Belletristik REZENSIONEN

Eine ungewöhnliche Männerfreundschaft

Russe; über einen Nanaier
Der Taigajäger Dersu Usala
Mit Fotografien von Wladimir Arsenjew
Aus dem Russischen von Gisela Churs
Unionsverlag, Zürich 2003, 319 S.

"Ihr Buch las ich mit großem Interesse. Abgesehen von seinem wissenschaftlichen Wert (...), war ich begeistert und hingerissen von seiner Darstellungskraft." Der das 1928 schrieb, hieß Maxim Gorki. Acht Jahrzehnte später bin auch ich von dem koloritreichen Buch Arsenjews hingerissen. Zwar begeisterte ich mich 1975 schon für die russisch-japanische Verfilmung von Akira Kurosava - ausgezeichnet mit dem Academy Award für den besten ausländischen Film -, aber Arsenjews Buch, schon 1967 in der DDR erschienen, kannte ich bisher nicht.

Der russische Geograf Wladimir Arsenjew (1872-1930), in St. Petersburg geboren, erhielt eine militärische Ausbildung an der dortigen Infanterie-Kadettenschule. Bald schon begeisterte er sich für den Fernen Osten, weshalb er sich nach Wladiwostok versetzen ließ; seinen Wohnsitz nahm er in Chabarowsk. Als Offizier der zaristischen Armee unternahm er zwischen 1902 und 1930 zwölf Expeditionen in das unerforschte Gebiet zwischen dem Fluss Ussuri und dem Stillen Ozean, dem Grenzgebiet zwischen Russland und China. Über den Fernen Osten Russlands verfasste er mehr als sechzig Werke.

Das Ussuri-Gebiet, einst Teil des Zarenreichs, war nach dem Russisch-Japanischen Krieg 1904/05 von Japan besetzt und wurde nach den Wirren des ersten Weltkriegs 1922 Teil der Sowjetunion. "Im Jahre 1902", schreibt Arsenjew, "führte mich ein Auftrag der Regierung in die Gegend des Flusses Zimuche, der in die Ussuri-Bucht mündet. Mein Jagdkommando bestand aus sechs sibirischen Schützen und vier Lastpferden." Eines Nachts stieß ein Jäger zu der kleinen Gruppe. "Ohne ihn erst zu fragen, wer er sei und woher er käme, bot ich ihm Essen an. So war es Brauch in der Taiga." Der laut Verlagstext "alte" Jäger entpuppt sich als der dreiundfünfzigjährige Dersu Usala vom Volk der Golden.

Als Dersu Usala im Buch das erste Mal als Golde bezeichnet wird, wäre eine Anmerkung angebracht gewesen; denn heute nennen sich die Golden (russisch), entsprechend ihrer Eigenbezeichnung, Nanaier. Dersu Usala erzählt Arsenjew, dass sein Vater und seine Mutter längst gestorben seien, und auch seine Frau, sein Sohn und seine Tochter tot sind: "Blattern haben alle Leute kaputtgemacht, bin jetzt allein übrig." Ganz selbstverständlich bleibt er bei Arsenjew und seinen Soldaten. Er ist ein ausgezeichneter Fährtenleser und Schütze. Oft hilft er Arsenjew aus brenzligen Situationen, rettet dem Expeditionsleiter sogar mehrmals das Leben. "Er geriet nie in Hast, alle Handgriffe waren überlegt und folgerichtig, nie gab es eine Verzögerung. Das Leben hatte ihn geschult, energisch zu sein, praktisch und keinen Augenblick nutzlos zu vergeuden." Für den "Ur"-Menschen Dersu Usala ist die Natur beseelt - alle Lebewesen, alle Pflanzen, alle Bäume. Mich erinnert dies an das Buch des Chanten Jeromej Aipin "Ich höre der Erde zu".

