Reiseliteratur-Bildbände REZENSIONEN | |
Gelegen in der Mitte Europas | |
Marianna Butenschön | Über Litauen |
Litauen | |
Verlag C. H. Beck, München 2002, 199 S. | |
Claudia Sinnig | Über Litauen |
Litauen | |
Ein literarischer Reisebegleiter mit farbigen Abbildungen insel taschenbuch 2844 Insel Verlag, Frankfurt/Main und Leipzig 2002, 317 S. | |
Litauen liegt nicht am Rande, sondern - geographisch gesehen - genau in
der Mitte Europas. Obwohl Litauer und Deutsche 700 Jahre lang Nachbarn
an der Ostsee waren, wurde Litauen in der Alt-BRD nach 1945 das Land "ein Ende hinter
Deutschland" (Arno Surminski) so ziemlich vergessen. Für
DDR-Bürger dagegen waren die baltischen Länder - Estland, Lettland,
Litauen - gefragte Reiseländer und allein in der Zeit von 1954 bis 1987
erschienen in 15 DDR-Verlagen 69 Einzelausgaben litauischer Autoren.
Auch ich habe zu DDR-Zeiten (und 1991) Litauen - ein Land von großer,
aber unaufdringlicher Schönheit - bereist und viele der litauischen
Autoren gelesen. Das Buch von Marianna Butenschön hat mir leider erst
nachträglich die Augen für viele Besonderheiten Litauens geöffnet.
Litauen ist von Marianna Butenschön sehr persönlich geschrieben, mit unaufdringlicher Sympathie für Land und Leute. Es gefällt, wie sie über die vier ethnographischen Regionen Litauens schreibt - über die Aukštaitija, die Dzukija, die Suvalkija, die Žemaitija; sie scheut sich auch nicht, verallgemeinernd die Aukštaiten als offen und herzlich, als flink und temperamentvoll zu charakterisieren, die Dzuken als lustig und ein wenig redseling, die Suwalken als sparsam, wenn nicht geizig, als fleißig, ordnungsliebend und mit praktischem Verstand, die Žemaiten als in sich gekehrt, verschlossen, langsam. "Ein Žemaite wird nie im Leben etwas tun, wovon er nicht hundertprozentig überzeugt ist, und Neuerungen mag er überhaupt nicht." Über die Sturheit und den Starrsinn der Žemaiten werden jede Menge Anekdoten und viele Witze erzählt, zum Beispiel dieser: "Die Žemaiten haben den Chinesen den Krieg erklärt. China liegt weit weg, und deshalb bekommen sie lange keine Antwort. Sie warten. Das können sie besonders gut. Nach zwei Wochen überlegen sie, ob sie nicht etwas unternehmen sollten, und fragen einen Cheniesen, warum sie keine Antwort bekommen. Sagt der Chinese: `Wir wissen gar nicht, was für ein Land das ist, Žemaitija. Auf der Karte können wir es jedenfalls nicht finden..´ - `Wir leben an der Ostsee´, erklären ihm die Žemaiten und zeigen die Stelle auf der Karte. Fragt der Chinese: `Und wieviel seid ihr, da ihr uns schon den Krieg erklärt habt?´ - `Wir sind hundert Mann unter Waffen! Und wieviel seid ihr?´ - `Wir sind eine Million.´ - Da denken die Žemaiten lange nach: `Oh, das wird kompliziert. Wo sollen wir euch denn alle begraben?´" Kurz, knapp und dennoch sehr lesbar rekapituliert die Autorin die wechselvolle Geschichte des Landes, die Machtentfaltung im späten Mittelalter, die allmähliche Unterwerfung unter die polnische Oberhoheit, die schwierigen Zeiten unter russischer Herrschaft, die tödliche Zeit unter dem deutschen Faschismus, die Unabhängigkeit erst in der Zwischenkriegszeit, dann wieder seit 1991. Erstmals lese ich über die (itwaken), die litauischen Juden. "Seit dem Wilnaer Gaon (dem bedeutendsten Religionsphilosophen Elijahn ben Schlomo Salman Kremer - 1720 bis 1797), der die Assimilation ablehnte, gilt der