Vorab!

Leider kommt im Internet bei meinem (inzwischen veralteten) FrontPage-Programm  längst nicht alles so, wie von mir in html angegeben. Farben kommen anders, als von mir geplant, Satzbreiten wollen nicht so wie von mir markiert, Bilder kommen manchmal an der falschen  Stelle, und - wenn  ich  Pech  habe  -  erscheint  statt  des  Bildes  gar  eine  Leerstelle.

Was tun? Wer kann helfen?

 

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Wird laufend bearbeitet!

 

 

Wir sind ADYGEJER: Mitglieder eines adygejischen Tanzensembles. 

 

 

Foto aus: Rellers Völkerschafts-Archiv

 

Zeichnung: Karl-Heinz Döhring

 

"Die Seele, denke ich, hat keine Nationalität."

Juri Rytchëu (tschuktschischer Schriftsteller, 1930 bis 2008) in: Im Spiegel des Vergessens, 2007

 

Wenn wir für das eine Volk eine Zuneigung oder gegen das andere eine Abneigung hegen, so beruht das, ob wir uns dessen bewusst sind oder nicht, auf dem, was wir von dem jeweiligen Volk wissen oder zu wissen glauben. Das ist – seien wir ehrlich – oft sehr wenig, und manchmal ist dieses Wenige auch noch falsch.

Ich habe für die Berliner Illustrierte FREIE WELT als Reporterin wissenschaftlicher Themen jahrelang die Sowjetunion bereist, um – am liebsten über abwegige Themen zu berichten: über Hypnopädie und Suggestopädie, über Geschlechtsumwandlung und Seelenspionage, über Akzeleration und geschlechtsspezifische Erziehung... Außerdem habe ich mit jeweils einem deutschen und einem Wissenschaftler aus dem weiten Sowjetland vielteilige Lehrgänge erarbeitet.* Ein sehr interessantes Arbeitsgebiet! Doch 1973, am letzten Abend einer Sibirienreise – ich hatte zahlreiche Termine in Akademgorodok, der russischen Stadt der Wissenschaften –, machte ich einen Abendspaziergang entlang des Ob. Und plötzlich wurde mir klar, dass ich zwar wieder viele Kapazitäten kennengelernt hatte, aber mit der einheimischen Bevölkerung kaum in Kontakt gekommen war.

Und da war in einem magischen Moment an einem großen sibirischen Fluss Angesicht in Angesicht mit einem kleinen (grauen!) Eichhörnchen  –   die große FREIE WELT-Völkerschaftsserie** geboren!

Und nun reiste ich ab 1975 jahrzehntelang zu zahlreichen Völkern des Kaukasus, war bei vielen Völkern Sibiriens, war in Mittelasien, im hohen Norden, im Fernen Osten und immer wieder auch bei den Russen.

Nach dem Zerfall der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken zog es mich – nach der wendegeschuldeten Einstellung der FREIEN WELT***, nun als Freie Reisejournalistin – weiterhin in die mir vertrauten Gefilde, bis ich eines Tages mehr über die westlichen Länder und Völker wissen wollte, die man mir als DDR-Bürgerin vorenthalten hatte.

Nach mehr als zwei Jahrzehnten ist nun mein Nachholebedarf erst einmal gedeckt, und ich habe das Bedürfnis, mich wieder meinen heißgeliebten Tschuktschen, Adygejern, Niwchen, Kalmyken und Kumyken, Ewenen und Ewenken, Enzen und Nenzen... zuzuwenden.

Deshalb werde ich meiner Webseite www.reller-rezensionen.de (mit inzwischen etwa fünfhundert Rezensionen), die seit 2002 im Netz ist, ab 2013 meinen journalistischen Völkerschafts-Fundus von fast einhundert Völkern an die Seite stellen – mit ausführlichen geographischen und ethnographischen Texten, mit Reportagen, Interviews, Sprichwörtern, Aphorismen, Rätseln, Legenden, Märchen, Gedichten, Literaturhinweisen, Zitaten aus längst gelesenen und neu erschienenen Büchern; ethnographischen Zeichnungen, Ornamenten, Fotos…  So manches davon, teils erstmals ins Deutsche übersetzt, war bis jetzt – ebenfalls wendegeschuldet – unveröffentlicht geblieben.

Sollten sich in meinem Material Fehler oder Ungenauigkeiten eingeschlichen haben,  teilen  Sie  mir  diese  bitte  am liebsten in meinem Gästebuch oder per E-Mail gisela@reller-rezensionen.de mit. Überhaupt würde ich mich über eine Resonanz meiner Nutzer freuen!

Gisela Reller

 

     * "Lernen Sie Rationelles Lesen" / "Lernen Sie lernen" / "Lernen Sie reden" / "Lernen Sie essen" / "Lernen Sie, nicht zu rauchen" / "Lernen Sie schlafen" / "Lernen Sie logisches Denken"...

 

  ** Im 1999 erschienenen Buch „Zwischen `Mosaik´ und `Einheit´. Zeitschriften in der DDR“ von Simone Barck, Martina Langermann, Siegfried Lokatis (Hrsg.), erschienen im Berliner Ch. Links Verlag, ist eine Tabelle veröffentlicht, aus der hervorgeht, dass die Völkerschaftsserie der FREIEN WELT von neun vorgegebenen Themenkreisen an zweiter Stelle in der Gunst der Leser stand – nach „Gespräche mit Experten zu aktuellen Themen“.

(Quelle: ZA Universität Köln, Studie 6318)

 

*** Christa Wolf zur Einstellung der Illustrierten FREIE WELT in ihrem Buch "Auf dem Weg nach Tabou, Texte 1990-1994", Seite 53/54: „Aber auf keinen Fall möchte ich den Eindruck erwecken, in dieser Halbstadt werde nicht mehr gelacht. Im Gegenteil! Erzählt mir doch neulich ein Kollege aus meinem Verlag (Helmut Reller) – der natürlich wie zwei Drittel der Belegschaft längst entlassen ist –, daß nun auch seine Frau (Gisela Reller), langjährige Redakteurin einer Illustrierten (FREIE WELT) mitsamt der ganzen Redaktion gerade gekündigt sei: Die Zeitschrift werde eingestellt. Warum wir da so lachen mußten? Als im Jahr vor der `Wende´ die zuständige ZK-Abteilung sich dieser Zeitschrift entledigen wollte, weil sie, auf Berichterstattung aus der Sowjetunion spezialisiert, sich als zu anfällig erwiesen hatte, gegenüber Gorbatschows Perestroika, da hatten der Widerstand der Redaktion und die Solidarität vieler anderer Journalisten das Blatt retten können. Nun aber, da die `Presselandschaft´ der ehemaligen DDR, der `fünf neuen Bundesländer´, oder, wie der Bundesfinanzminister realitätsgerecht sagt: `des Beitrittsgebiets´, unter die vier großen westdeutschen Zeitungskonzerne aufgeteilt ist, weht ein schärferer Wind. Da wird kalkuliert und, wenn nötig, emotionslos amputiert. Wie auch die Lyrik meines Verlages (Aufbau-Verlag), auf die er sich bisher viel zugute hielt: Sie rechnet sich nicht und mußte aus dem Verlagsprogramm gestrichen werden. Mann, sage ich. Das hätte sich aber die Zensur früher nicht erlauben dürfen! – "Das hätten wir uns von der auch nicht gefallen lassen", sagt eine Verlagsmitarbeiterin.

Wo sie recht hat, hat sie recht.“

 

 

Zeichnung: Karl-Heinz Döhring

 

"Adygeja ist für Touristen wie geschaffen! Das herrliche Vorgebirge des Kaukasus, das traumschöne Hochplateau Lago-Naki, eine Vielzahl von Karsthöhlen, schneebedeckte Berggipfel, üppige Almen, weite Steppen, uralte Wälder, Bergbäche mit Wasserfällen, stille Seen – das alles kann ein Reisender in Adygeja bewundern. Eine glückliche Verbindung der einmaligen Landschaften, des Klimas, der Mineralquellen, der Tier- und Pflanzenwelt, der exotischen Naturschutzgebiete und Reservate schafft beispiellose Bedingungen für aktive Erholung und Kur. Adygeja verfügt über ein solides Netz von Sanatorien und Erholungsheimen..."

Anna Akopova in: Stimme Russlands vom 21. April 2009

 

Wenn Sie sich die folgenden Texte zu Gemüte geführt und Lust bekommen haben, die Republik Adygeja zu bereisen und auch die ADYGEJER  kennenzulernen, sei Ihnen das Reisebüro ? empfohlen; denn – so lautet ein adygejisches Sprichwort -

 

 

Ein Reiseführer ist in der Fremde mehr wert als ein Schwert.

 

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Die ADYGEJER [ADYGEN] (Eigenbezeichnung: adyge - wie auch bei den nahe verwandten Tscherkessen und Kabardinern = Menschen der Lichtung)

 

Hier fehlt: Zitatat zu den Adygen

 

 

Einst war die Bezeichnung "tscherkess" zusammenfassender Terminus für die Bestimmung zahlreicher adygejischer ethnischer Gruppen. Die Selbstbezeichnung der Adygejer, Kabardiner und Tscherkessen ist auch heute noch einheitlich "adyge". Die heutigen Adygejer - einst auch als westliche Tscherkesssen bezeichnet oder als "Tscherkessen von jenseits des Kuban" - leben in der seit 1991 autonomen Republik Adygeja, zur Russischen Föderation gehörig.

 

"

 

Es gibt zwölf tscherkessische Stämme, zu denen auch die Adygejer gehören.

 

Die zwölf tscherkessischeN Stämme:

 

  1. die Abadzechen oder Azachen

       2. die Beslenejer

      3. die Bjedughen

     4. die Hatkuajer

       5. die Kabardiner

        6. die Makhoscher

       7. die Mamkeyher

      8. die Natkhuajer

       9. die Schapsugen (Adygejer ?)

10. die Temirgojer oder Chemgujer

11. die Ubychen

         12. die Yecerikahuajer

 

Sechs dieser Stämme (die Hatkuajer, Makhoscher, Mamkeyher, Natkhuajer, Ubychen und Yecerikhuajer) sind mehrheitlich in die Diaspora gegangen; die wenigen Zurückgebliebenen schlossen sich anderen Stämmen an; die Ubychen gelten heute als ausgestorben. Die anderen sechs Stämme leben noch heute im Kaukasus: die Kabardiner in der Republik der Kabardiner und Balkaren, die Adygejer in der Republik Adygeja, die Tscherkessen in der Republik der Karatschaier und Tscherkessen. Das Exekutivkomitee der "Internationalen Tscherkessischen Assoziation" empfahl im Jahr 2011 allen Adygejern, sich im Russischen und auch in anderen Sprachen Tscherkessen zu nennen. Wohl, um im Ausland die Begriffsverwirrung zu beseitigen. - Die Republik Adygeja [Adygien] befindet sich im nordwestlichen Kaukasus und in der kaukasischen Vorgebirgszone, linksufrig der Flüsse Kuban und Laba.  Die Entfernung bis Moskau beträgt 1 670 Kilometer.

Der Kaukasus ist ein junges Faltengebirge. Wie eine Riesenwand erstreckt es sich von Nordwest nach Südost - 100 Kilometer breit, 1 200 Kilometer lang, 5 000 Meter hoch. Übrigens wächst der Kaukasus noch immer - in jedem Jahr um 16 Millimeter.

Bevölkerung: Nach  der  Volkszählung von  1926  zählten die  Adygejer 64 959  Angehörige; 1939  wurden 85 588 Adygejer gezählt; 1959  waren es 78 561 Adygejer; 1970 gleich 98 461; 1979 gleich 107 239; 1989 gleich  122 908; 2002  gleich 128 528;  nach der letzten Volkszählung von 2010 gaben sich 124 835 Personen als Adygejer aus. Die Adygejer gehören zu den autochthonen Völkern des Kaukasus, sie sind eine der ältesten Völkerschaften des nördlichen Kaukasus und die einzigen, die sich in der flachen Ebene am Kuban-Ufer ansiedelten. -  Der Nordwestkaukasus, wo die Republik Adygeja liegt, wurde bereits in uralter Zeit -  vor etwa fünfhunderttausend Jahren, von Menschen besiedelt, wovon archäologische Funde in den Bergen der Republik zeugen. Im Bezirk Maikop befindet sich die paläolithische Siedlung Abadsech; sowohl im Gebirge als auch in den Tälern gibt es viele archäologische Denkmale der Bronze- und Eisenzeit. - Seit sieben Jahrhunderten existieren Aussagen europäischer Reisender, die von der Anmut der adygeischen Landschaft schwärmen und von der Schönheit ihrer Bewohner. Sie rühmen zugleich deren Tapferkeit und Gerechtigkeit, ihren Stolz und ihre Güte. - In  Adygeja leben über achtzig Nationalitäten. Etwa 64 Prozent der heute in Adygeja Beheimateten sind ethnische Russen (Seit der Volkszählung von 1939 sind die Russen in Adygeja jeweils als die anteilsmäßig bedeutendste Volksgruppe ausgewiesen, die allerdings seit 1989 im Abnehmen begriffen ist.), 20 Prozent Adygen, 5 Prozent Armenier, 2,5 Prozent Ukrainer; nicht einmal  ein Prozent machen Tscherkessen, Kurden, Tataren, Roma... aus. Auf Grund der Unruhen und kriegerischen Auseinandersetzungen in den benachbarten kaukasischen Regionen hat die Bevölkerungszahl in Adygeja in den letzten zwei Jahrzehnten durch Flüchtlinge und Umsiedler stark zugenommen.

 

Fläche: Mit einer Fläche von 7 600 Quadratkilometern ist Adygien so klein, dass ein Vogel dieses Gebiet in einer Stunde überfliegen, ein Rennpferd es in fünf Stunden und ein Mensch es an einem Tag durchqueren kann.

 

Geschichtliches: Auch die Vorfahren der Adygen erlebten die stürmischen Ereignisse der Großen Völkerwanderung (vom 5. bis 9. Jahrhundert). Die Menschen im Kuban-Gebiet blieben auch nicht von der Goldenen Horde verschont und von den Einfällen des mittelasiatischen Emirs Timur, dem sie erbitterten Widerstand leisteten. Die Kunde von ihrer Kühnheit verbreitete sich weit in der so genannten „aufgeklärten Welt“ über die italienischen (genuesischen) Kolonien und die Handelszentren an der Schwarzmeerküste.

Timur (eigentlich Temür = Eisen) ibn Taraghai Barlas, in der abendländischen Geschichtsschreibung besser bekannt als Tamerlan bzw. Timur Lenk (1336 bis 1405) – von persisch Timur-i Lang „Timur der Lahme“ war ein zentralasiatischer Eroberer islamischen Glaubens im 14. Jahrhunderts. Timur Lenk strebte die Wiederherstellung des Mongolischen Reiches an. Seine Herrschaft war gezeichnet durch Brutalität und Tyrannei. Gleichzeitig ist er als großzügiger Kunst- und Literaturförderer bekannt.

Im 16. Jahrhundert gerieten die Einwohner Adygejas unter die Herrschaft des Osmanischen Reiches und wurden durch die Krimtataren islamisiert. Sie wehrten sich gegen die Einfälle der Reiterei von der Krim und gegen die Grausamkeit der türkischen Janitscharen. Mitte des 16. Jahrhunderts wandten sich die „Tscherkessen von jenseits des Kuban“, wie die Adygen auch genannt wurden, dem russischen zentralisierten Staat zu, und im Jahr 1557 wurden sie russische Untertanen. Allerdings kam die Hilfe von Russland, das im 17. Jahrhundert nicht seine besten Zeiten erlebte, nicht regelmäßig. Die adygejischen Stämme mussten sich bei der Behauptung ihrer Unabhängigkeit vor allem auf ihre eigenen Kräfte und ihre Hartnäckigkeit verlassen. - Ende des 18. Jahrhunderts siedelten sich hier Russen und Ukrainer an – die Kosaken. Die Zarenregierung ging im Zuge der Bewältigung ihrer geopolitischen Aufgaben zu einer gewaltsamen und vollständigen Niederwerfung und „Bändigung“ der Bewohner der Gebiete jenseits des Kuban über. Die kaukasischen Aule und die Stanizas, wie die ukrainischen Dörfer und Siedlungen hießen, gingen in Flammen auf, Kanonendonner und Pulverstaub erfüllte die Luft.

