"Ihr Buch las ich mit großem Interesse. Abgesehen von seinem
wissenschaftlichen Wert (...), war ich begeistert und hingerissen von
seiner Darstellungskraft." Der das 1928 schrieb, hieß
Maxim Gorki. Acht
Jahrzehnte später bin auch ich von dem koloritreichen Buch Arsenjews
hingerissen. Zwar begeisterte ich mich 1975 schon für die russisch-japanische
Verfilmung von Akira Kurosava - ausgezeichnet mit dem Academy Award für
den besten ausländischen Film -, aber Arsenjews Buch, schon 1967 in der DDR
erschienen, kannte ich bisher nicht.
Der russische Geograf Wladimir Arsenjew (1872-1930), in
St. Petersburg geboren,
erhielt eine militärische Ausbildung an der dortigen
Infanterie-Kadettenschule. Bald schon begeisterte er sich für den
Fernen Osten,
weshalb er sich nach
Wladiwostok versetzen ließ; seinen Wohnsitz
nahm er in Chabarowsk. Als Offizier der zaristischen Armee unternahm er
zwischen 1902 und 1930 zwölf Expeditionen in das unerforschte Gebiet zwischen dem Fluss Ussuri und dem Stillen
Ozean, dem Grenzgebiet zwischen Russland
und China. Über den Fernen Osten
Russlands verfasste er mehr als sechzig Werke.
Das Ussuri-Gebiet, einst Teil des
Zarenreichs,
war nach dem Russisch-Japanischen Krieg 1904/05 von Japan besetzt und wurde nach den
Wirren des ersten Weltkriegs 1922 Teil der
Sowjetunion. "Im Jahre 1902",
schreibt Arsenjew, "führte mich ein Auftrag der Regierung in die Gegend
des Flusses Zimuche, der in die Ussuri-Bucht mündet. Mein Jagdkommando bestand aus sechs
sibirischen Schützen und vier Lastpferden." Eines
Nachts stieß ein Jäger zu der kleinen Gruppe. "Ohne ihn erst zu fragen,
wer er sei und woher er käme, bot ich ihm Essen an. So war es Brauch in
der Taiga." Der laut Verlagstext "alte" Jäger entpuppt sich als der
dreiundfünfzigjährige Dersu Usala vom Volk der Golden.
Als Dersu Usala im Buch das erste Mal als Golde bezeichnet wird, wäre eine Anmerkung
angebracht gewesen; denn heute nennen sich die Golden (russisch),
entsprechend ihrer Eigenbezeichnung, Nanaier. Dersu Usala erzählt
Arsenjew, dass sein Vater und seine Mutter längst gestorben seien, und
auch seine Frau, sein Sohn und seine Tochter tot sind: "Blattern haben
alle Leute kaputtgemacht, bin jetzt allein übrig." Ganz
selbstverständlich bleibt er bei Arsenjew und seinen Soldaten. Er ist
ein ausgezeichneter Fährtenleser und Schütze. Oft hilft er Arsenjew aus
brenzligen Situationen, rettet dem Expeditionsleiter sogar mehrmals das
Leben. "Er geriet nie in Hast, alle Handgriffe waren überlegt und
folgerichtig, nie gab es eine Verzögerung. Das Leben hatte ihn geschult,
energisch zu sein, praktisch und keinen Augenblick nutzlos zu vergeuden."
Für den "Ur"-Menschen Dersu Usala ist die Natur beseelt - alle
Lebewesen, alle Pflanzen, alle Bäume. Mich erinnert dies an das Buch des Chanten Jeromej Aipin
"Ich höre der Erde zu".
Vier Jahre später, Arsenjew erforschte auf einer zweiten Expedition
das Sichote-Alin-Gebirge - trafen sich Dersu Usala und Wladimir Arsenjew
wieder. "`Dersu! Dersu!´, rief ich erfreut und lief ihm entgegen. - Wäre
in diesem Augenblick ein Zeuge hinzugekommen, hätte er gesehen, wie sich
zwei Männer umklammerten, als wollten sie miteinander ringen. Mein Hund
verstand zuerst nicht, was los war, und stürzte sich auf Dersu, erkannte
ihn aber bald. Das zornige Gebell wurde zu einem zärtliche Winseln. -
`Guten Abend, Hauptmann!´, sagte der Golde ergriffen. - `Wo kommst du
her? Wie bist du hierher geraten? Wo warst du? Wohin gehst du?´ So
überschütte ich ihn mit Fragen. (...) - Ich war froh, wie sollte ich
mich auch nicht freuen: Dersu war wieder bei mir!" Wieder begleitet
Dersu Usala die Forschungsgruppe.
