REZENSIONEN |
Ein Buch, das lügt?
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Leo Tolstoj |
Russe |
Philipok |
Mit ganzseitigen farbigen
Illustrationen von Gennadij Spirin
Nacherzählt von Ann Keay Beneduce
Esslinger Verlag, Esslingen / Wien 2002, 3. Auflage,
32 S.
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Der Russe Leo Nikolajewitsch
Tolstoj (1828-1910) gilt weltweit als einer der größten
Dichter. Weniger bekannt dürfte sein, dass Graf Tolstoj auch
einige sehr schöne Geschichten für Kinder geschrieben hat,
darunter die Geschichte vom kleinen Philipok. Leo
[Lew] Tolstoj wurde auf
Jasnaja Poljana, dem Landgut seiner Familie geboren, das
etwa einhundert Kilometer südlich von Moskau liegt.. Seine
Mutter starb, als er drei Jahre alt war. Als sein Vater
starb, war er neun, er wurde von Verwandten aufgezogen.
An der Universität Kasan begann er 1844 das Studium
orientalischer Sprachen. Nach einem Wechsel zur
juristischen Fakultät brach er sein Studium 1847 ab, um zu
versuchen, die Lage der 350 geerbten Leibeigenen im Stammgut
der Familie mit Landreformen zu verbessern. 1850 gründete er
eine Schule für die Kinder seiner Landarbeiter. Ab 1851
erlebte er in de zaristischen Armee die Befreiungskämpfe im
Kaukasus und nach Ausbruch des Krimkrieges 1854 den
Stellungskrieg in der belagerten Festung Sewastopol. Die
Erzählungen über diesen Krieg machten Leo Tolstoi als
Schriftsteller bekannt. 1857 und 1860/61 bereiste er einige
westeuropäische Länder, auch Deutschland. Sein Interesse auf
diesen Reisen galt vorrangig pädagogischen Fragen. Nach
Rückkehr von seinen Reisen verstärkte Tolstoi seine
reformpädagogischen Bestrebungen und richtete Dorfschulen
nach dem Vorbild Rousseaus ein. Viele seiner
kleinen volkstümlichen Geschichten hat Tolstoj für ein
Lesebuch für seine Dorf- Schulkinder gesammelt. Als
ein Meisterstück dieser kleinen Prosa gilt Philipok.
Der kleine Philipok möchte schon wie sein älterer Bruder
Peter zur Schule
gehen. Seine Mutter aber meint, dass er
noch zu klein sei, und erlaubt es nicht.
So läuft Philipok eines Tages, als die
Großmutter eingenickt ist, heimlich
los. Welche Gefahren und Überraschungen
ihn auf dem Weg erwarten - denn
die Schule ist am anderen Ende des Dorfes - und wie der
Vierjährige schließlich in der Schule empfangen wird, davon
erzählt diese kleine Geschichte, die von Ann Keay Beneduce
für Kinder (welchen Alters?) nacherzählt wird. Ann Keay
Beneduce war Kinderbuchlektorin, hat selbst zahlreiche
Bücher für Kinder geschrieben und auch einige klassische
Kindergeschichten nacherzählt, darunter Texte von
Shakespeare und Swift, ebenfalls in Zusammenarbeit mit
Gennadij Spirin. Für Phlipok hat sie einen zum
Vorlesen gut geeigneten Erzählstil verwendet "und kommt
damit dem russischen Original von Tolstoj sehr nahe", so der
Verlag.
Die Zeichnungen stammen von Gennadi Spirin (wie bei den
Büchern "Das Märchen vom Zaren Saltan" von Alexander
Puschkin; "Kaschtanka" von Anton Tschechow; "Die Nase"
von Nikolaj Gogol; "Die kleine schwarze Henne" von Antony
Pogorelskij; "Märchensamowar" von Puschkin, Gogol und
Tshechow), einem Russen, der seit zwei Jahrzehnten mit
seiner Familie in Amerika lebt. Spirin wurde 1948 in einem
kleinen Dorf bei Moskau geboren. 1991 verließ er mit seiner
Frau Raissa und den beiden Söhnen Ilja und Gennadij seine
Heimat und ließ sich in Princeton, New Jersey, nieder, wo
der dritte Sohn Andrej geboren wurde. Spirin hat sich gerade
diese Geschichte von Tolstoj ausgesucht , weil Phlipok
zu seinen Lieblingsgeschichten gehört, die er noch aus
seiner eigenen Kindheit kennt. Für die Figur des Philipok
stand ihm Andrej, der gerade eingeschult wurde, Modell. Ich
habe immer wieder meine Freude an den vielen Details seiner
Zeichnungen: an den geflochtenen Bastschuhen, an der
Zopfschnecke der Mutter, an den russischen Spielzeugfiguren,
an dem blumigen Umschlagtuch der Großmutter, an der
Pelzschapka des Vaters, an dem Tragholz mit den zwei
Wassereimern, dem Kätzchen, den Hunden --- russisches
Bauernleben im 19. Jahrhundert.
Und unser Enkel Lenny? Was sagt er - der in diesem Jahr in
die Schule kommt - zum Text von Leo Tolstoj und zu den
Zeichnungen von Gennadij Spirin? Wir beide machen es uns auf der
Couch gemütlich und - Oma liest vor. Als ich bei der Stelle
angelangt bin, dass der Lehrer dem kleinen vierjährigen Philipok verspricht, mit der Mutter zu reden, damit er von
jetzt an mit seinem großen Bruder Peter in die Schule gehen
darf, sagt Lenny: "So einfach geht das aber nicht." -
"Warum nicht?", frage ich. - "Weil man mit vier Jahren noch
gar nicht in die Schule gehen darf, und weil man vom Arzt
untersucht werden muss! Das Buch lügt." - Mit Schokolade und
Apfelsaft in Reichweite rede ich mir in der nächsten halben
Stunde den Mund fusslig über das Russland des 19. Jahrhunderts.
Nach einer Weile unterbricht mich Lenny: "Ich finde die
Zeichnungen auch schön, aber zu dunkel. Man kann ja die Frau
mit den Eimern vor dem Haus gar nicht richtig erkennen. Lies mir lieber
`Kaschtanka´ vor, der Maler hat schönere
Bilder gemalt."
Nun bin ich versöhnt, denn
jene Bilder sind vom selben Maler. |
Gisela Reller /
www.reller-rezensionen.de
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Weitere Rezensionen zu "Titel der klassischen russischen Kinderliteratur":
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Weitere Rezensionen zur Person des russischen Zeichners "Gennadij Spirin":
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Anthologie, Märchen-Samowar, (Darin: Nikolaj Gogol, Der Jahrmarkt von
Sorotschinzy; Anton Tschechow, Kaschtanka;
Nikolaj Gogol, Die Nase;
Alexander Puschkin, Das Märchen vom Zaren Saltan.).
- Anton
Čechov (Tschechow), Kaschtanka und andere Kindergeschichten.
- Julie Andrews Edwards / Emma Walton Hamilton, Simeons Geschenk.
- Antony Pogorelskij, Die kleine schwarze Henne.
- Anton
Tschechow (Čechov), Kaschtanka.
- Sergej
Puschkin, Das Märchen vom Zaren Saltan.
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Am 30.08.2011 ins Netz gestellt. Letzte
Bearbeitung am 26.11.2019.
Das unterschiedliche Schreiben von Eigennamen ist den unterschiedlichen Schreibweisen der
Verlage geschuldet.
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Ein elternloses Kücken gerät eher in den Kochtopf. |
Sprichwort der Russen |
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