Vier Jahre später, Arsenjew erforschte auf einer zweiten Expedition das Sichote-Alin-Gebirge - trafen sich Dersu Usala und Wladimir Arsenjew wieder. "`Dersu! Dersu!´, rief ich erfreut und lief ihm entgegen. - Wäre in diesem Augenblick ein Zeuge hinzugekommen, hätte er gesehen, wie sich zwei Männer umklammerten, als wollten sie miteinander ringen. Mein Hund verstand zuerst nicht, was los war, und stürzte sich auf Dersu, erkannte ihn aber bald. Das zornige Gebell wurde zu einem zärtliche Winseln. - `Guten Abend, Hauptmann!´, sagte der Golde ergriffen. - `Wo kommst du her? Wie bist du hierher geraten? Wo warst du? Wohin gehst du?´ So überschütte ich ihn mit Fragen. (...) - Ich war froh, wie sollte ich mich auch nicht freuen: Dersu war wieder bei mir!" Wieder begleitet Dersu Usala die Forschungsgruppe.

Arsenjews Aufzeichnungen - über Flora und Fauna, das Wetter, die Bodenverhältnisse, die Lebensumstände der Einheimischen und deren Sprachen - sind spannend, abenteuerlich und talentiert erzählt, oft geradezu poetisch. Neben den Schilderungen entbehrungsreicher Fußmärsche bei tiefwinterlichen Temperaturen, von Schneestürmen, Waldbränden, sintflutartigen Regenfällen, gefährlichen Jagden, bedrohlichen Begegnungen mit Bären und Tigern, von der Gastfreundschaft der Einheimischen, gelingt ihm eine treffliche Charakterisierung des einheimischen Taigajägers Dersu Usala. Bereits damals, Anfang des 20. Jahrhunderts spricht Arsenjew vom Raubbau an den Gaben der Natur! Am meisten aber bewegten mich Arsenjews Gespräche mit Dersu Usala, dessen Lebensweisheit und Sichtweise. "Früher", sagt der Geograf und Offizier des Zaren, "hatte ich geglaubt, der Egoismus sei eine Grundeigenschaft der unzivilisierten Völker, während das Gefühl der Nächstenliebe und Rücksicht auf fremde Interessen nur den Europäern eigen sei." Dersu Usala ist der Beweis, dass sich Arsenjew irrte; denn immer sorgt Dersu, wenn eine Übernachtungshütte verlassen wird, dafür, dass für Menschen die nach ihnen kommen, etwas zum Essen und Holz zum Wärmen vorhanden ist. "Ich erinnere mich gut, wie tief mich das damals erschütterte", schreibt Arsenjew. "Der Golde sorgte sich um irgendeinen Unbekannten, den er nie gesehen und der auch nie erfahren würde, wer ihm Holz und Verpflegung zurechtgelegt hatte. Und mir fiel ein, wie dagegen unsere Schützen gedankenlos stets alles übrig gebliebene Brennholz ins Feuer warfen, wenn sie einen Lagerplatz verließen. Sie taten es nicht aus Bosheit, einfach nur aus Vergnügen, und ich hatte sie nie davon abgehalten. Dieser Einheimische - besaß er nicht in seiner Ursprünglichkeit viel mehr Mitgefühl als ich?" Aber nicht nur um die Menschen sorgte sich Dersu, sondern immer auch um die Tiere. Richtig zornig wird er, als Arsenjew gedankenlos ein Stückchen Fleisch in die Flammen wirft: "`Wieso wirfst du Fleisch ins Feuer?´, fragte er unwillig. `Wie kann man das nutzlos verbrennen! Wir gehen morgen fort, aber andere Leute kommen hierher und essen. Wenn das Fleisch im Feuer verbrennt, verkommt es unnütz.´ - `Wer soll denn ausgerechnet hierher kommen?´, fragte ich zurück. - `Wieso wer?´, wunderte sich Dersu. `Der Waschbär kommt, der Dachs oder die Krähe. Und wenn nicht die Krähe, dann die Maus, wenn nicht die Maus, dann die Ameise. In der Taiga leben viele verschiedene Leute." - (...) Er liebte die Taiga mit all ihren Bewohnern und sorgte in seiner Weise für sie.

Heute erinnern an Arsenjews Forschungen geografische Bezeichnungen wie Arsenjew-Vulkan auf den Kurilen-Inseln und Arsenjew-Gletscher auf Kamtschatka. Und an der Stelle, wo Arsenjew einst mit Dersu Usala zusammentraf, steht heute die fernöstliche Stadt Arsenjew.