Arsenjews Aufzeichnungen - über Flora und Fauna, das Wetter, die
Bodenverhältnisse, die Lebensumstände der Einheimischen und deren
Sprachen - sind spannend, abenteuerlich und talentiert erzählt, oft
geradezu poetisch. Neben den Schilderungen entbehrungsreicher Fußmärsche
bei tiefwinterlichen Temperaturen, von Schneestürmen, Waldbränden,
sintflutartigen Regenfällen, gefährlichen Jagden, bedrohlichen
Begegnungen mit Bären und Tigern, von der Gastfreundschaft der
Einheimischen, gelingt ihm eine treffliche Charakterisierung des
einheimischen Taigajägers Dersu Usala. Bereits damals, Anfang des 20. Jahrhunderts
spricht Arsenjew vom Raubbau an den Gaben der Natur! Am meisten aber
bewegten mich Arsenjews Gespräche mit Dersu Usala, dessen Lebensweisheit
und Sichtweise. "Früher", sagt der Geograf und Offizier des Zaren,
"hatte ich geglaubt, der Egoismus sei eine Grundeigenschaft der
unzivilisierten Völker, während das Gefühl der Nächstenliebe und
Rücksicht auf fremde Interessen nur den Europäern eigen sei." Dersu
Usala ist der Beweis, dass sich Arsenjew irrte; denn immer sorgt Dersu,
wenn eine Übernachtungshütte verlassen wird, dafür, dass für Menschen
die nach ihnen kommen, etwas zum Essen und Holz zum Wärmen vorhanden
ist. "Ich erinnere mich gut, wie tief mich das damals erschütterte",
schreibt Arsenjew. "Der Golde sorgte sich um irgendeinen Unbekannten,
den er nie gesehen und der auch nie erfahren würde, wer ihm Holz und
Verpflegung zurechtgelegt hatte. Und mir fiel ein, wie dagegen unsere
Schützen gedankenlos stets alles übrig gebliebene Brennholz ins Feuer
warfen, wenn sie einen Lagerplatz verließen. Sie taten es nicht aus
Bosheit, einfach nur aus Vergnügen, und ich hatte sie nie davon
abgehalten. Dieser Einheimische - besaß er nicht in seiner
Ursprünglichkeit viel mehr Mitgefühl als ich?" Aber nicht nur um die
Menschen sorgte sich Dersu, sondern immer auch um die Tiere. Richtig
zornig wird er, als Arsenjew gedankenlos ein Stückchen Fleisch in die
Flammen wirft: "`Wieso wirfst du Fleisch ins Feuer?´, fragte er
unwillig. `Wie kann man das nutzlos verbrennen! Wir gehen morgen fort,
aber andere Leute kommen hierher und essen. Wenn das Fleisch im Feuer
verbrennt, verkommt es unnütz.´ - `Wer soll denn ausgerechnet hierher
kommen?´, fragte ich zurück. - `Wieso wer?´, wunderte sich Dersu. `Der
Waschbär kommt, der Dachs oder die Krähe. Und wenn nicht die Krähe, dann
die Maus, wenn nicht die Maus, dann die Ameise. In der Taiga leben viele
verschiedene Leute." - (...) Er liebte die Taiga mit all ihren Bewohnern
und sorgte in seiner Weise für sie.
Heute erinnern an Arsenjews
Forschungen geografische Bezeichnungen wie Arsenjew-Vulkan auf den
Kurilen-Inseln und Arsenjew-Gletscher auf Kamtschatka. Und an der
Stelle, wo Arsenjew einst mit Dersu Usala zusammentraf, steht heute die fernöstliche Stadt Arsenjew.
