen Philipok, der mutig
seinen eigenen Weg geht", für Kinder ab vier Jahren geeignet.
Und unser Enkel Lenny? Was
sagt er - der in diesem Jahr in die Schule kommt - zum Text
von Leo Tolstoj und zu den Zeichnungen von Gennadij Spirin?
Wir beide machen es uns auf der Couch gemütlich und - Oma
liest vor. Als ich bei der Stelle angelangt bin, dass der
Lehrer dem kleinen vierjährigen Philipok verspricht, mit der
Mutter zu reden, damit er von jetzt an mit seinem großen
Bruder Peter in die Schule gehen darf, sagt Lenny: "So
einfach geht das aber nicht." - "Warum nicht?", frage
ich. - "Weil man mit vier Jahren noch gar nicht in die
Schule gehen darf, und weil man vom Arzt untersucht werden
muss! Das Buch lügt." - Mit Schokolade und Apfelsaft in
Reichweite rede ich mir in der nächsten halben Stunde den
Mund fusslig über das Russland des 19. Jahrhunderts. Nach
einer Weile unterbricht mich Lenny: "Die Zeichnungen sind
schön, aber so dunkel. Man kann ja die Frau mit den Eimern
vor dem braunen Haus gar nicht richtig erkennen. Lies mir
lieber `Kaschtanka´
vor, der Maler hat schönere Bilder gemalt."
Nun bin ich versöhnt, denn jene Bilder sind vom selben Maler. |
Gisela Reller /
www.reller-rezensionen.de
|
Weitere Rezensionen zu "Titel der klassischen russischen
Kinderliteratur":
|
- Anthologie, Märchen-Samowar.
- Anton Čechov (Tschechow), Kaschtanka und andere
Kindergeschichten.
- Nikolaj Gogol, Die Nase, Kinderbuch.
- Antony Pogorelskij, Die kleine schwarze Henne.
- Leo Tolstoj, Philipok.
- Anton Tschechow (Čechov), Kaschtanka.
Am 30.08.2011 ins Netz gestellt. Letzte Bearbeitung
am 27.11.2019.
Das unterschiedliche Schreiben von Eigennamen ist den unterschiedlichen Schreibweisen der
Verlage geschuldet.
|
Ein elternloses Kücken gerät eher in den Kochtopf. |
Sprichwort der Russen |
|