"Sie  gehören zu den Siegern der kaukasischen Geschichte: die Kuban-Kosaken. Sie leben heute vorwiegend in dem Gebiet, das vor 150/200 Jahren noch Tscherkessien hieß und weitgehend von Tscherkessen besiedelt war. Insbesondere die Region Krasnodar im Süden Russlands gilt inzwischen, die Geschichte ignorierend, als die Urheimat der Kosaken des südlichen Russland. - In der Satzung beispielsweise, die sich die Region Krasnodar gegeben hat, ist von den ursprünglichen Bewohnern, den Tscherkessen, keine Rede mehr. Die Geschichte der Eroberung eines fremden Landes wird erfolgreich verdrängt. So wird in dem von kosakisch-russisch dominierten Regionalparlament verabschiedeten Dokument behauptet: `Die Region Krasnodar ist das historische Territorium der Herausbildung des Kuban-Kosakentums, der angestammte Lebensraum des russischen Volkes, das die Mehrheit der Bevölkerung der Region darstellt.´- Das historische Territorium der Herausbildung des Kuban-kosakentums? Nun ja, es ist das Gebiet, das die Kosaken auf Befehl der Zarin in Besitz nahmen. Der angestammte Lebensraum des russischen Volkes? Eindeutig nein. Hier lebten die Tscherkessen schon Jahrhunderte lang, bevor Russen sich für diese Gegend zu interessieren begannen. Und dass Russen heute die Mehrheit der Bevölkerung bilden, liegt schlicht daran, dass die Ureinwohner im Kriege entweder umgebracht oder in einer der größten ethnischen ´Säuberung´ der Neuzeit in Europa einfach vertrieben wurden."

Manfred Quiring in: Der vergessene Völkermord. Sotschi und die Tragödie der Tscherkessen, 2013

Der 1864 beendeten Eroberung des Nord-Kaukasus durch Russland folgte die Vertreibung und Emigration von rund 90 Prozent der kaukasischen Tscherkessen (Es bildete sich eine bedeutenden Diaspora vor allem in der Türkei, in Syrien und in Jordanien) und die Einwanderung vieler landloser Bauern aus Russland.

"Für die Tscherkessen in aller Welt ist der 21. Mai ein Tag der traurigen Erinnerung an die Vertreibung im Jahre 1864. Es ist ein Tag, der an all das Leid erinnert, das nach der Niederlage gegen die Russen in der kaukasischen Urheimat begann. Aber er erinnert sie auch daran, dass es ihnen bis zum heutigen Tag gelungen ist, die Erinnerung an ihre Kultur und Geschichte zu bewahren."

Cem Özdemir, Bundesvorsitzender der Partei Bündnis 90/Die Grünen, 2013

Der Anschluss an Russland besaß für die in ihrer Heimat gebliebenen Adygejer/Tscherkessen jedoch auch eine positive Bedeutung: Es wurde der ständigen Bedrohung von außen und den Stammesfehden sowie dem System des Sklavenhandels ein Ende bereitet. - Nach der Revolution von 1917 beschritten die Adygejer erstmals in ihrer Geschichte den Weg zu einer eigenen Staatlichkeit. Im Mai 1918 errichteten die Bolschewiki im Nordwest-Kaukasus die Kuban- und Schwarzmeer-Sowjetrepublik. 1922 entstand das „Adygeisch-Tscherkessische Autonome Gebiet“. Ab 1928 hieß es nur noch Adygeisches Autonomes Gebiet. Nach Krasnodar wurde 1936 Maikop Gebietshauptstadt. - Während des zweiten Weltkriegs war das Territorium der Adygejer von August 1942 bis Februar 1943 von deutschen Truppen besetzt.

Staatsgefüge:  Unter den im Nordkaukasus nach der revolution von 1917 entstandenen nationalen autonomen Gebieten war das Adygeische Autonome Gebeit das dritte nach der Dagestanischen und der Kabardino-Balkarischen Autonomen Sozialistischen Sowjetrepublik (ASSR). - Das einst Adygeische Autonome Gebiet (Adygien) ist seit 1991 eine autonome Republik, die Republik Adygeja. - Die Flagge der Republik Adygeja wurde am 24. März 1994 eingeführt. Sie besteht aus einem grünen Grundtuch mit zwölf goldenen Sternen und drei gekreuzten goldenen Pfeilen darauf, deren Spitzen nach oben gerichtet sind. Die zwölf Sterne stehen für die zwölf tscherkessischen Stämme und die drei Pfeile für die drei ältesten adygeischen Fürstenfamilien. Die Flagge ist in den 1830er Jahren während des Kaukasuskrieges als Symbol eines unabhängigen Tscherkessiens entstanden. Während des zweiten Weltkrieges wurde sie von der Nordkaukasischen Liga benutzt, die --- die nazideutschen Besatzer unterstützte. - Das Wappen der Republik Adygeja wurde ebenfalls am 24. März 1994 eingeführt. Es stellt einen Kreis dar, der oben ein Band mit der Überschrift „Republik Adygeja“ auf Russisch und Adygejisch trägt. Unten sieht man Eichen- und Ahornblätter, Weizenähren und Maiskolben. Den Kreis schließt die Abkürzung „RF“ (Russische Föderation) mit dem adygejischen Tisch „ane“, darauf Brot und Salz. Inmitten des Wappens ist der Hauptheld des Narten-Epos Sausrykjo hoch zu Ross abgebildet. In der Hand hält der Reiter eine brennende Fackel, die der Recke den Göttern geraubt hat, um sie den Menschen zu geben. Jeder der zwölf Strahlen der Morgensonne endet mit einem kleinen Stern, die zwölf tscherkessischen Stämme symbolisierend. Die dargestellten Berge und Äcker deuten auf die landschaftlichen Besonderheiten der adygejischen Republik hin.

  

 

Das ist die Flagge der Adygejer und der Tscherkessen; die zwölf Sterne symbolisieren die zwölf tscherkessischen Stämme. - Das adygeische Wappen gehört der Republik Adygeja allein.

Foto aus: Rellers Völkerschafts-Archiv

 

Verbannungsgebiet: Ob Menschen nach Adygeja verbannt wurden, ist mir nicht bekannt. Darüber, dass Adygejer verbannt wurden, berichtet u. a. die Menschenrechtsorganisation Memorial.

„Der erste Verbannungsstrom aus dem Nord-Kaukasus datiert aus dem Jahre 1933. Verbannungsströme aus der Zeit davor sind uns nicht bekannt. Uns liegen Angaben darüber vor, dass Anfang der dreißiger Jahre einige hundert Tscherkessen nach Igarka vertrieben wurden. Die zweite Verbannungswelle aus dieser Region rollte 1935. Diese Deportationen berührten ebenfalls die Urbevölkerung des Nord-Kaukasus und  deutsche Kolonisten. Im April 1933 wurde ein Transportzug (möglicherweise nicht nur einer) mit verbannten Bauern aus dem Süden des heutigen Gebietes Stawropol verschleppt, und auf Lastkähnen in den Norden gebracht. Ein Teil von ihnen wurde in die Taiga verschleppt.  Der Verbannungsstrom des Jahres 1935 kam nach den uns vorliegenden Angaben im wesentlichen aus dem Kuban-Gebiet und betraf dort das Autonome Gebiet Adygeja. Ein Teil der Verbannten gelangte in die Holzfabrik Nr. 3 und ins Holzverarbeitungskombinat in Krasnojarsk, aber die meisten wurden den Jenissej flussabwärts, nach Norden, hinter die Stadt Jenissejsk gebracht, von wo aus man sie in die Goldminen trieb.“

Gesellschaft „Memorial“, Kransnojarsk

Ursprünglich entstand "Memorial" 1988, um in Russland ein Denkmal für die Opfer des Stalinismus zu errichten. Gründungsvorsitzender war Andrej Sacharow (1921 bis 1989), als Physiker "Vater der sowjetischen Wasserstoffbombe, Dissident und Friedensnobelpreisträger.

1970 hatte Andrej Sacharow ein „Komitee zur Durchsetzung der Menschenrechte“ gegründet und in einem offenen Brief an die Regierung eine Demokratisierung der Sowjetunion verlangt. 1971 protestierte der Wissenschaftler gegen eine Praxis der Machthaber, Regimegegner in psychiatrische Kliniken einzuweisen. Die Regierung reagierte mit zunehmender Repression. Sacharow kümmerte sich um politische Häftlinge und setzte sich für das Selbstbestimmungsrecht von Krimtataren, Mescheten, Armeniern, Kurden und Georgiern ein. 1974 trat er für seine Ziele in den Hungerstreik. 1975 wurde Sacharow der Friedensnobelpreis verliehen. Nach Protesten gegen die sowjetische Intervention in Afghanistan wurde Sacharow verhaftet und nach Gorki (heute: Nischni Nowgorod) verbannt, wo er unter Aufsicht des KGB leben musste. 1986 wurde die Verbannung Sacharows aufgehoben. Parteichef Michail Gorbatschow bat ihn telefonisch, nach Moskau zurückzukehren und seine politische Tätigkeit fortzusetzen. 1989 wurde Sacharow Gründungsvorsitzender der russischen Gesellschaft "Memorial".

"Memorial" war die erste regierungsunabhängige Organisation auf dem Gebiet der früheren Sowjetunion. Das geplante Denkmal für die Opfer des Stalinismus wurde am 30. Oktober 1990 vor der früheren KGB-Zentrale in Moskau, der Lubjanka, eingeweiht. Heute widmet sich "Memorial" der historischen Aufarbeitung politischer Gewaltherrschaft, der Einhaltung der Menschenrechte und der sozialen Fürsorge für die Überlebenden des sowjetischen Arbeitslagersystems (GULag).

 

Hauptstadt: Die Hauptstadt der Republik Adygeja ist Maikop. Maikop (etwa 1 250 Kilometer von Moskau entfernt) hat 144 249 Einwohner (2010). Maikop bedeutet im Adygejischen „Apfelbaumtal“. Die Stadt liegt am Übergang vom hügeligen Kaukasusvorland in die Kubanniederung am Fluss Belaja. Als Kaukasusvorland oder Vorkaukasus wird das nördliche Vorland des Kaukasus zwischen Schwarzem Meer und Kaspischem Meer bezeichnet. Nach dem 870 Kilometer langen Kuban, der auch Tscherkessk, die Hauptstadt der Republik der Karatschaier und Tscherkessen durchfließt, wird die ganze Region – das Einzugsgebiet des Kuban beträgt 57 99 Quadratkilometer – Kuban-Gebiet genannt. Das Kuban-Gebiet ist heute bedeutend wegen seiner Landwirtschaft. Um die Mitte des 20. Jahrhunderts war es besonders wegen reicher Erdölvorkommen um Maikop von Interesse. Im zweiten Weltkrieg war Maikop eines der vorrangigen Ziele der deutschen Wehrmacht im Osten. Nach dem Abbruch der im Sommer 1942 begonnenen, aber letztlich erfolglosen, deutschen Kaukasus-Offensive am 28. Dezember 1942 wurde während des anschließenden deutschen Rückzugs westlich des unteren Kuban ein Brückenkopf auf der Taman-Halbinsel befestigt, der bis zum 9. Oktober 1943 hinein gehalten werden konnte und so den Rückzug eines Großteils der Truppen der Heeresgruppe A aus dem Kaukasus ermöglichte.

Wirtschaft: Die natürlichen Gegebenheiten des Landes begünstigen die landwirtschaftliche Produktion. Auf den fruchtbaren Schwarzerdeböden werden vor allem Weizen, Reis, Mais, Sonnenblumen, Zuckerrüben, Gemüse, Kartoffeln, Melonen, Tabak, Tee... angebaut. In den Dörfern findet man Obstgärten, Walnuss- und Kastanienbäume sowie Erdbeerplantagen. Auch der Gartenbau gewinnt immer mehr an Bedeutung (Blumen, vorrangig Rosen). Von Bedeutung ist auch die Viehzucht, besonders die Pferdezucht. - Adygeja ist reich an Holzvorräten, da die Wälder im Süden bis zu einem Drittel des Gebiets einnehmen. - Groß sind die Lagerstätten von Baumaterialien, im Bergteil der Republik kommen in kleineren Mengen Gold und Erze vor, auch Erdgas und Erdöl werden in kleineren Mengen gefördert. Im Industriebezirk Maikop sind Holzverarbeitung, Maschinenbau, Chemie, Zementindustrie sowie Betriebe für die Verarbeitung landwirtschaftlicher Produkte wie Konservenfabriken, Weinkellereien, Milchverarbeitungswerke, Tabakfabriken usw. angesiedelt. - Die traditionellen Heimgewerbe der Adygen sind das Korbflechten, das Weben, die Herstellung der kaukasischen Filzüberwürfe, das Gerben von Leder, die Herstellung von Waffen (Dolche); verbreitet ist auch die Holzschnitzerei, die Gold- und Silberstickerei. In der Republik Adygeja gibt es berühmte Waffenschmiede, die schmuckbesetzte und Gold verzierte Säbel, Dolche und traditionelle kaukasische große Messer für die Ölprinzen des vorderen Orients anfertigen. Intarsienarbeiten aus Marmor und Edelmetall sind die Domäne anderer Künstler dieser kleinen Republik. - Touristische Einrichtungen sind in den Bergen des Kaukasus in den bekannten Orten Teberda, Dombai und Archis vorhanden.

 

Dolch mit Zutaten eines adygeischen Waffenschmieds, 19. Jahrhundert.

Zeichnung aus: Rellers Völkerschafts-Archiv

Wie im gesamten Westkaukasus, spielt der Tourismus eine zunehmende wirtschaftliche Rolle; denn dem Boden Adygejas entspringen zahlreiche heilkräftige Mineralquellen.

Verkehr:  Die Eisenbahnlinie von Armawir nach Sotschi durchquert das Gebiet der Republik Adygeja nördlich der Hauptstadt Maikop. Eine Zweigstrecke führt von Beloretschensk in der Nachbarregion Krasnodar über Maikop nach Kamennomostski. Im äußersten Nordwesten führt die Bahnstrecke Krasnodar–Krymsk durch Adygeja. Gute Autostraßen und die Eisenbahnlinie, die ins Vorgebirge führt, sowie die gut erschlossenen Touristenwege, die durch den Bergteil der Republik bis an die Schwarzmeerküste führen, machen den Tourismus in Adygien besonders attraktiv. In Maikop befindet sich außerdem ein Flughafen. - Der Kaukasus ist ein verkehrsfeindliches Gebirge. Es fehlen Quertäler. Das macht ihn unzugänglich. Nur drei Passstraßen gibt es - die Georgische Heerstraße von Ordshonikidse nach Tbilissi, die Ossetische Heerstraße, die ebenfalls in Ordshonikidse beginnt und nach Kutaissi führt, und eine dritte Straße von Tscherkessk über den Kluchor-Pass nach Suchumi. Nur die Georgischer Heerstraße hat verkehrstechnische und wirtschaftliche Bedeutung. Sie führt durch die Darialschlucht.

Sprache/Schrift: Das Adygeische ist eine Kaukasussprache der abchasisch-adygeischen Sprachgruppe, auffällig stark gewürzt mit Sprichwörtern und phraseologischen Wendungen. Der Dialekt der Temirgojer wurde zur Grundlage der adygeischen Schriftsprache. (Der Dialekt der Kabardiner wurde zur Grundlage der kabardinischen Schriftsprache. Andere tscherkessische Dialekte wurden nicht verschriftlicht.)

 "Ich bin in einer Familie aufgewachsen, deren Sprache das Altadygeische war. Ich sage altadygeisch, gehörte doch meine Familie zu einer kleinen ethnischen Gruppe, deren Lebensweise ihr halft, jene Züge der Sprache zu bewahren, die andernorts verlorengegangen sind. Ich erinnere mich, wie Linguisten aus Leningrad zu uns angereist kamen, die an einem erklärenden Wörterbuch der adygeischen Sprache arbeiteten, und meine Mutter sagte zu den Gästen: `Achten Sie mal darauf, wie wenig Worte unsere Sprache braucht, um ein großes Gefühl auszudrücken. So zum Beispiel dieses, unser Geleitwort: `Ggokgu´ heißt `der Weg´, `maf´ - `der Tag, das Licht, die Klarheit´. Nebeneinandergestellt lassen sich diese Wörter folgendermaßen verstehen: `Tag, sei auf deinem Wege!` oder: `Mögest du im Licht wandeln!´"

Sawwa Dangulow in: Sowjetliteratur 1/1972

 

 - Die Adygen verwendeten von 1925 bis 1926 das lateinische Alphabet, davor das arabische und seit 1927 das  kyrillische Alphabet mit Zusatzzeichen. Obwohl die Titularnation in der Republik Adygeja nicht einmal 25 Prozent ausmacht, sind Russisch und Adygeisch regionale Amtssprachen.

 

Bildreporter Heinz Krüger und Textreporterin Gisela Reller bei adygejischen Schulanfängern, vorgestellt in der adygejischen Zeitung "Sozialistisches Adygien" vom 2. September 1976 - man beachte die

Zusatzzeichen bei der adygeischen Schrift mit kyrillischen Buchstaben.

Zeitungsausschnitt aus: Rellers Völkerschafts-Archiv

 

Vom internationalen Verband der Tscherkessen wird die nationale Zeitung „Die Schapsugen“ herausgegeben, die fast jede adygejische und tscherkessische Familie bezieht.