Während der zweiten Expedition stellt
Dersu Usala fest, dass sein Augenlicht nachlässt, er ist jetzt
achtundfünfzig Jahre alt. "Mein Auge ist schlecht geworden, kann nicht
mehr sehen", vertraut er Arsenjew an. "Schieße aufs Moschustier, treffe
nicht, schieße auf Baum, treffe auch nicht. (...) Wie lebe ich jetzt
weiter?" Arsenjew überredet Dersu, bei ihm in seinem Haus in Chabarowsk
zu leben. Doch Dersu kommt in der Stadt nicht klar und bittet seinen
Freund schon bald, ihn wieder in die Taiga ziehen zu lassen. Arsenjew
stimmt schweren Herzens zu. Doch kurz danach wird Dersu Opfer eines
Raubüberfalls und wird ermordet, Arsenjew eilt an sein Grab.
"Im Sommer 1908 ging ich auf meine dritte Forschungsreise, die sich fast
über zwei Jahr ausdehnte, und kehrte erst im Winter 1910 wieder nach
Chabarowsk zurück. Sofort fuhr ich zur Station Korfowskaja, um das Grab
[von Dersu Usala] aufzusuchen. Ich erkannte nichts mehr wieder. (...) In der Nähe der
Station war eine große Siedlung entstanden, im Chechzir-Gebirge wurden
Steinbrüche erschlossen, der Wald wurde geschlagen, Sägewerke
fauchten und summten auf kahlen Lichtungen. Ich versuchte mehrere Male
(...) das Grab Dersus zu finden, aber vergeblich. Die Zedern, die mir
den Ort zeigen sollten, waren verschwunden. Neue Wegen entstanden,
Aufschüttungen, Ausschachtungen, Erhebungen und Gräben. - `Lebe wohl,
Dersu.´"
Dersu Usala bleibt unvergessen - wegen des Buches von
Arsenjew und wegen der Verfilmung von Akira Kurosava. Als ich 1984 in
Tuwinien weilte,
begegnete ich im Theater von Kysyl [Tuwiniens
Hauptstadt] Dersu Usala, richtiger gesagt, den tuwinischen
Schauspieler Maxim Munsuk*, der im Film den Nanaier Dersu spielt.
Erstaunlich, dass der zaristische Offizier Arsenjew auch
unter der Sowjetregierung seine Forschungen fortführen durfte und sogar
Direktor des Naturkundemuseums von Chabarowsk und Wladiwostok wurde. Als
Mitglied der Kommission für die Angelegenheiten kleiner Völkerschaften
bemühte er sich für die Selbstbestimmung der ethnischen Völker im Amur-
und Ussuri-Gebiet - für die Nanaier
(früher Golden), die Udehen
(früher Udechesen) und die Orotschen.
1930 zog sich Wladimir Arsenjew auf seiner letzten Forschungsreise eine
schwere Lungenentzündung zu, an der er starb - wie Dersu Usala
achtundfünfzigjährig. Der Haftbefehl gegen ihn war da bereits
ausgestellt gewesen. Seine Frau wurde 1938 als "japanische Spionin"
erschossen, Arsenjews umfangreiches Archiv geplündert. In den Vierziger
Jahren erfolgte seine Rehabilitation, und seit der russischen
Wiederveröffentlichung seines Berichts über die Expeditionen mit Dersu
Usala 1949 ist er ein Klassiker geworden, heute würde man wohl Kultbuch
sagen.
|
Gisela Reller /
www.reller-rezensionen.de
*
Aus: FREIE WELT Nr. 15/84, S.
51-53, von Gisela Reller, "Dersu Usala, der Tuwiner":
"Ich bin
neugierig, wie man sich kleidet, wenn man in Kysyl
ins Theater geht. An den Männern ist
nichts Besonderes zu entdecken, sie haben alle ihren (oder einen)
guten Anzug an. Da ist es schon anders bei den Frauen. (...)
Plötzlich, ich traue meinen Augen nicht,
steht, auch im schwarzen Anzug unverkennbar, Dersu Usala auf der Bühne,
der Taigajäger aus dem gleichnamigen japanisch-sowjetischen Film, der
in Moskau den `Großen Preis´ und in Amerika den `Oscar´ errang.