Während der zweiten Expedition stellt Dersu Usala fest, dass sein Augenlicht nachlässt, er ist jetzt achtundfünfzig Jahre alt. "Mein Auge ist schlecht geworden, kann nicht mehr sehen", vertraut er Arsenjew an. "Schieße aufs Moschustier, treffe nicht, schieße auf Baum, treffe auch nicht. (...) Wie lebe ich jetzt weiter?" Arsenjew überredet Dersu, bei ihm in seinem Haus in Chabarowsk zu leben. Doch Dersu kommt in der Stadt nicht klar und bittet seinen Freund schon bald, ihn wieder in die Taiga ziehen zu lassen. Arsenjew stimmt schweren Herzens zu. Doch kurz danach wird Dersu Opfer eines Raubüberfalls und wird ermordet, Arsenjew eilt an sein Grab.

"Im Sommer 1908 ging ich auf meine dritte Forschungsreise, die sich fast über zwei Jahr ausdehnte, und kehrte erst im Winter 1910 wieder nach Chabarowsk zurück. Sofort fuhr ich zur Station Korfowskaja, um das Grab [von Dersu Usala] aufzusuchen. Ich erkannte nichts mehr wieder. (...) In der Nähe der Station war eine große Siedlung entstanden, im Chechzir-Gebirge wurden Steinbrüche erschlossen, der Wald wurde geschlagen, Sägewerke  fauchten und summten auf kahlen Lichtungen. Ich versuchte mehrere Male (...) das Grab Dersus zu finden, aber vergeblich. Die Zedern, die mir den Ort zeigen sollten, waren verschwunden. Neue Wegen entstanden, Aufschüttungen, Ausschachtungen, Erhebungen und Gräben. - `Lebe wohl, Dersu.´"

Dersu Usala bleibt unvergessen - wegen des Buches von Arsenjew und wegen der Verfilmung von Akira Kurosava. Als ich 1984 in Tuwinien weilte, begegnete ich im Theater von Kysyl [Tuwiniens Hauptstadt] Dersu Usala, richtiger gesagt, den tuwinischen Schauspieler Maxim Munsuk*, der im Film den Nanaier Dersu spielt.

Erstaunlich, dass der zaristische Offizier Arsenjew auch unter der Sowjetregierung seine Forschungen fortführen durfte und sogar Direktor des Naturkundemuseums von Chabarowsk und Wladiwostok wurde. Als Mitglied der Kommission für die Angelegenheiten kleiner Völkerschaften bemühte er sich für die Selbstbestimmung der ethnischen Völker im Amur- und Ussuri-Gebiet - für die Nanaier (früher Golden), die Udehen (früher Udechesen) und die Orotschen. 1930 zog sich Wladimir Arsenjew auf seiner letzten Forschungsreise eine schwere Lungenentzündung zu, an der er starb - wie Dersu Usala achtundfünfzigjährig. Der Haftbefehl gegen ihn war da bereits ausgestellt gewesen. Seine Frau wurde 1938 als "japanische Spionin" erschossen, Arsenjews umfangreiches Archiv geplündert. In den Vierziger Jahren erfolgte seine Rehabilitation, und seit der russischen Wiederveröffentlichung seines Berichts über die Expeditionen mit Dersu Usala 1949 ist er ein Klassiker geworden, heute würde man wohl Kultbuch sagen.


Gisela Reller / www.reller-rezensionen.de

   *  Aus: FREIE WELT Nr. 15/84, S. 51-53, von Gisela Reller, "Dersu Usala, der Tuwiner":

"Ich bin neugierig, wie man sich kleidet, wenn man in Kysyl ins Theater geht. An den Männern ist nichts Besonderes zu entdecken, sie haben alle ihren (oder einen) guten Anzug an. Da ist es schon anders bei den Frauen. (...)

Plötzlich, ich traue meinen Augen nicht, steht, auch im schwarzen Anzug unverkennbar, Dersu Usala auf der Bühne, der Taigajäger aus dem gleichnamigen japanisch-sowjetischen Film, der in Moskau den `Großen Preis´ und in Amerika den `Oscar´ errang.