Litvak als Verkörperung des Rationalismus und Realismus" - im Gegensatz zum mystischen Chassiden. Überrascht nimmt man zur Kenntnis, dass Marc Chagall Litvake ist, auch der Nobelpreisträger Czeslaw Milos, auch Dr. Ludwig (Lazar) Zamenhof, der Erfinder des Esperanto. (2005 findet in Vilnius der 90. Esperanto-Weltkongreß statt.) Im März 2002 fand eine Bibliothekarin im Staatlichen Historischen Archiv in Vilnius nach langem Suchen endlich den Nachweis, das Romain Gary, der legendäre französische Schriftsteller und zweifache Goncourt-Preisträger, tatsächlich am 8. Mai 1914 in Vilnius geboren wurde. Auch Gary war ein Litvak..." Voller Fakten und Überraschungen steckt auch das Kapitel über das "Litauische Jerusalem", das während der faschistischen Besatzung ausgelöscht wurde. Das vorliegende Buch ist die erste deutsche Gesamtdarstellung dieses baltischen Landes, seiner langen (komplizierten) Geschichte, seiner multinationalen Kultur und seiner nicht einfachen Gegenwart. Stehen bei Marianna Butenschön "Das Land/Das litauische Jerusalem/Geschichte/Kultur und Gesellschaft, Politik und Wirtschaft" im Mittelpunkt und die literarischen Beispiele an zweiter Stelle, so stellt Claudia Sinnigs, entsprechend ihrem Anliegen, die litauische Literatur in den Mittelpunkt und bringt ihren historischen Rückblick und die geographische Landschaft jeweils im Zusammenhang mit ihren vielen literarischen Beispielen. Die Abschnitte ihres Buches sind als Etappen einer Reise gedacht, die im wesentlichen dem Verlauf der Memel von Weißrußland im Süden in Richtung Nordwesten bis zur Ostsee folgt. Claudia Sinnig schreibt in ihrer Vorbemerkung: "Litauen ist (...) ein ziemlich unübersichtliches, um nicht zu sagen heikles Terrain (...). Dieses Buch ist der Versuch, unvollkommen in jeder erdenklichen Hinsicht, die Bäume und den Wald zu sehen." Dennoch ist dieses Buch bestens geeignet, sich die litauische Literatur zu erschließen, auch die der litauischen Exilanten, von denen wir trotz der zahlreichen Buchveröffentlichungen in der DDR leider gar nichts wussten... Beide Bände bergen viele Aha-Erlebnisse. Marianna Butenschöns Litauen zum Beispiel die Geschichte um das Annchen von Tharau von dem berühmten Dichter des Frühbarock Simon Dach (1605-1659), der aus Memel stammte. Bei dieser Autorin las ich unter der Überschrift "Waldbrüder" erstmals eine Erklärung dafür, warum - im Gegensatz zu den beiden anderen baltischen Ländern - die Litauer in ihrem Land bis zum Ende der sowjetischen Besatzung 80 % der Bevölkerung stellten. Marianna Butenschön schreibt: "Der militärische Widerstand der baltischen Völker gegen die sowjetische Besatzungsmacht ist im Westen ganz unbekannt (...) Heute ist erwiesen, daß die Résistance in Litauen am intensivsten war und am längsten gedauert hat. Etwa 100 000 Litauer haben in der Résistance gekämpft. (...) Den Kern der "Waldbrüder" bildeten Soldaten, die sich der Rekrutierung durch die Deutschen und die Russen entziehen konnten, und Bauern, die sich nicht kollektivieren lassen wollten. (...) Dagegen bot die Besatzungsmacht jene NKWD-Einheiten auf, die im Februar 1944 die Tschetschenen nach Mittelasien deportiert hatten und sich nun auch massenhaft in der litauischen Zivilbevölkerung vergriffen. (...) Der Widerstand erreicht seinen Höhepunkt, als gegen Ende der 40er Jahre vor allem Bauernfamilien deportiert wurden. (...) Einzelne Gruppen