"Das Hauptproblem bleibt nach wie vor die Erhaltung der Sprache der Adygen. Dazu wurde ein Internetprojekt entwickelt, das den alteingesessenen Adygen erlaubt, die Sprache ihrer Vorfahren wiederzubeleben, bzw. verhindert, dass diejenigen, die in andere Länder gezogen sind, sie endgültig vergessen. Wir haben zu unseren Landsleuten in der Türkei, Syrien und Jordanien Kontakte hergestellt. Wir geben uns Mühe, das Leben der Menschen in ihren kompakten Siedlungsgebieten kennenzulernen. So haben wir die Einrichtung eines privaten Museums in Syrien unterstützt, doch kam der Bürgerkrieg dazwischen, so dass dieses Projekt nicht abgeschlossen werden konnte."

Fatima Dschigunowa (Direktorin des adygejischen Nationalmuseums), 2013

Literatursprache/Literatur: Bis 1918 wurde das Erzählgut der Adygejer mündlich tradiert (u. a. "Nartendichtung" und Volkslieder). Nach der Einführung der adygejischen Schrift ist das Adygejische seit den 1920er Jahren Literatursprache. In den 1930er Jahren trat die adygejische Literatur mit Lyrik, Dramatik und Prosa hervor. Als Begründer der adygejischen Prosa gilt Tembot Keraschew (links - 1902 bis 1988)

"Weitbekannt sind Tembot Keraschew, Klassiker der adygejischer Literatur, Träger des Staatspreises der UdSSR, und Ischak Maschbasch, Volksschriftsteller von Adygeja, Träger des sowjetischen und des russischen Staatspreises, Vorsitzender des Schriftstellerverbands von Adygeja."

"Stimme Russlands" vom 21. April 2009

 

Tembot Keraschew (links), der Begründer der adygejischen Prosa, mit Kirimise Shane,

einer der bekanntesten Dichter Adygejas - der "Mann mit dem gütigsten Herzen".

Foto: Heinz Krüger

 

Die literarische Tätigkeit Tembot Keraschews begann 1925; er ist Autor vieler Erzählungen, Powest und Romane. - In Adygien bekannt ist auch der adygejische Lyriker Isschak Maschbasch (geboren 1931), der seit 1948 literarisch tätig ist; er hat am Gorki-Literaturinstitut in Moskau studiert. - Im Maikop gibt es einen Buchverlag.

 

Bildung: Im ganzen Nordkaukasus besteht in den siebziger Jahren die allgemeinbildende Achtklassenschule, und der Nordkaukasus ist zu einem Gebiet mit durchgängiger Lese- und Schreibkundigkeit geworden, es gibt kein autonomes Gebiet und keine autonome Republik ohne eine Pädagogische Hochschule. - Maikop ist heute Sitz einer Staatlichen Universität und anderer Bildungseinrichtungen, darunter einer Filiale der Südrussischen Staatlichen Technischen Universität von Nowotscherkassk. Außerdem hat Adygeja acht staatliche und 23 öffentliche Museen. Das Nationale Museum der Republik Adygeja besitzt einmalige archäologische, ethnographische, naturwissenschaftliche Sammlungen. Dort wurde extra eine Abteilung für die adygeische Diaspora gegründet; ausgebaut wurde der Museumsbestand in den Themenbereichen Kaukasuskrieg und (vertriebene und emigrierte) Adygejer im Ausland. In Maikop existiert auch eine Filiale des Staatlichen Museums der Völker des Ostens.

 

Kultur/Kunst: In den letzten Jahren sind in Maikop ein Sinfonieorchester, ein kleines Musiktheater und das professionelle Volksmusikorchester „Russkaja udal“ entstanden. Auf der Kleinen Bühne des Republik-Schauspielhauses tritt das Ensemble „Quadrat“ auf. Weitbekannt ist Umar Tchabissimow, Begründer der professionellen Musikkunst in Adygeja, Volkskünstler der Russischen Föderation und der Republik Adygeja, Verdienter Kunstschaffender Russlands, Träger des Staatspreises der Republik Adygeja, Mitglied des Komponistenverbandes Russlands. - Die Gemäldegalerie in Maikop demonstriert den Freunden der darstellenden Künste Werke bekannter Maler, Graphiker, Bildhauer, Photographen, Kunsthandwerker aus Adygeja, aus ganz Russland und aus dem nahen und fernen Ausland.  - Das Nationalmuseum der Republik Adygeja in Maikop unterhält enge Kontakte zu den Museen der benachbarten kaukasischen Republiken in Kabardino-Balkarien, in Karatschai-Tscherkessien, in der Region Krasnodar… Eines der größten Museen des Kaukasus wird im nächsten Jahr neunzig Jahre alt. Sein Bestand setzt sich aus etwa 300 000 Exponaten zusammen. Darin ist das Erbe nicht nur der Adygejer, sondern aller Ethnien, die auf dem Territorium Adygejas leben, breit vertreten.

"Die Tscherkessen, die sich selbst `adyge´ nennen, wollen auch in Deutschland nicht nur durch ihre beeindruckenden Folkloretänze wahrgenommen werden, sondern auch als eine bedrohte, alte Kultur, die nur überleben kann, wenn sie unterstützt wird und die Verbindung zur Urheimat nicht abreißt."

Cem Özdemir, Bundesvorsitzender der Partei Bündnis 90/

Die Grünen, 2013

Gesundheitswesen: Im Artikel 41 der Verfassung der Russischen Föderation ist für alle Bürger das Recht auf kostenlose medizinische Grundversorgung verankert. Dieser seit den Sowjetzeiten bestehende Grundsatz ist zum Teil die Ursache dafür, dass Russland im internationalen Vergleich eine vergleichsweise hohe Anzahl an Ärzten und Krankenhäuser pro Kopf der Bevölkerung aufweist. Dennoch ist der gesundheitliche Zustand der russischen Bevölkerung schlecht. Gerade beim wirtschaftlichen Niedergang der 1990er Jahre in Russland wurde das Gesundheitswesen stark getroffen. Das Ergebnis führte zu äußerst niedrigen Entlohnungen der Ärzte und Krankenschwestern und als Folge zu einer massiven Verschlechterung der Qualität der medizinischen Versorgung der breiten Öffentlichkeit. So ist inzwischen jede dritte Klinik der siebentausend Krankenhäuser im Land dringend renovierungsbedürftig. In letzter Zeit werden die Gehälter für das medizinische Personal schrittweise angehoben sowie staatliche Mittel in die Einrichtung neuer und in die Modernisierung bestehender Kliniken investiert. In den Jahren 1999 bis 2003 betrugen die durchschnittlichen Gesamtausgaben für den Gesundheitssektor in Russland im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt 5,70 Prozent. - In der Russischen Föderation ist der Gesundheitssektor dezentral organisiert. Das Gesundheitsministerium ist auf föderaler Ebene für den gesamten Sektor zuständig, das Erbringen der konkreten medizinischen Leistungen aber Aufgabe der Föderationssubjekte* und Gemeinden. Der Bedeutung der Föderationssubjekte und Gemeinden im Gesundheitssektor gemäß werden rund zwei Drittel der gesamten Budgetausgaben von diesen bestritten. Das russische Gesundheitssystem wird durch einen Mix aus Budgetmitteln und Mitteln aus der Sozialversicherung finanziert.

 

* Als Föderationssubjekte der Russischen Föderation werden die 83 territorialen, mit gewisser politischer und administrativer Autonomie ausgestatteten und im Föderationsrat vertretenen Verwaltungseinheiten Russlands bezeichnet.

Klima: Das Klima der Republik Adygeja wird als mittelwarm eingestuft, mit Durchschnittstemperaturen im Januar um 2 Grad minus und im Juli um plus 22 Grad. Die jährliche Niederschlagsmenge beträgt etwa 700 Millimeter. Die Klimaverhältnisse sind sowohl für sommerliche als auch für winterliche Erholungsarten sehr günstig.

Natur/Umwelt: Die Republik Adygeja besteht im Süden aus bewaldeten Hochflächen, die weiter südwärts in den westlichen Kaukasus übergehen und 3 238 Meter über dem Meeresspiegel erreichen. Der Norden wird vom Kubantiefland, das Teil der fruchtbaren Schwarzmeerniederung ist, eingenommen. Der Kuban bildet streckenweise die Nord-Grenze der Republik.  Etwa 40 Prozent des Territoriums sind bewaldet (Misch- und Laubwälder, darunter Eiche-Buchen-Wälder; wild wachsende Obstbäume). Den nördlichen Teil der Republik nimmt eine Ebene, den südlichen das Vorgebirge und der Kamm des Hochkaukasus ein. Die wichtigsten Flüsse heißen Kuban, Laba, Belaja.

Dem Kaukasus entspringen einige sehr bekannte Flüsse: Nach Nordwesten fließt der Kuban; er hat eine der fruchtbarsten Kornkammern entstehen lassen. Nach Nordosten der Terek, der sich durch enge Felsschluchten zwängt und die Turbinen mehrerer Kraftwerke antreibt. Nach Süden die Kura, die die Baumwollfelder Aserbaidschans bewässert. Nach Südwesten schließlich ergießt sich der Rion, den die Griechen der Antike Phasis nannten; er hat Sümpfe entstehen lassen, die man erst trocken legen musste.

- Zu dem adygejischen Gebiet gehört als besondere „Perle“ der Süden der Republik. Besonders interessant ist hier ein Wisentschutzprogramm. - Adygeja hat sehr schöne Landschaften mit einmaligen Naturdenkmälern. Zu ihnen gehören u. a. der "Kosakenstein" (den ich bei meiner Reise als "Mädchenstein" kennengelernt habe) und das Ammonitental. Bei dem "Kosakenstein" handelt es sich um einen riesigen Felsblock, der 35 Meter hoch und 27 Meter breit ist. Es heißt, in weit entfernten Zeit habe sich der Block vom Felsen gelöst und sei runtergerutscht. Der "Kosakenstein" zählt zu den größten Findlingen in Europa. Seine Fotos sind in vielen Museen der Welt ausgestellt. Er befindet sich zwischen dem Dorf Kamennomostski und der Kosakensiedlung Dachowskaja, an der Autobahn Maikop – Guseripl. Der riesige Felsblock hat mehrere Namen: "Kosakenstein", "Mädchenstein", "Tscherkessenstein", "Teufelsstein". Hinter jedem Namen verbirgt sich eine Legende. Eine Legende erzählt, wie ein berittener Kosak hoch  oben auf dem Stein den Bezirkshauptmann begrüßte, der eine Inspektionsreise durch diese Gegend machte.  - Das Ammonitental ist ebenfalls ein einzigartiges Naturdenkmal von Adygeja. Dank zahlreicher Funde von riesigen Ammonitenschalen wurde das Tal des Flusses Belaja weltbekannt, in dessen Bett riesige versteinerte Kugeln verstreut liegen.

Pflanzen- und Tierwelt: Der Kaukasus beherbergt eine reichhaltige Tierwelt. Zu den großen Arten zählen Marale (eine Unterart des Rothirschs), Wildschweine, Gämsen und Steinböcke. Ebenfalls heimisch sind noch Bär, Wolf und Luchs. Extrem selten ist der Kaukasische Leopard, der erst 2003 wiederentdeckt wurde. Das Kaukasische Wisent starb 1927 aus. Wieder eingeführte Tiere, bei denen es sich um Hybriden mit Bisons handelt, leben im Naturreservat des nordwestlichen Kaukasus in Adygeja. Das letzte Exemplar des Kaukasus-Elches wurde 1810 getötet. – Der Kaukasus ist sehr artenreich an wirbellosen Tieren, beispielsweise sind hier bisher etwa tausend Spinnenarten nachgewiesen. - Im Kaukasus sind 6 350 Blütenpflanzen-Arten heimisch, davon sind 1 600 endemische Arten, zum Beispiel bestimmte Doldenblütler, Korbblütler, Nelkengewächse, Braunwurzelgewächse, Baldriangewächse, Kreuzblütengewächse, Raubblattgewächse, Rosengewächse. – Der Riesenbärenklau wurde 1890 als Zierpflanze nach Europa importiert. – Die Gebirgsregion des Kaukasus ist aus Sicht des Naturschutzes eine der 25 gefährdetsten Gebiete der Erde.

Behausungen: Die gebirgigen dörflichen traditionellen Niederlassungen der Adygen bestanden aus einzelnen Gehöften. In den Ebenen gab es Siedlungen mit Straßen und Wohnvierteln. Die traditionelle Behausung bestand aus einem großen Raum, an den zusätzlich isolierte Räumlichkeiten mit separatem Eingang für die verheirateten Söhne angebaut wurden. Die einzelnen Anwesen wurden meist mit einem Flechtzaun umgeben.

 „Die Pschuko (Siedlungen) stellen Häuser dar, die in Gruppen am Fuße der Berge stehen, inmitten großer Felder und Wälder: vierzig Häuser an einem Ort, zehn Häuser an einem anderen, zwanzig an einem dritten Ort, in denen sich in der Nachbarschaft nahe und entfernte Verwandte niedergelassen haben. Darum wird aus dicken Balken und Ruten ein von einem Flechtzaun umgebener Hof angelegt, der an eine Festung erinnert …“

Evliya Çelebi (türkisch-osmanischer Forschungsreisender und Schriftsteller, 1611 bis 1682), 17. Jahrhundert

   

 

Dörfliche adygeische Häuser, Ende des 19./Anfang des 20. Jahrhunderts.

Zeichnungen aus: Rellers Völkerschafts-Archiv

 

Ernährung: Legendäre Vitalität zeichnet die Bewohner des Kaukasus aus. Sie leben nicht nur lange, sondern erhalten sich auch ihre Lebensfreude und eine beneidenswerte Gesundheit. Eine entscheidende Rolle spielt dabei die Ernährung.

Naturbelassene Nahrungsmittel und eine Fülle von frischen Zutaten werden zu Gerichten von unwiderstehlicher Köstlichkeit komponiert. (...) Bei allen Unterschieden haben die Kaukasier jedenfalls eines gemeinsam: Sie werden dank ihrer natürlichen Ernährung und Lebensweise steinalt, und das bei bester Gesundheit."

Monika Buttler in: Die Kaukasuskost der Hundertjährigen, 1999

Kleidung: Die Tscherkesska, den berühmten Überrock mit fein ziseliertem Dolch und Patronentaschen, haben die Adygejer "erfunden" (die ebenfalls Tscherkessen sind). Der Zyj, wie der Tscherkessenrock adygejisch heißt, wurde zur männlichen Volkstracht im ganzen Kaukasus - schwarz alltags, weiß zu hohen Festlichkeiten, zum Beispiel am Hochzeitstag. Das Besondere am Saj, dem weiblichen Festkleid, sind die "zweiten Ärmel", reich mit Goldstickerei verziert. Seit mehr als tausend Jahren sind die Adygejinnen im ganzen Kaukasus anerkannte Meisterinnen der Goldstickkunst. Mit Gold- (und Silber-)fäden verzieren sie Täschchen, Fächer, Kissenbezüge, Kleidungstücke, auch die typischen "goldenen Käppchen", zu deren Anfertigung mindesten sechzig Arbeitsstunden nötig sind. Mag die adygejische Festtracht noch so wirkungsvoll sein, so gilt dennoch in ganz Adygeja noch heut das jahrhundertealte Sprichwort: Im fremden Aul (Dorf) zählt die Kleidung, im eigenen die Tat.

Die adygeische Tscherkesska Zyj und das adygeische Festkleid Saj - berühmt im ganzen Kaukasus.

Zeichnung: Gisela Röder in der Illustrierten "FÜR DICH" 3/1983;

Rücktitelserie "Trachten der Völker der Sowjetunion" von "Gast"redakteurin Gisela Reller

Folklore: Berühmt für ihre „Narten-Epen“ sind mehrere Völker des nördlichen Kaukasus, besonders die Adygen, die Tscherkessen, die Abchasen, die Osseten, die Karatschaier, die Balkaren, die Inguschen, die Abasiner, die Tschetschenen. Die Narten – heldenhafte Recken - kommen auch bei den dagestanischen Völkern und bei einigen georgischen ethnischen Gruppen - wie bei den Swanen und Chewsuren - vor. Die Frage nach der Herkunft des „Nartenepos“ ist schwierig. Der Iranist Wassili Abajew und der französische Religionshistoriker und Sprachwissenschaftler George Dumézil behaupten, dass das Epos von dem Volk der Osseten stammt. Laut dieser Forscher entstand das Epos im 8.-7. Jahrhundert v. Chr.,  im 12 – 14. Jahrhundert wurden dann die Sagen zu Zyklen gebündelt, die einen  Helden  oder  ein Ereignis  zum Thema hatten. Hinsichtlich  der  Herkunft des Wortes “nart“ haben die Wissenschaftler kein einhelliges Urteil. Einige von ihnen meinen, dass es mit dem iranischen Wort „nar“ (Mann), dem ossetischen „nae art“, was soviel wie „unser Feuer“ bedeutet, und der altindischen Wurzel „nrt“ (tanzen) verwandt ist. Andere leiten „nart“ von der mongolischen Wurzel „nara“ (Sonne) ab und meinen, das Wort „nart“ sei von dieser Wurzel durch Anfügung des Suffixes „t“ gebildet, das in der ossetischen Sprache bei Substantiven der Plural-Indikator ist; nach demselben Muster werden noch heute ossetische Nachnamen gebildet. Die Urmutter aller Narten ist die verführerische und weise Satanaya, die Ähnlichkeit hat mit der altgriechischen Fruchtbarkeitsgöttin Demeter. Die Narten-Sagen besitzen ein gleichgewichtiges Verhältnis zwischen Männern und Frauen; Göttinnen und Heldinnen genießen in den Geschichten großen Respekt. Nartische Gottheiten wie der Himmelsschmied Kurdalagon, der Donnergott Uazilla sowie Sapha, der Schirmherr des heimischen Herdes, haben Parallelen zu nordischen Sagen und Mythen. Auch der griechischen Mythologie ähneln die "Narten"-Sagen in vielen Elementen. Die Figur von Nasran z. B. gleicht dem Feuer bringenden Titanen Prometheus, den der Göttervater Zeus ausgerechnet an einen Berg im Kaukasus fesseln ließ. Der russisch-orthodoxe Geistliche André Sikojew (der Vater war Ossete, die Mutter Deutsche) hat das Narten-Epos erstmals aus einer russischen Fassung, die es seit 1948 neben einer ossetischen gab, ins Deutsche übertragen. Laut Sikojev sind die Narten-Sagen im Siedlungsgebiet der Osseten entstanden und einst im gesamten nördlichen Kaukasus erzählt und gesungen wurden.