Mein Blick gleitet immer wieder an dem
kleinen, muskulösen Mann herunter, ist er´s oder ist er´s nicht? Er
singt zusammen mit einer Frau (`seiner Frau´, flüstert mir meine
Begleiterin Marina zu) alttuwinische Lieder. Sie müssen sehr lustig
sein, denn das Publikum lacht ausgelassen. (...)
Und dann ein Blick von Maxim Munsuk ins
Publikum, treuherzig würde ich ihn nennen, da weiß ich: Der etwa
Siebzigjährige dort oben auf der Bühne ist
der Held eines meiner unumstößlichen Lieblingsfilme!
Marina, die Feinsinnige, hat meine Unruhe
längst bemerkt, sitzt schon auf dem Sprung. Ich bitte sie, Maxim
Munsuk nach der Vorstellung für uns festzuhalten.
Als er uns dann gegenübersitzt, würde ich
ihn, auch im Straßenanzug, eher für einen wieselflinken Taigajäger als
für einen Schauspieler halten.
Maxim Munsuk wurde 1912 geboren. Munsuk,
so erzählt er uns, war da sein einziger Name, so war es bei den
Tuwinern üblich. Erst 1947 paßte man sich den in der Sowjetunion
üblichen Gepflogenheiten an. Zur Regel wurde, den tuwinischen Namen
zum Nachnamen zu wählen und einen Vornamen anzunehmen. Munsuk, gleich
1930 - da ist er bereits achtzehn Jahre alt - hatte er schreiben und
lesen gelernt, entscheidet sich für den Vornamen Gorkis.
`Ich habe viele Entwicklungsetappen
Tuwiniens selbst miterlebt. Als die Mandschuren die Oberherrschaft
über uns hatten, war ich noch zu klein, aber daß wir russisches
Protektorat waren, daran erinnere ich mich schon deshalb, weil ich von
klein auf mit russischen Kindern Kontakt hatte. Die meisten Russen
waren ihrem Herrn davongelaufen, besaßen nicht viel mehr als wir. Als
Tuwa Volksrepublik wurde, da jubelte ich, weil meine Eltern jubelten.´
Ende der zwanziger Jahre erlebte Maxim
Munsuk in Kysyl eine Aufführung von russischen Laienkünstlern. Da
stand sein Beruf fest. `Von da an war ich im `Russischen Klub´ wie zu
Hause.´ 1935 heiratete er Kara-kys [Schwarzes Mädchen], die bald von
der Schauspielerei so begeistert war wie er. Anfang der dreißiger
Jahre gründeten sie selbst ein Laienensemble. `Mein Wunsch, in Moskau
zu studieren, sagt Maxim Munsuk, `erfüllte sich nicht, ich wurde wegen
Mangel an Begabung abgelehnt. Nach 1944 kamen ausgebildete sowjetische
Schauspieler nach Kysyl. Sie zeigten uns, `wie man´s macht´. Meine
Frau und ich, wir gründeten dann ein Theater, das heutige
Musikalisch-Dramatische Theater und studierten die Schauspielkunst bei
aus Moskau und Leningrad gekommenen Fachleuten in der neugegründeten
Schauspielschule in Kysyl.´
Die Munsuks haben fünf Kinder, drei Söhne
und zwei Töchter, ´auf die wir sehr stolz sind. Einer wurde Flieger,
einer Ingenieur, einer Bühnengestalter; eine Tochter
Fernsehregisseurin, eine Schauspielerin.´
Während unserer kurzen Begegnung wechseln
in Maxim Munsuks Gesicht blitzschnell Freude und Trauer, Kummer und
Zufriedenheit... Man könnte glauben, Maxim Munsuk betrachte das Leben
als Bühne und vergäße einfach nie das Schauspielern. Man kann aber
auch dem japanischen Regisseur Akira Kurosawa Glauben schenken, der
über Maxim Munsuk sagte: `Er hatte es schwer, der Bühnenschaupieler,
so fast ohne Filmerfahrung, und er hatte es leicht zugleich, denn er
brauchte nur sich selbst zu spielen." (...)
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Ins Netz gestellt am 06.03.2007. Letzte Bearbeitung am
19.11.2019.
Das unterschiedliche Schreiben von Eigennamen ist den unterschiedlichen Schreibweisen der Verlage geschuldet.
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Wer klug denkt, der klug lenkt. |
Sprichwort der Nanaier |
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