Mein Blick gleitet immer wieder an dem kleinen, muskulösen Mann herunter, ist er´s oder ist er´s nicht? Er singt zusammen mit einer Frau (`seiner Frau´, flüstert mir meine Begleiterin Marina zu) alttuwinische Lieder. Sie müssen sehr lustig sein, denn das Publikum lacht ausgelassen. (...)

Und dann ein Blick von Maxim Munsuk ins Publikum, treuherzig würde ich ihn nennen, da weiß ich: Der etwa Siebzigjährige dort oben auf der Bühne   ist   der Held eines meiner unumstößlichen Lieblingsfilme!

Marina, die Feinsinnige, hat meine Unruhe längst bemerkt, sitzt schon auf dem Sprung. Ich bitte sie, Maxim Munsuk nach der Vorstellung für uns festzuhalten.

Als er uns dann gegenübersitzt, würde ich ihn, auch im Straßenanzug, eher für einen wieselflinken Taigajäger als für einen Schauspieler halten.

Maxim Munsuk wurde 1912 geboren. Munsuk, so erzählt er uns, war da sein einziger Name, so war es bei den Tuwinern üblich. Erst 1947 paßte man sich den in der Sowjetunion üblichen Gepflogenheiten an. Zur Regel wurde, den tuwinischen Namen zum Nachnamen zu wählen und einen Vornamen anzunehmen. Munsuk, gleich 1930 - da ist er bereits achtzehn Jahre alt - hatte er schreiben und lesen gelernt, entscheidet sich für den Vornamen Gorkis.

`Ich habe viele Entwicklungsetappen Tuwiniens selbst miterlebt. Als die Mandschuren die Oberherrschaft über uns hatten, war ich noch zu klein, aber daß wir russisches Protektorat waren, daran erinnere ich mich schon deshalb, weil ich von klein auf mit russischen Kindern Kontakt hatte. Die meisten Russen waren ihrem Herrn davongelaufen, besaßen nicht viel mehr als wir. Als Tuwa Volksrepublik wurde, da jubelte ich, weil meine Eltern jubelten.´

Ende der zwanziger Jahre erlebte Maxim Munsuk in Kysyl eine Aufführung von russischen Laienkünstlern. Da stand sein Beruf fest. `Von da an war ich im `Russischen Klub´ wie zu Hause.´ 1935 heiratete er Kara-kys [Schwarzes Mädchen], die bald von der Schauspielerei so begeistert war wie er. Anfang der dreißiger Jahre gründeten sie selbst ein Laienensemble. `Mein Wunsch, in Moskau zu studieren, sagt Maxim Munsuk, `erfüllte sich nicht, ich wurde wegen Mangel an Begabung abgelehnt. Nach 1944 kamen ausgebildete sowjetische Schauspieler nach Kysyl. Sie zeigten uns, `wie man´s macht´. Meine Frau und ich, wir gründeten dann ein Theater, das heutige Musikalisch-Dramatische Theater und studierten die Schauspielkunst bei aus Moskau und Leningrad gekommenen Fachleuten in der neugegründeten Schauspielschule in Kysyl.´

Die Munsuks haben fünf Kinder, drei Söhne und zwei Töchter, ´auf die wir sehr stolz sind. Einer wurde Flieger, einer Ingenieur, einer Bühnengestalter; eine Tochter Fernsehregisseurin, eine Schauspielerin.´

Während unserer kurzen Begegnung wechseln in Maxim Munsuks Gesicht blitzschnell Freude und Trauer, Kummer und Zufriedenheit... Man könnte glauben, Maxim Munsuk betrachte das Leben als Bühne und vergäße einfach nie das Schauspielern. Man kann aber auch dem japanischen Regisseur Akira Kurosawa Glauben schenken, der über Maxim Munsuk sagte: `Er hatte es schwer, der Bühnenschaupieler, so fast ohne Filmerfahrung, und er hatte es leicht zugleich, denn er brauchte nur sich selbst zu spielen." (...)

 

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Ins Netz gestellt am 06.03.2007. Letzte Bearbeitung am 19.11.2019.

Das unterschiedliche Schreiben von Eigennamen ist den unterschiedlichen Schreibweisen der Verlage geschuldet.

Wer klug denkt, der klug lenkt.
Sprichwort der Nanaier
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