"Aus dem Inhalt des Narten-Epos´: Die Welt war zunächst von wilden Riesen-Narten besiedelt, die in Höhlen wohnten, weil sie keine Häuser zu bauen vermochten. Sie hatten viel Kraft und wenig Verstand. Als dann weniger starke, dafür aber verständigere Narten auf die Welt kamen, konnten sie die Riesen leicht besiegen: Bald schläfert der Narte mit seiner Beredsamkeit das Misstrauen des Riesen ein oder lenkt seinen Zorn auf einen anderen Gegenstand, bald verwickelt er ihn geschickt in eine Situation, in der der Riese machtlos ist. Außer den Begegnungen mit den Riesen nehmen die Narten an fröhlichen Zusammenkünften teil, gehen auf die Jagd oder ziehen in den Krieg. Bei den Zusammenkünften spielen die Narten lustige Spiele, zechen, tanzen und singen. Ihre Kriegszüge sind immer voller Überraschungen. Die einzelnen Sagen erzählen von zahlreichen Fehden zwischen den Narten, von ihren blutigen Auseinandersetzungen. Darüber hinaus sind die Narten mit übermenschlichen Eigenschaften ausgestattet und verstehen die Sprache der Vögel. Und: Einige Narten beherrschen die Kunst, sich tot zu stellen, um den argwöhnischen Gegner zu überlisten. Andere Narten können in den Himmel steigen und zurückkehren, wieder andere wandern in die Hölle – und kommen, sobald sie wollen, zurück auf die Erde. Fast alle Narten sind mit mythischen Figuren der Sonne und deren Tochter verwandt.  Doch das Hünenvolk endete tragisch: Die Narten waren so stolz geworden, dass sie an die Türen ihrer Häuser keine Leitern mehr ansetzten, damit Gott nicht etwa glaube, sie würden  ihn anbeten. Gott sandte deshalb eine fürchterliche Hungersnot auf die Erde. Doch in der Nacht war der Himmel mit Körnern unbekannter Art übersät, die wie Lichter glänzten. Die Narten begannen, diese leuchtenden Körner mit Pfeilen abzuschießen und sich davon zu ernähren. Diese Speise allein aber reichte nicht aus, und alle Narten verhungerten. Nach ihrem Untergang fielen die himmlischen Körner auf die Erde und fingen zu wachsen an und Früchte zu tragen – das war der Mais, der für die Menschen so kostbar ist.“

Natascha Petrowa, in: Stimme Russlands vom 8. Oktober 2009

Feste/Bräuche: In Adygeja legt man großen Wert auf die Aufrechterhaltung und Weiterentwicklung nationaler Traditionen. Die Volksbräuche und historisch bedingten interkulturellen Verhaltensregeln funktionieren heutzutage als soziale Regulatoren. Unübertroffen ist die Gastfreundschaft der Adygejer, undenkbar ein Festmahl ohne gebratenes Hühnchen, die die Adygejer jeweils in fünfzehn Teile zerlegen: Der Ehrengast bekommt die Flügel, die sinnbildlich zu großen Taten beflügeln sollen. Die Wurzeln dieses Gedankens gehen tief in die Jahrhunderte zurück, als die fernen Vorfahren der Adygejer ihre Herkunft noch vom Adler herleiteten, dem Symbol der Kraft, der Freiheit und des Glücks.

Das Zitat: "Niemals kann ich die Volksfeste in den Vororten von Pjatigorsk vergessen, wohin talentvolle Menschen aus allen Ecken und Enden der nordkaukasischen Erde strömten. Wahrhaftig, die Augen wußten nicht, wohin sie blicken sollten angesichts dieses phantastischen Schauspiels: ossetische Dshigiten [mutige Burschen] in weißen Beschmeten [Umhängen] auf ihren dünnbeinigen und raschen Pferden; Seiltänzer aus Dagestan mit den elastisch-geschmeidigen, wie mir schien `lebendigen´ Balancierstangen; großartige kabardinische Tänzer, Tänzer aus Dagestan und dem Land der Tschetschenen, die virtuos kaukasische Tänze vollführten, in erster Linie die Lesginka, einen geradezu feurigen Tanz; Musikanten, deren Instrumente sowohl dem Aussehen wie dem Klang nach ganz ungewöhnlich waren. Am packendsten waren jedoch die Pferderennen: die Nordkaukasier sind geborene Reiter, für die das Pferd wie der Dolch nicht mit Gold aufzuwiegen ist. Und diese Rennen nun bedeuten einen Zweikampf der Charaktere, der Leidenschaften und, versteht sich, der Kunst des Dshigiten, einen derart hitzigen Zweikampf, daß es mitunter schwer fiel zu begreifen, ob das nun Spiel oder Leben war..."

Sawwa Dangulow (adygejischer Schriftsteller) in: Sowjetliteratur 1/1972

Religion: Die Adygejer bekennen sich ihrer Religion nach sowohl zur christlich-orthodoxen Kirche (christianisiert durch Byzanz), als auch zum Islam; die meisten Adygejer jedoch sind seit dem 18. Jahrhundert Anhänger des sunnitischen Islam. In Maikop befindet sich seit einigen Jahren eine große Moschee, und seit alters gibt es zahlreiche orthodoxe Kirchen.

 

Ereignisse nach dem Zerfall der Sowjetunion, sofern sie nicht bereits oben aufgeführt sind: Vom 19.-21. Mai 1990 fand in Holland eine konstituierende Versammlung für einen „Weltkongress der Tscherkessen“ statt, an der Delegationen aus Europa, der Türkei, Syrien, Jordanien, den USA und aus dem Kaukasus teilnahmen. Dieser benannte sich später in „Internationale Tscherkessische Assoziation“ um.  Sitz dieses Weltverbandes ist Naltschik, die Hauptstadt der Republik Kabardino-Balkarien, Vorsitzender ist der Bankier Kanshoby Azhakhov aus Naltschik. Die „Internationale Tscherkessische Assoziation“ (ICA, oft mit dem Zusatz „Adyge-Khase“), ist wohl der wichtigste Dachverband tscherkessischer Organisationen aus aller Welt. Ihm gehören die ethnisch-tscherkessischen Organisationen der drei Teilrepubliken der Russischen Föderation (Kabardino-Balkarien, Adygeja, Karatschai-Tscherkessien), des Krasnodar Gebietes sowie der Diaspora - der Türkei, Syriens, Jordaniens, Israels, der USA (New Jersey und Kalifornien) und Deutschlands - an. - Am 28.6.1991 proklamierte sich Adygeja zur souveränen Republik (mit administrativer Ausgliederung aus der Region Krasnodar), 1992 unterzeichnete die Republik Adygeja den Föderationsvertrag mit Russland.

„Vor etwa zwanzig Jahren wurde im Nationalmuseum der Republik Adygeja die Abteilung `Die Diaspora´ eingerichtet. Soviel ich weiß, gibt es in keinem anderen Museum im Nordkaukasus, ja in ganz Russland etwas Ähnliches. Wir organisieren immer wieder Ausstellungen zu ethnischen Gewerben und Kunsthandwerken sowie Sonderausstellungen. Beispielsweise informierte eine Fotoausstellung vor kurzem darüber, wie unsere Landsleute, die zu verschiedenen Zeiten nach Adygeja gekommen sind, sich hier auf den verschiedensten Gebieten entfalten können.“

Fatima Dschigunowa (Direktorin des adygejischen Nationalmuseums), 2013

- Am 10.03.1995 wurde eine Verfassung angenommen. 1992-2002 war Aslan Dscharimow (geboren 1939) Präsident Adygiens, ihm folgte 2002 Chasret Sowmen (geboren 1937) im Amt. Russische Bestrebungen, die Republik Adygeja aufzulösen, führten 2005 zu politischen Unruhen.

"Öffentlicher Protest in Majkop [Maikop]  gegen  die  Fusionspläne mit annähernd 10 000 Demonstranten ließ Moskau vorläufig zurückrudern. Aleksandr [Alexandr] Potschinok, stellvertretender Bevollmächtigter des Präsidenten für Südrussland, sah sich am 26. April 2005 genötigt, alle offiziellen Äußerungen zur beabsichtigten Gebietsreform zu dementieren. (...) Dennoch gründeten Vertreter von Karatschajewo-Tscherkessien, Dagestan, Nord- und Südossetien, Adygeja, der Kuban-Kosaken sowie russischer Gemeinden am 9./10. September 2005 einen `Volksrat der Völker Nordkauasiens´, der den Tscherkessen-Kongress in seinen Bemühungen gegen die Fusionspläne nachdrücklich unterstützt."

Dittmar Schorkowitz in: Postkommunismus und verordneter Nationalismus, 2007 (?)

Seit dem 13. Dezember 2006 ist Aslan (Aslantscheri) Kitowitsch Tchakuschinow (geboren 1947 in Adygeja) der Staatschef Adygiens, er ist Mitglied der Partei Einiges Russland. Tchakuschinow war langjährig Rektor der Staatlichen Technischen Universität von Maikop, ist Mitglied der Akademie der Sozialwissenschaften und der Akademie der Naturwissenschaften der Russischen Föderation und: Präsident des Fußballvereins „Drushba (Freundschaft) Maikop“. Aslan Tchakuschinow ist verheiratet und hat einen Sohn. - Im Januar 2010 wurde Alexander Chloponin (geboren 1966) zum Präsidentenbeauftragten (Generalgouverneur) für den Nordkaukasus bestellt; im gleichen Monat hielt er seine erste Beratung mit den Päsidenten der nationalen Republiken ab (mit Dagestan, Inguschetien, Kabardino-Balkarien, Karatschai-Tscherkessien, Nordossetien, Tschetschenien). Für die Republik Adygeja, die Schwarzmeerregion Krasnodar und das Gebiet Rostow – diese Gebiete sind relativ stabil - ist weiterhin der ehemalige Generalstaatsanwalt Wladimir Ustinow zuständig. Die Situation im Nordkaukasus ist gegenwärtig Russlands größtes innenpolitisches Problem. Zupass kommen Chloponin im neuen Amt seine engen Kontakte zur Hochfinanz, vor allem zu den Mehrheitsaktionären von "Norilsk Nickel", dem weltweit größten Buntmetallkonzern, dessen Generaldirektor er selbst Mitte der Neunziger Jahre war. Es ist das erste Mal, dass seit den 1930er Jahren der Nordkaukasus zu einer eigenen Einheit zusammengefasst wurde. Chloponin wurde zugleich in den Rang eines Vizepremiers erhoben und damit direkt dem russischen Präsidenten Wladimir Putin unterstellt.

„Sehr viel wird in der Russischen Föderation auf föderaler wie regionaler Ebene dafür getan, dass die adygejisch-tscherkessisische Kultur erhalten bleibt. In der Region Krasnodar wird seit gut zehn Jahren ein Programm zur Harmonisierung der zwischenethnischen Beziehungen und der Entwicklung der nationalen Kulturen betrieben. In zwölf Aulen wurden wieder Kulturzentren eingerichtet. Ethnographische und Musikgruppen haben eine wesentliche Unterstützung bekommen und können unsere Kultur auf hohem Niveau repräsentieren.“

Madschid Tschatschuch, Vizepräsident des Internationalen Verbands der Tscherkessen, Vorsitzender des Verbands der adygischen Subethnie Schapsugen in der Schwarzmeerregion der Adygen

- Bis 2010 gehörten die drei Teilrepubliken Kabardino-Balkarien, Adygeja und Karatschai-Tscherkessen den Südlichen Föderationsbezirk an, so wurden 2010 auf Anordndung von Präsident Medwedjew Kabardino-Balkarien und Karatschai-Tscherkessien einem neuen Nordkaukasischen Föderationsbezirk zugeschlagen, während die Republik Adygeja außen vor blieb. - Nachdem Sotschi als Standort für die Olympischen Winterspiele 2014 ausgewählt wurde, wird in der Region vorrangig in eine elitäre Infrastruktur investiert. Die teuren Hotels stellen Ausflüge mit dem Fahrrad oder auf dem Pferd in den Mittelpunkt der angebotenen Urlaubsprogramme; die Preise sind inzwischen wegen der zu erwartenden Olympia-Besucher für die durchschnittlichen einheimischen und russischen Touristen kaum noch bezahlbar. - Im Februar 2014 wurde Asker Sokht (Socht), der Führer der „Internationalen Tscherkessischen Assoziation“ (auch: „Verband Adyge-Khase“) der Region Krasnodar, zu der auch das Olympiazentrum Sotschi gehört, in Krasnodar verhaftet. Nach Mitteilung der Assoziation hängt die Verhaftung mit der Kritik des Historikers Asker Sokht an den Olympischen Spielen zusammen. - In zwei der drei russischen Teilrepubliken sind Tscherkessen an der Macht: in der Republik Adygeja ist seit 2007 der Adyge Aslan Tchakuschinow Präsident und in Kabardino-Balkarien seit 2005 Arsen Kanokow. In Abchasien (zu Georgien gehörig) war der Tscherkesse Sultan Sosnaliyew in den Jahren 2005-2007 Verteidigungsminister und Vizepremier (gestorben 2008).

"Von Dagestan im Osten bis nach Adygeja im Westen gibt es kaum ein Volk, das nicht historisches Leid und dementsprechende Wiedergutmachungsansprüche geltend machen kann."

Neue Zürcher Zeitung vom 9. September 2004

Kontakte zur Bundesrepublik Deutschland: In Deutschland gibt es mehrere adygeisch/tscherkessische Kulturvereine, unter anderem in Münster, Bremen (Oyten), Hannover, Hamburg, Zwingenberg, Berlin, Wuppertal, Köln und München.

"Daher finden sich immer häufiger nordkaukasische Kulturvereine oder tscherkessische Vereine in Deutschland. Ihr Anliegen ist es, ihre Kultur und Sprache an die eigenen Kinder, aber auch ihrer neuen Heimat zu vermitteln. Tscherkessen wurden in der Diaspora und in all den Ländern, in denen sie Schutz, Aufnahme und eine neue Heimat gefunden haben, schnell loyale Bürger, ohne dabei ihre Herkunft zu vergessen."

Cem Özdemir, Bundesvorsitzender der Partei Bündnis 90/Die Grünen, 2013

Nach einem Jahr Pause haben die Tscherkessen (Adygejer) 2013 erneut am“ Karneval der Kulturen“ in Berlin teilgenommen. Mit etwa 45 Personen waren sie eine von 76 Gruppen. Das besondere Augenmerk lag in diesem Jahr auf das äußere Erscheinungsbild. Das Tragen von tscherkessischen Trachten bzw. tscherkessischer Kleidung mit tscherkessischen Motiven war Bedingung für die Teilnahme; monatelang wurde an Hemden genäht, an Ledergürteln gelötet, am Wagen gebastelt und am Flyer designed. - Im Februar 2014 fanden die 6. Tscherkessisch (Adygejischen) Kulturtage in Berlin statt; davor wurden sie im Harz, in Köln, in München, in Münster, in Bremen/Rotenburg veranstaltet.

 

Kaukasiologie Friedrich-Schiller_Uni Jena

 

Interessant, zu wissen..., dass 1999 der Westkaukasus mit maßgeblicher Unterstützung des NABU in die Liste des Weltnaturerbes der UNESCO aufgenommen wurde.