blieben bis in die Mitte der 60er Jahre in den Wäldern. Stärke und Dauer der Résistance sind einer der Gründe dafür, daß die Zuwanderung von Russen nach Litauen beschränkt blieb und die Litauer bis zum Ende der sowjetischen Besatzung 80 % der Bevölkerung stellten." In Claudia Sinnigs Litauen war für mich ein solches Aha-Erlebnis, dass der Nobelpreisträger Czeslaw Milos, von dem ich bisher immer glaubte, dass er Pole sei, eigentlich Litauer (Litvak) ist. Claudia Sinnig: "Von Czesław Miłosz, dem in Litauen aufgewachsenen, polnisch schreibenden Literaturnobelpreisträger, heißt es hin und wieder irrtümlich, er stamme aus dem litauisch-polnischen Grenzgebiet. Tatsächlich aber liegt der Sitz seiner Familie mitten in Litauen, in einer der kleinen polnischsprachigen Enklaven, die im Laufe der litauisch-polnischen Union entstanden waren. Ihre Einwohnerschaft war ganz oder teilweise litauischer Abstammung, sprach aber seit Generationen polnisch." Ist der Text im Buch von Marianna Butenschön - geboren 1943, Dr. phil., Journalistin, seit vielen Jahren ausgewiesene Kennerin des Baltikums - außerordentlich leserfreundlich durch Kästen und Zwischentexte gestaltet, so fließen bei Claudia Sinnig - geboren 1965, studierte Anglistik, Russistik und Lituanistik in Leipzig und Vilnius, lebt seit 1998 in Moskau und Berlin - der literarische Text und ihr jeweiliger Kommentar bruchlos und schwer unterscheidbar ineinander. Als einen ausgesprochenen Mangel sehe ich bei Claudia Sinnigs literarischem Reisebegleiter an, dass sie ihm kein Personenverzeichnis beigegeben hat, und man Leseproben, die man noch einmal nachlesen möchte, nur nach geduldigem Suchen wieder finden kann. Es ist auch geradezu unmöglich, über einen Schriftsteller, der auf diversen Seiten in verschiedenen Kapiteln zitiert wird, noch einmal im Zusammenhang nachzulesen. Zugegeben, ein solches Personenverzeichnis wäre bei den zahlreichen Zitaten eine ziemlich große Arbeit gewesen, hätte sich aber für den Leser mehr als gelohnt. Viel Mühe haben sich beide Autorinnen auch mit dem jeweiligen Anhang gegeben! So finden wir bei Marianna Butenschön: Litauen auf einem Blick/eine Zeittafel/die Aussprache litauischer Laute mit Sonderzeichen, zahlreiche interessante Literaturhinweise (auch zu den deutsch-litauischen Beziehungen)/Litauen im Internet/deutsch-litauische Adressen/Kontaktadressen in Deutschland und Litauen. Claudia Sinnig beschreibt in ihrem Anhang an die vierzig Sehenswürdigkeiten (u. a. den Nationalpark Dzukija, das Teufelsmuseum von Kaunas, die Kathedrale von Vilnius, das KGB-Museum, das Litauische Nationalmuseum, das Holocaust-Museum, das Museum für Deportierte und politische Gefangene, das Kloster Pažaislis...). Es empfehlt sich sehr, diese beiden Grundlagenbücher zu lesen, bevor man sich an das Lesen von litauischen Erzählungen, Romanen, Gedichten... macht; denn man wird die litauische Literatur besser verstehen, wenn man die oft tragische, wechselvolle Geschichte Litauens kennt. | |
Gisela Reller / www.reller-rezensionen.de | |
Am 30.04.2003 ins Netz gestellt. Letzte Bearbeitung am 28.11.2019. Das unterschiedliche Schreiben von Eigennamen ist den unterschiedlichen Schreibweisen der Verlage geschuldet. | |
Wenn nicht Pilze, wenn nicht Beeren, nackt die Dzukenmädchen
(an der Memel) wären. | |
Sprichwort der Litauer |
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