 

Zu dem Gebiet mit einer Fläche von dreitausend Quadratkilometern gehört als besondere „Perle“ der Süden der Adygejischen Republik. Die einzigartigen, von industrieller Entwicklung und menschlicher Besiedlung noch unbeeinträchtigten adygejischen Gebiete verfügen über einzigartige Landschaften des Hochgebirges, ähnlich den Alpen. Besonders interessant ist ein Wisentschutzprogramm; denn hier finden die letzten freilebenden Bergwisente, eine Unterart des Europäischen Wisents, einen natürlichen Lebensraum. Der Kaukasische Bergwisent wurde erst vor rund einhundert Jahren als eine neue Unterart des Wisents entdeckt. 1927 war dieser Wisent bereits ausgerottet. Durch ein ausgeklügeltes Rückzüch-tungsprogramm konnte 1960 wieder eine Population im Westkaukasus ausgewildert werden. Doch dieser Erfolg wurde durch ungeregelte Jagd in der Umbruchzeit in den 1990er Jahren zunichte gemacht, indem der Wisentbestand zu 80 Prozent getötet wurde. Bei dem Erhalt des Wisentbestandes arbeitet der Naturschutzbund Deutschland e. V. (NABU) mit der Russischen Akademie der Wissenschaften eng zusammen, 2009 fand in Maikop, der Hauptstadt ADYGEJAS zu der Thematik Ökologie und Nachhaltigkeit im Tourismus ein Internationales Symposium statt, und es wurde ein NABU-Projektbüro eingerichtet. - Unter dem Titel „Adygeja – nachhaltige Entwicklung einer Bergregion“ ist in Zusammenarbeit von NABU, der Verwaltung des Biosphärenreservates Nordkaukasus und anderer meist wissenschaftlicher Einrichtungen ein kleines Fachbuch in deutscher und russischer Sprache erschienen. Betrachtet werden darin sowohl die Geographie, die Landesgeschichte, die heutige wirtschaftliche Situation, die Bergwelt als auch der Naturschutz, welcher alle diese Faktoren mit berücksichtigen muss.

 

Ein Heimatloser friert überall.

Sprichwort der Adygejer

 

 

Die ADYGEN: Für Liebhaber kurzer Texte

 

Adygien liegt in der kaukasischen Vorgebirgszone, linksufrig der Flüsse Kuban und Laba. Seit sieben Jahrhunderten existieren Aussagen europäischer Reisender, die von der Anmut der adygeischen Landschaft schwärmen und von der Schönheit ihrer Bewohner. Sie rühmen zugleich deren Tapferkeit und Gerechtigkeit, ihren Stolz und ihre Güte. Unübertroffen ist ihre Gastfreundschaft, undenkbar ein Festmahl ohne geschmortes Hühnchen, das die Adygen in jeweils fünfzehn Teile zerlegen: Für den jüngsten Tischgast ist beispielsweise der Hals bestimmt, der Ehrengast bekommt die Flügel, die sinnbildlich zu großen Taten beflügeln sollen. Die Wurzeln dieses Gedankens gehen tief in die Jahrhunderte zurück, als die fernen Vorfahren der Adygen - die Abadsechen, Bshedugen, Temirgojewer, Schapsugen... - ihre Herkunft noch vom Adler herleiteten, dem Symbol der Kraft, der Freiheit, der Sonne und des Glücks. Wird in Adygien traditionell Hochzeit gefeiert, so ist hier für den ganzen Kaukasus einmaliger Brauch, dass Braut, Bräutigam und die Brauteltern am Festtagstrubel nicht teilnehmen dürfen - ein altadygeisches Bescheidenheitsgesetz bestimmt es so. Unentbehrlich sind jedoch auf jeder Jubelfeier die Saffianstiefel ohne Absatz, denn noch heute wird die Frau von ihrem Anbeter auf Fußspitzen umtanzt. Da aber sogar auf den traditionellen Festen kaum noch Nationaltracht angelegt wird, ist der einst unentbehrliche Webrahmen heute sogar bei den alten Adyginnen zu einer Rarität geworden. - Wie die Abchasen sind auch die weit über hunderttausend Adygen ein autochthones nordwestkaukasisches Volk, von dem es verbürgt aber erst seit dem 10. Jahrhundert Kunde gibt. Auch die Adygen ("Menschen der Lichtung") wurden von Byzanz christianisiert, unterworfen jedoch wurden sie von den Mongolen. Seit dem 16. Jahrhundert zählte ihr Gebiet zum Machtbereich des osmanischen Reiches und der Krimtataren, unter deren Einfluss sie, oftmals auch als Tscherkessen bezeichnet, islamisch wurden; die Gläubigen sind heute sunnitische Moslems. Das Adygeische gehört zu den nordwestkaukasischen Sprachen, es ist auffällig stark gewürzt mit Sprichwörtern und phraseologischen Wendungen.

Diesen bisher unveröffentlichten Text habe ich geschrieben, als ich für das Bibliographische Institut in Leipzig von 1986 bis 1991 ein Sprichwörterbuch von fünfzig Völkern der (ehemaligen) Sowjetunion erarbeitete, das wegen des Zerfalls der Sowjetunion nicht mehr erschienen ist.

 

 

Als Journalistin der Illustrierten FREIE WELT – die als Russistin ihre Diplomarbeit über russische Sprichwörter geschrieben hat - habe ich auf allen meinen Reportagereisen in die Sowjetunion jahrzehntelang auch Sprichwörter der dort ansässigen Völker gesammelt - von den Völkern selbst,  von einschlägigen Wissenschaftlern und Ethnographen, aus Büchern ... - bei einem vierwöchigen Aufenthalt in Moskau saß ich Tag für Tag in der Leninbibliothek. So ist von mir erschienen: 

* Aus Tränen baut man keinen Turm, ein kaukasischer Spruchbeutel, Weisheiten der Adygen, Dagestaner und Osseten, Eulenspiegel Verlag Berlin in zwei Auflagen (1983 und 1985), von mir aus dem Russischen übersetzt und herausgegeben, illustriert von Wolfgang Würfel; die Interlinearübersetzung aus dem Adygejischen nahm Leonid Chapatchew vor.

Der Adygejer Leonid Chapatchew - als unser Beitrag über die Adygen  innerhalb der Völkerschaftsserie in Heft 1/1978 in der FREIEN WELT erschien, als Dolmetscher in Grimmen tätig -  spielte in unserer Redaktion "Fortuna", indem er aus 50 429 Einsendungen die Gewinner unseres

Adygien-Preisrätsels zog. Wir sind bis auf den heutigen Tag - da ich diese Zeilen schreibe haben wir den 26. Januar 2014  - also seit 36 Jahren - befreundet. Leonid Chapatschew stammt aus dem Dorf Oktjabrski, gelegen direkt am Ufer des Stausses, in dem wir die "fliegenden Fische" angelten.

Foto aus: Rellers Völkerschafts-Archiv

* Dein Freund ist dein Spiegel, ein Sprichwörter-Büchlein mit 111 Sprichwörtern der Adygen, Dagestaner Kalmyken, Karakalpaken, Karelier, Osseten, Tschuktschen und Tuwiner, von mir gesammelt und zusammengestellt, mit einer Vorbemerkung und ethnographischen Zwischentexten versehen, die Illustrationen stammen von Karl Fischer, die Gestaltung von Horst Wustrau, Herausgeber ist die Redaktion FREIE WELT, Berlin 1986.

 * Liebe auf Russisch, ein in Leder gebundenes Mini-Bändchen im Schuber mit Sprichwörtern zum Thema „Liebe“, Buchverlag Der Morgen, Berlin 1990, von mir (nach einer Interlinearübersetzung von Gertraud Ettrich) in Sprichwortform gebracht, herausgegeben und mit einem Nachwort versehen, illustriert von Annette Fritzsch.

Ich bin, wie man sieht, gut damit gefahren, es mit diesem turkmenischen Sprichwort zu halten: Hast du Verstand, folge ihm; hast du keinen, gibt`s ja noch die Sprichwörter.

 

Hier fünfzig adygejische Sprichwörter:

 

(Bisher Unveröffentlicht)

 

Lobe das Alte, nimm das Neue.

Tue, was der Alte sagt und iss, was der Junge zubereitet.

So klein der Ameisenhügel auch ist, er bringt eine Arba* zum Umstürzen.

Ist der Anführer mutig, sind auch die Nachfolgenden nicht feige.

Der Arme braucht eine dicke Haut.

Dem Arzt sind alle Lebenden gut Freund.

Ist der Bauch voll, scheint das Brot klitschig.

Wer seine eigene Bedeutung nicht kennt, bleibt ohne Platz im Leben.

Dem Blinden erscheint kein Mond, dem Kinderlosen erklingt kein Kinderlachen.

Besser in jedem Dorf einen Verwandten als ein Dorf voller Verwandter.

Dumm liebt´s bunt.

Ein Dummkopf ist klug – wenn er schweigt.

Vorzügliche Erziehung ist vorzüglicher Reichtum.

Ein Feigling fürchtet sich vor seinem eigenen Rocksaum.

Mach die Frau nicht schlecht, von der du dich nicht trennen kannst.

Ein alter Freund ist kostbar wie altes Silber.

Wer dein Freund nicht ist, dem klage auch nicht dein Kopfweh.

Freundschaften erhalten ist mühsam wie Hirsesamen hüten.

Ist das Futter mager, bleibt das Kälbchen hager.

Als Gast sei bescheiden wie ein Schaf.

Biege die Gerte, bevor sie ein Pfahl geworden ist.

Die Gewohnheiten der Mutter sind Schnittmuster für die Tochter.

Wo keine würdigen Greise, da ist keine achtbare Jugend.

Zeig dem, der dich schlägt, dass auch du Hände hast.

Wo das Herz nicht hinschaut, sieht das Herz auch nichts.

Sage nie, dass dein Hund nicht beißt und dein Pferd nicht lahmt.

Wer unbemerkt bleibt – hüstelt.

Siehst du schon den Kopf des Bären, suche nicht seine Spur.

Die Kuh mit wenig Milch muht am meisten.

Viel Lärm, wenig Gelehrsamkeit.

Der zweite Ehemann ist eine geheftete Naht.

Ein Mann stirbt auch als Mann.

Ein Mädchen, das den ersten Stich macht, ist wie eine Greisin, die es verlernt hat zu nähen.

Gemeinsam zerren neun Mäuse sogar einen Deckel vom Käsefass.

Schnell wird ein Neidhammel zum Unglücksraben.

Wer das Pferd fürchtet, schlägt den Sattel.

Bist du im Recht, bist du stark.

Süße Rede lockt sogar eine Schlange aus ihrer Höhle.

Beim Reichen wird sogar der Hund auf die Weide geführt.

Ein Reicher ist nie ohne Dach.

Ist der Reiter missmutig, macht auch das Pferd keine Freudensprünge.

Ob die Schuhe zu knapp oder die Speise – der Jammer ist der derselbe.

Dem Schwachen – die Schwarten.

Wie Spätzchens Fleisch, so Spätzchens Brühe.

Aus einer Tasse kann man nur ausgießen, was hinein gegossen wurde.

Verstand hat keinen Preis, Erziehung kein Ende.

Zwar sitzt die Wachtel in der Gerste, doch mit dem Herzen ist sie bei der Hirse.

Vertrau dem Wald und auch der dunklen Nacht kein Geheimnis an.

Ist dein Wegbegleiter ein Feigling, leg dich mit keinem Bären an.

Ein zärtlich Wort schmilzt jedes Herz.

 

* Arba – dreirädriger Holzkarren, ohne Nägel zusammengefügt.

 

Interlinearübersetzung aus dem Russischen von Gertraud Ettrich; gesammelt und in Sprichwortform gebracht von Gisela Reller

 

Zitat: "Was vermöchten nicht [tscherkessische/ adygejische] Männer, von denen selbst die Russen eingestehen, daß sie die besten Soldaten zu Pferde und die unerschrockensten Guerillas sind, die keine Niederlage entmuthigen und keine Bestechung bewegen kann, die Unabhängigkeit ihres Vaterlandes zu verraten?"

Karl Koch in: Die kaukasischen Länder und Armenien, 1855

 

Die AdygeN: Für Liebhaber kurzer Texte für Kinder

Von Karelien aus geht unsere Reise nach Südosten. Wir fliegen mit dem Flugzeug bis in den Kaukasus. Die Adygen bewohnen die nordwestliche kaukasische Vorgebirgszone. Bei einer traditionellen adygeischen Hochzeit ist die Braut verschleiert und darf am Festschmaus und den ausgelassenen Feierlichkeiten nicht teilnehmen. So muss sie ihre Bescheidenheit unter Beweis stellten. - Zu einer richtigen Hochzeitsausstattung der Braut gehört unbedingt ein Goldenes Käppchen. Für die Herstellung eines solchen Käppchens benötigt man unter anderem geflochtene goldene Tressen mit Ornamenten, gewebte Borte aus Seidenfäden, Fransen aus Brokatfäden, Saffianleder für das Futter und viel, viel Ausdauer und Geschicklichkeit. So manches Goldene Käppchen ist teurer als eine Kuh. Und eine Burka? Eine Burka ist ein knöchellanger gewalkter Filzüberwurf für den Mann. In einer Burka fühlt man sich wie in einem Haus. Und wenn es in Strömen regnet, man bleibt darin ganz und gar trocken. Zur Hochzeit trägt der Mann manchmal eine weiße Burka, die Burka für den Alltagsgebrauch ist schwarz. Und ein Fes? Das ist das ganz einfache, billige Käppchen des Mannes. Erinnern Euch die unvorteilhaften Tauschgeschäfte des armen Burchen in unserem Märchen - Goldenes Käppchen gegen eine Kuh, eine Kuh gegen eine Burka, eine Burka gegen einen Fes - nicht ein bisschen an das deutsche Märchen "Hans im Glück"? Aber inwiefern auch noch die Liebe zwischen dem armen Burschen und einem lieblichen Mädchen eine Rolle spielt, das erzählt Euch das adygeische Märchen Wie ein Reicher Hab und Gut verlor.

Diesen unveröffentlichten Text habe ich geschrieben, als ich nach der Wende von 1997 bis zum Jahre 2000 zusammen mit Gabriele Kleiner (die die Märchen auswählen und übersetzen sollte) und Gisela Röder (die die Zeichnungen für die Märchen anfertigen sollte) die Idee für ein Märchenbuch der Völker Russlands „Die listige Füchsin und der kleine, dicke Samowar“ (Arbeitstitel) konzipierte.

 

 

So sollte unser Märchenbuch von 70 Völkern Russlands aussehen. Bei allen Zeichnungen sollten die Märchenhelden zum Beispiel nicht mit Phantasie-Kleidung ausgestattet sein, sondern Schnitt und Stickereien sollten - wie bei unserer Füchsin - dem Original entsprechen.

Gestaltung: Horst Wustrau

 

Ich zitiere aus unserem Exposé: „Allgemein bekannt ist, dass es sich sowohl beim zaristischen russischen Reich als auch bei der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken (UdSSR) um einen ausgeprägten Vielvölkerstaat handelte. Meist unbeachtet bleibt, dass nach dem Zerfall der UdSSR die Russische Föderation – die sich von Europa bis in den Fernen Osten erstreckt – ein solcher Vielvölkerstaat geblieben ist, in dem neben den Russen etwa siebzig weitere angestammte Völker leben. Diese Völker sprechen die unterschiedlichsten Sprachen, gehören den unterschiedlichsten Religionen an, haben jeweils ihre eigene Geschichte, ihre spezifischen Sitten und Bräuche. (…) Noch immer fehlen leicht verständliche Publikationen, aus denen man Näheres über Herkunft, Bevölkerungsanzahl, Siedlungsgebiete, Sprache, Religion… der verschiedenen Nationalitäten erfahren kann. Für Kinder gibt es keinerlei Literatur, die einen umfassenden kindgerechten Einblick in die ethnische Vielgestaltigkeit Russlands vermittelt. Auch in den Schulbüchern fehlen hierzu entsprechende Texte. Die in den letzten hundertfünfzig Jahren im deutschen Sprachraum publizierten Märchensammlungen der Völker Russlands bzw. der Sowjetunion wiederholen sich in der Auswahl, greifen immer wieder auf dieselben Quellen zurück und sind in ihrer Zusammenstellung – was die einzelnen Völkerschafts-Märchen betrifft – mehr zufällig als systematisch und nie umfassend zusammengestellt. In keiner Märchensammlung gibt es außer der namentlichen Nennung des Volkes weiterführende Hinweise zu diesen Völkern – weder geographische noch ethnographische oder historische. – Auf dieser Erkenntnis – der jahrelange Recherche u. a. in den großen staatlichen Bibliotheken Russlands vorausgegangen ist – basiert unsere Idee, ein exklusives Märchenbuch der Völker Russlands mit faktenreichen kindgerecht geschriebenen Einführungstexten zu allen Völkern der Russischen Föderation herauszugeben. (…) – Zu den Herausgeberinnen: Gisela Reller ist Russistin, Buchautorin und Fachjournalistin für alle GUS-Staaten und deren Völker. Sie hat – als Reporterin der Illustrierten FREIE WELT - seit 1964 bis in die Gegenwart weit über hundert Reisen in alle Gebiete der ehemaligen Sowjetunion unternommen und verfügt über ein sehr umfangreiches und vielseitiges Völkerschafts-Archiv. – Gabriele Kleiner – ebenfalls Reporterin der Illustrierten FREIE WELT – ist Russistin, Übersetzerin und Journalistin mit Schwerpunkt Ost- und Südosteuropa, sie hat drei Jahre lang in Moskau gelebt und kennt die GUS-Staaten darüber hinaus ebenfalls durch viele Reportagereisen. – Gisela Röder hat für eine Märchenserie in der FREIEN WELT farbige großformatige Zeichnungen beigesteuert. Sie hat nach Vorlagen (Ornamente, Trachten, typische Gebrauchsgegenstände, Schmuck…) aus dem Spezialarchiv von Gisela Reller für das jeweilige Märchen ethnographisch exakte, abwechslungsreiche und unverwechselbare Zeichnungen angefertigt. Jedem Märchen sollte ein kurzer kindgerechter Text (für 6 bis 12jährige) vorangestellt werden, in dem die Kinder mit dem Finger auf der Landkarte von Moskau aus durch die Russische Föderation reisen: durch das europäische Russland, den Nordkaukasus, Westsibirien, Südsibirien, den hohen Norden, den Fernen Osten. Ist es nicht interessant, dass bei den Mordwinen ein guter Märchenerzähler genauso viel Achtung genossen hat wie ein geschickter Jäger oder ein starker Holzfäller? Dass einer der sowjetischen Kosmonauten der Tschuwasche Andrijan Nikolajew war? Dass die Nordosseten an Gott, die Tschuktschen an Geister, die Tschetschenen an Allah, die Burjaten an Buddha glauben? Dass bei den Mari erst Märchen erzählt werden durften, wenn alle Arbeit des Tages getan war? Dass von den ganz dicht beieinander lebenden Völkern des Wolga-Kama-Gebietes drei Völker eine finno-ugrische Sprache und drei Völker eine Turksprache sprechen? Dass die tschuwaschische Braut ihrem Bräutigam ein Hochzeitstüchlein sticken musste, das im Muster ganz und gar einmalig war? (…)“ - Nachdem wir uns erfolglos mit 26 Verlagen in Verbindung gesetzt hatten, gaben wir auf!

 

  

 Das adygeische Märchen Wie ein Reicher sein Hab und Gut verlor

*

einmal blieb ein armer Bursche ohne Vater und Mutter auf der Welt zurück. Das Vermögen, das er von ihnen geerbt hatte, verteilte er an die Einwohner seines Auls*. Nur sechs Schafe behielt er für sich. Als er die Schafe auf die Weide trieb, begegnete ihm ein Fremder. Der Fremde bat den Burschen: "Bitte überlass mir deine Schafe." Der gutherzige Bursche überließ ihm seine Schafe und wollte sich auf dem Heimweg machen, doch der Fremde hielt ihn zurück: "Warte!", rief er, "ich will dir für deine Güte einen Rat geben. Da dir nun nichts mehr geblieben ist, musst du dir ein treues Eheweib suchen, dann wirst du herrlich und in Frieden leben. Begib dich also auf Freiersfüße. Im Nachbaraul habe ich ein passendes Mädchen für dich gesehen." - "Sollte solch eine Blume einen armen Wicht wie mich denn zum Manne nehmen?", gab der Bursche zurück. "Das soll deine Sorge nicht sein", erwiderte der Fremde, "mach dich nur auf den Weg und wirb um sie." - Der Bursche begab sich also in den Nachbaraul, warb um jenes Mädchen, die wirklich seine Frau wurde. Er brachte sie in sein Haus, in dem es nichts weiter gab, als kahle, nackte Wände. Da nahm sein junges Eheweib ihr Goldenes Käppchen von ihrem Haar und sprach: "Geh, und verkauf es und erwirb uns eine Kuh." Doch ihr Mann weigerte sich. "Ich schäme mich vor den Menschen", sagte er, "sie werden mich verhöhnen: "Gerade erst hat er geheiratet, und schon läuft er auf den Basar und bietet das Goldene Käppchen seiner Liebsten feil!" Die junge Frau aber beharrte auf ihre Bitte. So begab sich denn der Jüngling auf den Basar, verkaufte das Goldene Käppchen und erwarb eine Kuh. Wie er nun die Kuh nach Hause trieb, begegnete er wieder einem Fremden. Dieser forderte ihn auf: "Lass uns tauschen! Du gibst mir deine Kuh, und ich gebe dir dafür meine Burka**." - "Abgemacht", willigte der junge Ehemann ein. Er gab dem Fremden die Kuh, nahm dessen Burka und machte sich auf den Heimweg. Da traf er zum dritten Mal einen Mann, dessen Namen er nicht kannte, und dessen Gesicht er noch nie zuvor gesehen hatte. "Komm", rief der Unbekannte, "ich gebe dir meinen Fes***, und du gibst mir deine Burka!" So geschah es. Der junge Ehemann setzte sich den Fes auf und wanderte weiter. Er lief und lief und gelangte endlich an einen Fluss. Und da die Sonne gar zu heiß brannte, beschloss der Jüngling, sich in dem klaren, kalten Wasser des Flusses zu erfrischen. Er legte seine Kleider ab, legte den Fest auf einen Stein und stieg in den Fluss. Plötzlich aber erhob sich ein starker Wind, ergriff den Fes und trug ihn auf Nimmerwiedersehen davon. Niedergeschlagen und traurig entschloss sich der Bursche endlich, zu seiner jungen Frau heimzukehren. Da kam er an dem Haus eines Reichen vorbei. Dieser ruhte im Schatten eines Baumes und rief ihm aus Langeweile zu: "Komm in mein Haus und sei mein Gast!" Der Bursche nahm die Einladung an und erzählte sein Missgeschick. Wie er ein gutes Mädchen gefreit, wie dieses ihm vorschlug, ihr Goldenes Käppchen zu verkaufen, wie er für das Geld eine Kuh erworben hatte, wie er die Kuh gegen eine Burka eingetauscht und die Burka gegen einen Fes, und wie der Wind den Fes davontrug. - "Was wird denn nun deine Frau dazu sagen? Wahrscheinlich wird sie dich tüchtig verprügeln", überlegte der Reiche. - "Nein, sie wird mich ganz gewiss nicht verprügeln", erwiderte der Jüngling. Da klatschte sich der Reiche vor Lachen auf den Bauch, rief zwei Zeugen herbei und sprach in deren Gegenwart: "Wenn es so geschieht, wie der hier behauptet, und sein Weib ihn nicht prügelt für das, was er angestellt hat, überlasse ich den beiden meinen ganzen Reichtum. Sollte ihn seine Frau jedoch gehörig durchwalken, so werden dieser Bursche und sein Weib bis ins Ende ihrer Tage ohne Lohn für mich arbeiten!" Der Jüngling nahm die Bedingungen an, und zu viert machten sie sich auf den Weg. An der Hütte des Burschen angelangt, empfing ihn dessen Frau voller Freude. Er fasste sich ein Herz und begann zu berichten, was ihm widerfahren war. "Ich habe dein Goldenes Käppchen verkauft und dafür eine Kuh erstanden." - "Das ist sehr gut", freute sich seine Frau. "- "Die Kuh aber habe ich gegen eine Burka eingetauscht." - "Das hast du fein gemacht",  sprach sie, "ich mag es, wenn eine Mann eine Burka trägt." - "Die Burka jedoch habe ich für einen Fes fortgegeben, den aber hat der Wind fort geweht", beichtete ihr junger Ehemann zerknirscht. - Da sprang sein junges Weib auf, lief zu ihrem Mann, umarmte ihn und rief: "Wie gut, dass du nach allem, was dir widerfahren ist, lebendig und gesund zu mir zurückgekehrt bist!" - Als der Reiche dies vernahm, begann er zu jammern und zu wehklagen, musste er doch - um nicht ehrlos zu erscheinen - zu seinem Wort stehen und nun zusammen mit seinem Weib Haus und Hof den Rücken kehren und sein ganzes Hab und Gut dem armen Burschen überlassen.

 

 * Aul = kaukasisches Bergdorf / ** Burka = knöchellanger gewalkter Filzüberwurf / *** Fes = ein einfaches, billiges Käppchen.

*

 Ausgewählt – mit dem Anspruch auf deutsche Buch-Erstveröffentlichung – und aus dem Russischen übersetzt von Gabriele Kleiner

 

Als Reporterin der Illustrierten FREIE WELT bereiste ich 1976 ADYGIEN. In meinem Buch „Zwischen Weißem Meer und Baikalsee“, 207 Seiten, mit zahlreichen Fotos von Heinz Krüger und ethnographischen Zeichnungen von Karl-Heinz Döhring, 1981 im Verlag Neues Leben, Berlin, erschienen, habe ich über die Burjaten, ADYGEN und Karelier geschrieben.

 

                

 

 

       

In Adygien: Gisela Reller (Textreporterin aus Berlin) hoch zu Ross, Heinz Krüger (Bildreporter aus Falkensee) bei den Bienen, Johann Warkentin  (Reisebegleiter, Dolmetscher, Übersetzer, Nachdichter aus Moskau) mit chinesischem Graskarpfen.

 Fotos: Heinz Krüger

 

 

Maikop – das Apfelbaumtal (LESEPROBE aus: "Zwischen Weißem Meer und Baikalsee")

 

„In Burjatien, wohin uns unsere `Völkerschaftsreise´ ein Jahr zuvor geführt hatte, war alles so weit so weit, und in Adygien ist alles so nah. So klein Adygien auch ist (Burjatien ist fast 45mal größer), ein Besucher hat unzählige Grenzen zu passieren. Seien es Gebietsgrenzen oder Rayongrenzen, Stadtgrenzen oder Aul-(Dorf)-Grenzen, unweigerlich heißt es: `Halt!´ und unerbittliche adygeische Gastgeber entfalten ein gar emsig Treiben und ein weißes Riesentuch. Ganz gleich, ob sich besagte Grenze auf der Chaussee oder im Waldesdickicht, neben Eisenbahngleisen oder unter Hochspannungsleitungen befindet, immer wieder kann man gespannt sein, was adygeische Gastgeber aus Körben, Kisten, Kannen, Krügen Schmackhaftes zu Tuche fördern. Und wenn sich dein Magen längst im Dauerstreik befinden sollte – du langst dennoch zu!

Aber beginnen wir auch bei dem kleinen Volk der Adygen da, wo alles anfing – bei unserer Ankunft.

Im Hotel `Adygeja´, wo wir um zwei Uhr nachts eingezogen sind, ertönt morgens um sechs Uhr bereits der Wecker. Aus dem Hotelfenster erblicke ich Adygiens Hauptstadt Maikop erstmals bei Tageslicht: Das Souvenirgeschäft genau gegenüber entzieht sich meinen neugierigen Blicken durch eine allzu breite Verkehrsstraße. Ringsum Häuser städtischen Typs, ein Lebensmittelgeschäft mit zwei großen Schaufenstern, Blumenfrauen inmitten schier unbeschreiblich großer Blütenberge. Ins geöffnete Zimmer steigt der Duft frischgebackenen Brotes, ein durchaus köstlicher Morgenduft. Eben noch sonnenüberstrahlt wird Maikops Himmel urplötzlich grau, dann schwarz: Es gießt in Strömen. Zu spät wird mir klar, dass ein Regenschirm als Reiseutensil sinnvoller gewesen wäre als Lockenwickler. Nach diesem Erkenntnisprozess klingelt das Telefon. Am Apparat Kirimise Shane, der uns heute Nacht vom Flughafen in Krasnodar mit dem Auto abgeholt hatte. „Gisela, sind Sie`s?´ -`Ich bin´s.´ - `Gisela, in Adygien gibt es einen Brauch. Wenn Gäste Regen mitbringen, sagt man ihnen Dank. Es gibt dann eine gute Ernte. Also: Alle meine Freunde danken Ihnen. Außerdem soll ich ihnen vom Ersten Sekretär des Gebietsparteikomitees ausrichten, dass er soeben alle Schritte unternommen hat, die Sonne wieder zum Strahlen zu veranlassen. Und nun, Beeilung, bitte, das Frühstück wartet!´

Bevor ich mich beeilen kann, klopft´s. Vor meiner Tür: Blumen. Nicht etwa in einer zierlichen Vase, sondern in einem Kübel, der mir alle Kräfte abverlangt, ihn ins Zimmer zu bugsieren. Ich luge - noch wenig stadtfein – nach links zur Tür meines Moskauer Reisebegleiters Johann Warkentin und nach rechts zum Entree meines Falkenseer Bildreporters Heinz Krüger – hier wie dort dieselbe bunte Pracht.

Zum ersten adygeischen Frühstück erwarten uns Kirimise Shane, der Sekretär des Adygeischen Schriftstellerverbandes, und Batyrbi Schekultirow. Kirimise Shane `Ich bin für alles zuständig, was sie bewegt. Sei es, dass Sie partout in einen Betrieb hinwollen, der gerade eine Havarie hat, sei es, dass Ihnen unser Käse nicht schmeckt, Ihnen das Bett zu hart, eine Information zu dünn ist. Und der hier, der Lange, ein bisschen Zurückhaltende, ist der Pressechef des Gebietsparteikomitees.´

Und dann geht´s ans Frühstück. Alle unsere Beteuerungen, dass wir wahr und wahrhaftig nur einen Magen haben, werden vom Hoteldirektor mit den Worten hinweg gefegt, ein Tisch ohne Essen sei nur ein kahles Brett. Dem einen von uns mundet der fünfsternige Kognak am meisten, dem anderen die herrlich frische Smetana oder die kinderkopfgroßen Tomaten; mir der Maisbrei mit Tschetlibsh. Hier das Rezept: Man zerlege ein junges Hühnchen, schneide zwei große Zwiebeln klein, füge roten Pfeffer hinzu - als Ersatz: Tomatenketchup - und gemahlenen Dill, brate alles in 200 Gramm Butterschmalz. In diese Masse gebe man die Geflügelteilchen, rühre gut durch und verschließe fest den Topf. Nun lasse man das Hühnerfleisch zehn Minuten schmoren, würze dann mit Salz und sehr viel Knoblauch. Jetzt gebe man etwa ein Liter Wasser hinzu und lasse alles bis zum Verdampfen kochen. Fertig ist Tschetlibsh, das mit den Fingern gegessen wird!

Die Adygen zerlegen ein Huhn entsprechend seinem anatomischen Bau stets in zwölf bis fünfzehn Teile. Für den jüngsten Tischgast beispielsweise ist der Hals bestimmt, der Ehrengast bekommt die Flügel. Nach Meinung der Adygen sind die Flügel die schmackhaftesten und magersten Stücke. Außerdem aber haben sie auch symbolische Bedeutung. Mögen auch dem Gast Flügel wachsen, ihn zu neuen Taten beflügeln. Die Wurzeln dieses Gedankens gehen tief in die Jahrhunderte zurück, als die fernen Vorfahren der Adygen ihre Herkunft noch vom Adler herleiteten - dem Symbol der Kraft, der Freiheit, der Sonne und des Glücks.

Knoblauch- und auch sonst gesättigt, besichtigen wir Maikop, adygeisch: Maekuape – Apfelbaumtal. Das Stadtwappen zeigt einen dreiblättrigen Apfelbaumzweig und die Hörner zweier Stiere – Sinnbild der Friedfertigkeit, Arbeitsliebe und reicher Ernteerträge. Während der kaukasischen Kriege 1857 als russische Festung und Truppenstützpunkt gegründet, ist Maikop heute Verwaltungszentrum Adygiens. Hier wurde 1891 während seiner `Wanderungen durch Rußland´ Maxim Gorki verhaftet; hier wurde der Plan des adygeischen Oktoberaufstandes ausgearbeitet; hier hat Denikin mit seinen Weißgardisten gewütet, hier ist Budjonny mit seiner 1. Reiterarmee durchgezogen, und hier haben Faschisten grausam gebrandschatzt und gemordet.

Maikop wurde in der Welt bekannt durch den 1897 untersuchten 10,65 Meter hohen Kurgan von Maikop. Bei diesem Hügelgrab mit Baldachin handelt es sich um die reichste Bestattungsstätte der nordkaukasischen Frühbronzezeit. Als Beigaben fanden sich Kupfer- und Bronzegegenstände, getriebene Gefäße aus Edelmetallen, ein Golddiadem, zahlreiche Schmuckstücke, unter anderem viele (geheiligte) Stierfiguren; die Funde weisen auf Beziehungen zu Klein- und Vorderasien hin.

Mit ihren schnurgeraden Straßen, wo man - und seien sie noch so lang - ungehindert von einem Ende zum anderen blicken kann (ein Paradies für Autofahrer), mutet Maikop heute trotz Hochhäusern und flottem Autoverkehr gemütlich an, nicht weniger grün wie das für seine Parks und Anlagen berühmte ukrainische Kiew, mit dem Silberband der Belaja nicht weniger romantisch wie das georgische Tbilissi mit seiner Kura.

Trotzdem glaube nur niemand, dass Maikop einen Dornröschenschlag schläft. Außerordentlich stark entwickelt sind hier die Nahrungs- und Genussmittelindustrie (Fleisch- und Molkereierzeugnisse, Tabakwaren, Liköre, Branntweine...) und die Holzverarbeitungsindustrie. Allein vier Millionen Stühle kommen jährlich aus Maikop. Es gibt ein Zellulose- und Pappekombinat, Maschinenbaubetriebe, Betriebe für die Metallverarbeitung, und schließlich ist Maikop Verkehrsknotenpunkt: An der Belaja befindet sich das Maikoper Wasserkraftwerk, in der Umgebung Maikops werden Erdöl und Erdgas gefördert, von hier aus führt die Gasleitung nach Rostow am Don.

Unübersehbar, dass es sich bei dem heutigen Tag um einen ersten September handelt: Schulanfang auch in Adygien. Anstelle der Schultüten genau so umfängliche Blumensträuße. Die Jungen in langer oder kurzer dunkelblauer oder schwarzer Hose, weißem Hemd und dunkelblauer oder schwarzer Weste; alle Mädchen in dunkelbraunen Kleidern, jedes geschmückt mit individuellem Spitzenschürzchen und kunstvoll geschlungenen Zopf- oder Haarschleifchen. Batyrbi Schekultirow, mit von der Parie bei meiner inoffizíellen Stadtbesichtigung, öffnet mir anthropologisch die Augen. Er lehrt mich, die kleinen adygeischen Schulanfänger von den anderen in Maikop beheimateten einundvierzig Nationalitäten zu unterscheiden. Verbirgt sich hinter weißem Spitzenschürzchen und unter pastellfarbenen Seidenschleifchen eine Adygin, so ist sie garantiert schwarzhaarig, braunäugig, ovalen braunhäutigen Gesichts, mit leicht gebogener Nase; bei den meisten ahnt man schon das zukünftige schöne Weib. Ich erinnere mich gut, gelesen zu haben, wie sehr Puschkin von seinen Freunden wegen seiner schönen adygeischen Geliebten beneidet wurde.

Batyrba Schekultirow, der Pressechef des Gebietsparteikomitees, ist ein studierter Historiker. Bewegt von dem Optimismus, den die vielen kleinen Schulanfänger (700 sind es in diesem Jahr in Maikop) ausstrahlen, fasst er - `der Lange, ein wenig Zurückhaltende´ - beschwörend meine Hände. `Hätte es keine Revolution gegeben, würden Sie keinem Adygen mehr ins Angesicht sehen können. Archivdokumente geben uns die Gewissheit, dass das vorrevolutionäre Russland unser Volk ausrotten wollte.´

Schon vor der Zeitrechnung bewohnten die Vorfahren der Adygen die Ufer des Asowschen und des Schwarzen Meeres. Sie sind eine der ältesten Völkerschaften des Nordkaukasus. Im 13. und 14. Jahrhundert schlossen sich die verwandten Stämme - Abadsechen, Bshedugen, Temirgojewer, Natuchajewer, Schapsugen,  Shanejewer, Beslenejewer - zu einer Völkerschaft zusammen. Von dem Zeitpunkt an gaben sie sich den gemeinsamen Namen Adygen. Die zaristische Nomenklatur jedoch bezeichnete später sowohl die Adygen als auch die Abchasen, Kabardiner und Tscherkessen ohne Rücksicht auf ethnographische Besonderheiten als "Schwarzmeer-Tscherkessen". Der Zarismus versuchte auf diese Weise seine Ausrottungspläne zu verschleiern, denn wo keine Adygen sind, können auch keine ausgerottet werden. Gab es zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch zweieinhalb Millionen Adygen, so waren sie bereits einhundert Jahre später bis auf einen kleinen Stamm dezimiert; die letzte Volkszählung von 1979 wies bereits wieder 107 000 Adygen aus.

Auf die Frage, woher der Name Adygien (adygeisch: Adygej) stammte, antwortet Batyrbi: `Die Grundlage bildet `adyge´, das als Lichtung, Menschen der Lichtung, Menschen, die auf der Lichtung leben, etymologisch erklärt wird. Was das `j´ betrifft, so zeigt es die Zugehörigkeit oder Besitzanzeige an. Insgesamt bedeutet `Adygej´ wörtlich übersetzt: `Lichtung der Adygen´.´

Der aus der Familie eines verarmten adygeischen Adligen stammende Aufklärer Schora Nogmow träumte vor mehr als hundert Jahren von einer Zeit, in der `... in der Seele des rauen Bergbewohners ein wunderbares Gefühl erwachen würde, die Liebe nach Wissen, die Liebe zum Erkennen... Oh, wie unglaublich schön, wenn wir uns dem Buch, dem Schreiben zuwenden könnten...´

Als ich den Namen Schora Nogmow erwähne, nickt Batyrbi - nur mühsam wird er seiner Erinnerung Herr - zufrieden. `Ja, wie unglaublich glücklich wäre Schora Nogmow heute; denn in den allgemeinbildenden Schulen werden gegenwärtig fast einhunderttausend Schüler unterrichtet, vor der Revolution waren es 682. Es gibt in Maikop Spezialschulen mit 5 800 Studierenden - für Autostraßenbau, für die holzverarbeitende Industrie, für die Landwirtschaft, für die medizinische Ausbildung, für Musik und Tanz. Außerdem existieren ein Pädagogisches Hochschulinstitut mit mehr als viertausend Studenten, ein Forschungsinstitut für Sprache, Literatur, Ökonomie und Geschichte, ein historisches Heimatforschungsmuseum, 168 Bibliotheken, 171 Klubeinrichtungen und zwei Gebietszeitungen: die erste seit 1922 in russischer, die zweite seit 1926 in adygeischer Sprache.´

Für die Schulanfänger mit Aktentaschen voller Schulbücher in russischer und adygeischer Sprache werden die vorrevolutionären Tatsachen Geschichtsfakten sein, die es sich einzuprägen gilt.

Inzwischen haben wir das städtische Maikop hinter uns gelassen, kleine ländliche Häuser haben es abgelöst. Jedes ist von einem kleinen Garten umgeben, voller Reben grünen und blauen Weins. Vor den meisten Häuschen eine Bank, auf der die Alten ihr Schwätzchen machen; augenfällig schon gleich die sprichwörtliche kaukasische Langlebigkeit.

Ich schnuppere auch hier den mir schon vertrauten Brotgeruch und fühle, dass es mir in Maikop gefallen könnte."

 

 

Es muss nicht immer Zobel sein… (LESEPROBE aus: "Zwischen Weißem Meer und Baikalsee")

 

“Nach dem adygeischen Motto `Was man bei gutem Wetter nicht findet, sucht man im Regen erst recht vergeblich´ wird unser Plan umgestellt. Pädagogisches Hochschulinstitut hin, Drehmaschinenwerk und Möbelfabrik her, schließlich befinden wir uns in der kaukasischen Vorgebirgszone, und da pflegt die Sonne wetterwendisch zu sein. Ab geht´s also nach Guseripl, dem kaukasischen Naturschutzgebiet. Was für eine Autofahrt! Nicht nur die Einheimischen preisen dieses Gebiet als Adygeische Schweiz. Bereits nach sieben Autominuten öffnet sich die Landschaft wie ein Zaubertor: bewaldete Hügel, in der Ferne die hohe Kaukasuskette; der Autofahrer wird auf ein Gefälle von zehn Prozent aufmerksam gemacht. Und dann das Rauschen der Belaja, das an Stellen, wo sie die Kalkfelsen bis zu hundert Meter ausgewaschen hat, zum Brausen von Sturzbächen wird.

Wildromantisch ist es hier, erhaben und mächtig die Natur. Wie unerbittlich Menschen sein können, erzählt uns Iwan Chutorzow, der Direktor des Naturschutzgebietes, der – Planänderung – flugs nach Maikop gekommen war, ums uns abzuholen. `Früher´, sagt er, ´ in der Zeit der kaukasischen Kriege, wurden diejenigen, die nach den grausamen Kämpfen als feige gemeldet wurden, gefesselt und in diese Schluchten gestürzt.´

Iwan Chutorzow ist Russe. Als er hört, dass wir in Burjatien waren, umarmt er uns stürmisch. `Oh, mein Burjatien!´ schwärmt er. `Ich habe dort über zehn Jahre in der Forstwirtschaft gearbeitet. Ich finde unser Land so schön, dass ich nicht weiß, wo ich am liebsten leben möchte.´

Die Häuschen mit Dächern aus Holzschindeln werden immer spärlicher, das Gefälle beträgt jetzt zwölf Prozent; wir befinden uns fünfhundertdreißig Meter über dem Meeresspiegel. Vorbei an Eichen, Buchen, Fischten, Birken und Ahorn sind wir höher und höher hinaufgeklettert und schließlich bei den roten Granitfelsen angelangt. Die letzte menschliche Ansiedlung befindet sich sechshundertzwanzig Meter über dem Meeresspiegel. Hier oben ist auch die sibirische Lärche heimisch, die dreimal im Jahr ihr Nadelkleid wechselt. Ach, könnte doch auch unsereins dreimal im Jahr aus seiner Haut!

Und dann sind wir nach etwa zehn Kilometern im Kaukasischen Naturschutzgebiet, gelegen an den Nord- und Südhängen der Hauptkette des Großen Kaukasus, zwischen Sotschi und Maikop.

Mehr als die Hälfte des Kaukasischen Naturschutzgebietes befindet sich auf adygeischem Territorium. Hier erfreuen sich neunundfünfzig Säugetierarten, einhundertzweiundneunzig Vorgelarten, einige endemisch, also nur hier heimisch, ihres Lebens. Darunter sind: der Kaukasische Steinbock (mit besonderen Hufen, um die steinigen Geröllhalden zu erklimmen), der Kaukasische Birkhahn (dessen Balz geräuschlos vor sich geht), der Kaukasische Ular (ein `Königshuhn´ von drei Kilogramm Gewicht), die äußerst giftige ziegelrote Kaukasusotter.

Was im Bargusiner Naturschutzgebiet in Burjatien der Zobel, ist in Adygiens Naturschutzgebiet Guseripl der Wisent. Noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts waren Wisente hier weit verbreitet – bis der Mensch ihr Reich besiedelte; der letzte Wisentbulle wurde 1927 durch einen Wilddieb getötet.

Der kaukasische Wisent war ausgestorben!

1940 wurden aus einem ausländischen Naturschutzgebiet fünf Bisonwisente eingeführt, Bastarde polnischer Wisente und des amerikanischen Bisons. Später holte man reinblütige Wisente und Nachkommen des kaukasischen Wisents hierher, einst als Kälbchen aus dem Kaukasus in einen europäischen Zoo ausgeführt. Nach Meinung der Zootechniker ist es den Mitarbeitern des Naturschutzgebietes gelungen, eine Wisentherde mit einer sehr geringen Beimischung von Bisonblut zu züchten. Man zählt gegenwärtig neunhundert Tiere, davon 54 Prozent Wisentkühe und 46 Prozent Wisentstiere. Ganz nebenbei gesagt: Die Leittiere der Herde sind weiblichen Geschlechts. Von August bis September vereinen sich die Tierherden auf den höchstgelegenen Hängen, auf die man uns – aus Angst, wir könnten uns die Beine brechen – nicht hinauf lässt. Aus der Traum, dem Riesen der Huftiere einmal Auge in Auge gegenüber zu stehen.

Dafür verweilt man mit uns vor einem anderen Riesen, einem Dolmen. Ein eigenartig schauerliches Gefühl, vor so einem Großsteingrab zu stehen. Während der Jungsteinzeit waren diese Gräber in West- und Nordeuropa, in Nordafrika, Vorderasien und im Kaukasus verbreitet. Allein auf adygeischem Territorium wurden bis jetzt vierhundert Dolmen entdeckt. Die rechteckige Grabkammer wird von gewaltigen senkrechten unbehauenen Trägersteinen mit einem darüberliegenden großen Deckstein gebildet. Das Gewicht des Decksteins, vor dem wir stehen, wird von Archäologen auf zwölf Tonnen geschätzt. Die Frage, wie die Menschen jener Zeit solche Gewichte transportierten, ist bis heute ungeklärt. Aus den Funden – Beile, Lanzenspitzen, Dolche, Messer, Bernsteinperlen, durchbohrte, aufgereihte Tierzähne, mit feinen Ornamenten verzierte Tongefäße – ist zu schließen, dass die Gräber für Fürsten und deren Familien errichtet wurden. Durch ein kleines Loch in der vorderen gewaltigen Steinplatte sollen Opfergaben für die Geister gereicht worden sein.

Aus dem Hochgebirge mit seinen Dreitausendern geht´s über die Touristentation `Kawkas´, wo wir zur Kaukasischen (rotgepunkteten) Forelle geladen sind – wieder zurück ins Vorgebirge. Von hier aus führen dreißig Wanderrouten in alle Himmelsrichtungen, die weiteste bis ans Schwarze Meer (etwa zweihundert Kilometer). Ramasan Britschew, Leiter der Touristenstation, erzählt uns, dass sich in dieser schönen Gegend schon Vertreter aller Völkerschaften erholten. `Nur´, so sagt er, `die Jugend Adygiens, die ist hier rar. Sie verbringt ihren Urlaub in Sibirien, im hohen Norden oder am Kaspischen Meer.´

Weiter geht´s mit zwei Stunden Planverzug zur Jugendtouristenstation `Romantika´. (Der Kaukasischen Forelle hatten sich noch unzählige andere kulinarische Genüsse hinzugesellt.)

Auf der Fahrt dorthin stürmen plötzlich in malerischer Landschaft, auf schmaler Chaussee – ein Entrinnen ist unmöglich! – vier verwegene Reiter auf unsere Wagen zu: in Tscherkessenuniform, mit Dolchen und Patronentaschen ausgerüstet, wild anzusehen. Bevor unsere Wagen noch richtig zum Stehen kommen, stürzt sich Bildreporter Heinz Krüger schon den herangaloppierenden Hufen entgegen.

So ein Zufall! Diese Aufnahme! Wie könnte er sich die entgehen lassen!

Spätabends am Lagerfeuer – man kann sich nicht einigen, ob wir nun kaltblütig oder gutgläubig sind – erzählt man uns die Vorgeschichte dieses `Zufalls´. Da wir Verspätung hatten, wurde eine vor uns angekommene Wagenkolonne, die man versehentlich als die unsrige angesehen hatte, genauso geplant stürmisch empfangen. Eine Wageninsassin war daraufhin nur schwer aus ihrer tiefen Ohnmacht zu befreien gewesen. Sie, eine Russin aus Leningrad, hatte an einen Überfall geglaubt. Woran unschwer zu erkennen ist, dass wilde Reiter in Tscherkessentracht eine rare Tourismusattraktion sind.

 

 

Wilde Reiter in Tscherkessen-Uniform: Empfangs"komitee" der Touristenstation "Romantika".

Foto: Heinz Krüger

 

Zur Touristenstation `Romantika´ gehört das ehemalige `Michailowsker transkubanische Kloster´. Bis 1917 wurden hier in dunklen Nächten außerehelich geborene Säuglinge zum Ertränken gebracht.

Die Alten wissen von ungezählten Weibertränen zu berichten...

Das vom Zerfall bedrohte Kloster wird gegenwärtig zu Bar und Tanzsaal (für vierhundert Personen) umgebaut. Mit Berghütten, 55 Reitpferden und Seilbahnen für Skiläufer (Gesamtinvestition: fünf Millionen Rubel) soll hier eine Touristenstation entstehen, wie sie im Buche steht. Mich lockt eine kleine Kostprobe, und ich bitte Kim Kisdermischew, den Vorsitzenden des Gebietsrats für Touristik, reiten zu dürfen. Seine Frage, ob ich es denn könne, lasse ich vorsichtshalber unbeantwortet. Kirimise Shane, der versprochen hatte, jeden unserer Wünsche zu erfüllen, gibt Weisung, die Pferde zu satteln!

Für mich wird `Rosie´ ausgewählt, eine besonders folgsame, nicht mehr ganz junge, temperamentarme Trakehnerstute. Bald sitzen alle – ob Pressechef oder Direktor der `Romantika´, ob Johann Warkentin, unser Betreuer aus Moskau (aufgewachsen auf einem Dorf) oder Kim Kisdermischew – fest im Sattel. Mein Abstand zu ihnen wird immer größer, dieweil `Rosie´ auch fürderhin lustlos dahintrabt. Mich ärgert das, und ich gebe ihr `Zuckerbrot und Peitsche´, lies: liebe Wort und einen Hackenstoß. Erstaunt wendet sie den Kopf und… stürmt los, dass die Gruppe vor mir nur so auseinanderstiebt.

Ich finde es faszinierend Berge und Bäume auf mich zukommen zu sehen, und habe das erste Mal eine Vorstellung, davon wie einem Menschen zumute sein müsste, könnte er fliegen. Ganz anderer Auffassung sind Pressechef Batyrbi und verantwortlicher Touristikboss. Vor lauter Aufregung überschreien sie sich gegenseitig. Aber `Rosie´ und ich sind nicht zu bremsen. Doch nicht lange währt unser ausgelassenes Vergnügen, dann greift Jockey Kasbek entschlossen in die Zügel und packt vorsichtshalber auch gleich mich, um meine entschieden mehr als einhundert Pfund in wildem Ritt sanft auf sein Pferd zu heben. (Gleichberechtigung hin, Emanzipation her – wie wonnig war wohl in grauer Vorzeit eine Entführung durch den Heißbegehrten!)“

 

 

Der Mann mit dem gütigsten Herzen (LESEPROBE aus: "Zwischen Weißem Meer und Baikalsee")

„Von Kirimise Shane selbst wissen wir nur, dass er älter als sechzig ist, Sekretär des Schriftstellerverbandes, viele Jahre Journalist war und – dichtet: Besonders hat es mir sein Gedicht Eine kleine Hand angetan: 

Eine kleine Hand, so sanft und weiß, / hatte flüchtig meine Hand berührt - / und was Freude heißt, was Sehnsucht heißt, / hab ich da zum ersten Mal gespürt. // Seit der Zeit lieg nächtelang ich wach, / reiche keinem mehr die Hand; / wurde öfters dafür ausgelacht, / Spott hat scharfe Augen, wie bekannt. // Seit der Zeit so manch ein Tag verstrich, / meine Sehnsucht aber glüht nicht aus, / und als wär´s ein Vöglein, trage ich / jene zarte Wärme in der Faust. //

Nachgedichtet von Johann Warkentin 

 

Wann immer ein Kraftfahrer das Autoradio einstellt, auf einer längeren Wegstrecke ertönen garantiert vertonte Gedichte von Kirimise Shane. Einmal hörten wir den Komponisten Umar Tschabissimow sagen: `Über zwanzig Gedichte von Kirimise Shane habe ich vertont, und mit jedem Gedicht wird er mir vertrauter und lieber.´

Uns auch. Im Schowgenowsker Rayon erfahren wir so ganz nebenbei, dass er Deputierter des Obersten Sowjets ist; im Hotel `Psekups´ hören wir zufällig in den Morgennachrichten, dass er, Vorsitzender des Friedenskomitees in Adygien, mit Gold geehrt wurde. Kirimise Shane beeindruckt uns immer wieder durch seine unaufdringliche Gefälligkeit (Er verschafft uns Zutritt ins Allerheiligste einer Entbindungsanstalt, in die nicht einmal die Väter hineindürfen, und holt eigens für uns das berühmte adygeische Tanzensemble von einer Gastspielreise nach Maikop zurück…), durch sein gütiges, alles verstehendes Lächeln, seinen unverwüstlichen Frohsinn, seine schier unglaubliche Beliebtheit bei jung und alt. Er ist der beliebteste Kinderbuchautor, der beliebteste Dichter und – ganz einfach `der Mann mit dem gütigsten Herzen´. Als ich ihn wieder einmal fasziniert mustere, sagt er unvermittelt:

`Tja, fotogen ist anders! Vor Jahren hat es da mal einen schweren Verkehrsunfall gegeben.´

Bei unserer ersten Begegnung auf dem Flughafen in Krasnodar erschreckte mich noch seine entstellte Gesichtshälfte, später sah ich die Narben nicht mehr; sein Wesen überstrahlte alles. Später, auf dem Rückflug von Krasnodar nach Moskau, erzählt uns Johann Warkentin:

`Batyrbi hat mich über Kirimises `Verkehrsunfall´ aufgeklärt. Ich bat Kirimise, euch davon erzählen zu dürfen. Doch er verbot es mir kategorisch. `Nichts von damals soll unser Zusammensein belasten.´ Das  galt dem Dolmetscher. Jetzt, denke ich, ist dieses Tabu außer Kraft. Kirimise Shane wurde als Panzersoldat im Großen Vaterländischen Krieg verwundet. Unter seinen Gedichten fand ich diese Zeilen:

 

Jäh ein Stoß! Berstend bäumte sich, kreischte der Stahl, / furchtbar traf mich ein gleißender, glühender Strahl - / ein Granatsplitter schlug mir ins nackte Gesicht, / in das rechte Auge, löschte donnernd sein Licht… // ´“

Nachgedichtet von Johann Warkentin 

 

 

Hochzeit auf adygeisch (LESEPROBE aus: "Zwischen Weißem Meer und Baikalsee")

 

"Eines steht fest: eine adygeische Hochzeit ist keine Familienfeier. Eine adygeische Hochzeit ist ein gesellschaftliches Ereignis. Als wir im Aul [Dorf] Kabechabl eintreffen, wird gerade dem dreiunddreißigsten Huhn und dem achtundzwanzigsten Hammel das Lebenslicht ausgeblasen. Zart besaitet darfst du nicht sein; denn rubinrotes Blut fließt in Strömen, und das verängstigte Blöken und Gackern übertönt das fidele Geschrei der mindestens einhundert Kinder, die Harmonika des Kolchosvorsitzenden und die Luftgewehrschüsse, die - traditionsgemäß - böse Geister vertreiben sollen. Jeder Tierkopf wird zur Schlachtung gen Süden gerichtet - nach altislamischem Glauben eine glückverheißende Himmelsrichtung. Lass dir nur ja nicht einfallen, die Schale noch waren Hammelblutes abzulehnen, deine Gastgeber wären tödlich beleidigt.

Ich nutze die erste unbeobachtete Sekunde und stürze mich ins Festgetümmel. An drei etwa fünfzig Meter langen Hochzeitstafeln - keine einzige ein kahles Brett! - sitzen Verwandte, Freunde, nahezu alle Einwohner des Auls Kabechabl und ungezählte Gäste aus den Nachbarauls. Bekanntlich gibt es untrügliche Kennzeichen, ein Weib von einem Mann zu unterschieden. In Adygien entdecke ich ein zusätzliches: Ein Berauschter ist immer ein Mann.

Zu einer adygeischen Hochzeit wird niemand geladen. Es kommt, wer will. Und alle, alle wollen. Es versteht sich von selbst, dass eine adygeische Hochzeit nur im Sommer stattfinden kann, wo die Gärten zu großen Festsälen werden.

Abseits vom Leckern und Bechern flackern Flammen, über denen die Schaschlykspieße brutzeln; glühen Sommerherde, auf denen in monumentalen Töpfen die eben noch munteren Hühner und Hammel brodeln; der große Lehmbackofen, kein kulturgeschichtliches Denkmal, wie meinen allzu progressiven Archivunterlagen zu entnehmen war, ist durchaus noch unter Feuer.

Viele der Jungen sind in adygeischen Trachten erschienen. Im Saj, dem Fest- und Brautkleid, die jungen Mädchen; im Zyj, den Tscherkessenrock, die jungen Männer, die auch die berühmten Saffianstiefel ohne Absatz tragen.

Seit mehr als tausend Jahren sind die Adyginnen im ganzen Kaukasus anerkannte Meisterinnen der Goldstickkunst. Sie besticken Täschchen, Fächer, Kissenbezüge, Kleidungsstücke für Mann und Weib. Auch die Braut von heute wird noch danach beurteilt, was sie auf diesem Gebiet vorzuweisen hat. Fast jede Schöne trägt hier ein `goldenes Käppchen´. Zu dessen Anfertigung gehören das Flechten breiter silberner oder goldener Tressen mit Ornamenten, das Weben von Musterborte aus Seidenfäden; das Herstellen von Fransen aus Brokatfäden; die Vorbereitung von Saffianleder für das Futter. Kunstgerecht zusammengesetzt, können die Käppchen nach mindestens sechzig Arbeitsstunden endlich aufgesetzt werden.

Soeben tritt der Chatijako in Aktion - der Ordner adygeischen Hochzeitstrubels. Dazu wird auserkoren, wer über eine hervorragende Rednergabe, über Humor und über Gerechtigkeitssinn verfügt. Der Chatijako hat große Rechte, seine Befehle sind ohne Widerrede auszuführen. Er tritt im Namen aller Anwesenden auf, stachelt mit Scherzen und geistreichen Bemerkungen die ehrwürdigen Alten an, bewahrt die fröhliche Atmosphäre, hält den einen oder anderen zum Narren, ohne jedoch irgend jemanden zu beleidigen.

Der Tanz wird nach altadygeischer Sitte von einem Verwandten des Bräutigams eröffnet. Batyrbi flüstert mir zu: `Dort, das zweite Tanzpaar: Die junge Frau ist mit der Braut verwandt. Noch vor wenigen Jahren hätte niemand daran zu denken gewagt, dass eine Verwandte der Braut sich ungestraft so unbescheiden benehmen dürfe.´

Jetzt spielen die Musikanten einen Sagotljat, zu dem sich einige der Gäste im Kreis aufstellen und den Takt klatschen. Andere Gäste tanzen in diesem Kreis. Ob alt, ob jung, ob in Nationaltrachten oder in moderner Kleidung, die Frauen schweben graziös mit winzigen Schrittchen dahin - auf Fußspitzen (!) von ihren Tanzpartnern umworben.

Wo aber ist die Braut?

Ich finde sie in einem winzigen Raum. Nur auserwählte Personen weiblichen Geschlechts haben zu Nagmets Brautkämmerlein Zutritt. An Nagmet, der neunzehnjährigen Verkäuferin, zupfen fünf festlich gekleidete Freundinnen herum.

Der Beredsamkeit des Chatijako gelingt es, der Schwiegermutter - alles spielt sich im Haus der Schwiegereltern der Braut ab - ein Foto von der Tür aus abzuschwatzen; Heinz Krügers Anliegen, die Schwelle zu übertreten, wird als absolut ungehöriges Ansinnen abgelehnt. (Einzig und allein bei einer Hochzeit versagt die ansonsten ins Gigantische gehende adygeische Gastfreundschaft.)

Und wo ist der Bräutigam?

Der lässt es sich fernab von allem Trubel bei einem Freund wohl sein, wo er nach altadygeischer Sitte seit zwei Monaten wohnt. Von dem Tag an nämlich, da seine Auserwählte ins Haus der Schwiegereltern eingeführt wurde, um von der Schwiegermutter auf Herz und Fingerfertigkeit geprüft zu werden. Noch heute muss die Schwiegertochter nicht nur vollendet weben, nähen und sticken können... Auch die Kochkunst muss sie beherrschen und nach allen Regeln der Kunst die Gäste bewirten. Nichts beschämender, als wenn der Gast unzufrieden ein adygeisches Haus verließe!

Der Lärm kann in Garten und Hof nun lauter nicht mehr werden. Harmonikas, Schitschepschtschins und Rasseln, Böllerschüsse, Chorgesänge. (`... Dreihundert Jahre Freude für die Täubchenschönheit, deren Gesicht weißer ist als eine zarte Schneeflocke, deren schwere Zöpfe schwärzer sind als schwarz, ihre Augenbrauen wie Schwalben im Flug, schöner noch ist sie, schön wie ein Damhirsch - und gewandt bei der Arbeit...´)

Die Braut wird aus dem Haus geführt. Verschleiert. Außer ihren Freundinnen hat sie hier unverschleiert bisher niemand zu Gesicht bekommen. Mit ihrem Schwiegervater durfte sie in all den Wochen kein einziges Wort wechseln, musste ihm grundsätzlich aus dem Wege gehen - so schreibt es der Braut das ungeschriebene Keuchheitsgesetz vor. Früher durfte die Schwiegertochter in ihrem ganzen Leben kein einziges Wort mit dem Vater ihres Mannes sprechen. Heute ist dieses Verbot auf die zwei Monate vor der Hochzeit beschränkt.

 

 

Hochzeit auf adygeisch: Nagmet verschleiert und ohne Bräutigam...

Foto: Heinz Krüger

 

Im Nu verteilen sich jetzt alle Gäste auf die bereit stehenden Wolgas, Moskwitschs und Minibusse. Die verschleierte Braut besteigt einen weißen Wolga, der mit Luftballons, Schleifen und einem Püppchen geschmückt ist.

Altadygeischer Brauch hin, altadygeischer Brauch her, heute kommt um die offizielle Registrierung auf dem Standesamt keiner mehr herum. Und dorthin fahren wir nun. Jeder unserer Fahrer könnte sich auf jedweder internationalen Rallye sehen lassen... Als ich behutsam andeute, dass die Herren am Steuer wohl dem Alkohol zu wenig abhold gewesen seien, schüttelt Batyrbi entschieden den Kopf. `Früher war eine Hochzeit mit vielerlei Reiterkunststückchen verbunden. Heute ist das Geschicklichkeitsfahren an deren Stelle getreten.´

Die Autos bäumen sich auf auf wie wilde Pferd, erheben sich auf die Hinterräder, drehen sich im Kreise, schlagen bald nach rechts, bald nach links aus und beherrschen auch den Passgang - den Schaukelgang mancher Säugetiere - vollendet; statt des Schnaubens wilder Rosse ein Hupkonzert der Pferdestärken.

Eine Straßensperre bringt die Wagenkolonne zum Stehen. Ich fürchte fürs junge Paar; denn der Miliz scheint es wohl doch zu bunt geworden zu sein. Doch wir befinden uns lediglich vor dem Haus, in dem der Bräutigam sein vorübergehendes Domizil gefunden hat. Geschwind werden aus Kotflügeln Festtafeln; man trinkt eisgekühlten Wodka und nagt an Hühnerkeulen.

Der Bräutigam erscheint: in schwarzem Anzug, mit Krawatte und weißem Hemd. Wieder eine Neuerung, so hören wir. In Nationaltracht heiratet nur noch die Braut. Sultan, der dreiundzwanzigjährige Busfahrer, steigt nun seiner Braut in den weißen Wolga nach.

Die Zeremonie auf dem Standesamt unterscheidet sich kaum von der im Berliner Rathaus in Pankow. Sie ist sowieso nur reine Formsache; denn die Hochzeit war ritusgemäß bereits drei Monate zuvor, als er des Nachts heimlich zu ihr ins Kämmerlein stieg... Ungewöhnlich nur die vielen Menschen, der viele Sekt, das Tänzchen des jungen Ehepaares im `Registrierzimmer´ und der Wunsch der Standesbeamtin, die Jungvermählten mögen so viele Kinder kriegen, wie sich Körner an einem Maiskolben befinden. (Der Kolben, den ich anderntags nachzähle, hat 241 Körner!) Obligatorisch sind Ringe und das Jawort beider Partner.

Vom Standesamt aus geht die Fahrt zur Gedenkstätte für die Opfer des Großen Vaterländischen Krieges. Wer hätte gedacht, dass eine eben noch derart ausgelassene Gesellschaft so einmütig in stillem Gedenken verharren könnte. Batyrbi kommentiert das so: `Froh und dankbar ein jeder, dass die Zeit wieder gut ist für so ausgelassene Feste.´

Von nun an bekommen wir den Bräutigam nicht mehr zu Gesicht. Er geht zurück in sein `Gefängnis´, seine Hochzeit feiern seine Gäste. So will es der Brauch.

Nur die engsten Familienangehörigen begleiten die Braut ins Haus der Großmutter. Hier - im Stammhaus der Sippe - wuchs Sultan, der Älteste, auf. Bei einigen Völkern ist es Tradition, dass der Erstgeborene von der Großmutter aufgezogen wird. (Bei den Karakalpaken in Mittelasien wurden sogar die ersten beiden Kinder der Großmutter `geschenkt´.) Alle Pflichten dieses Hauswesens werden von morgen an auf Nagmets Schultern ruhen.

Bis zum heutigen Tage durfte Nagmet diese Schwelle nicht übertreten. Nun schreitet sie auf einem ausgebreiteten roten Teppich und übersteigt die Schwelle ihres zukünftigen Hausfrauenreichs unbedingt zuerst mit dem rechten Fuß. Was jetzt geschieht, empfinde ich als den bewegendsten Augenblick dieses bewegenden Tages. Nagmet - sofort nach der Standesamtzeremonie war wieder der Schleier über ihr Gesicht gefallen - steht schüchtern in der äußersten Ecke des Zimmers. Mit schlurfenden Altfrauenschritten geht Sultans Großmutter auf sie zu. Einige Sekunden lang betrachtet sie Nagmets Gestalt. Keinerlei innere Bewegung ist ihr anzusehen. Dann hebt sie behutsam den Schleier. Zwei Frauen schauen einander in die Augen - ihr Altersunterschied beträgt wohl an die sechzig Jahre. Da ist das von zarter Schamröte überhauchte Gesicht der jungen Frau - zweiundzwanzig Augenpaare folgen diesem Zeremoniell. Und da ist das beherrschte Gesicht der Gebieterin dieses Hauses. Sekundenlang blickt die Großmutter Nagmet forschend in die Augen. Dann streicheln die rauen, gekrümmten Finger das nun vor Aufregung schneeweiße Gesicht. Augenblicke später umschließt sie es mit beiden Händen, küsst Nagmet auf die Stirn, auf beide Wangen und (unüblicherweise) auch auf den Mund. Nagmet gefällt der Großmutter. Das Gefühl haben wohl auch all die anderen, denn wie auf ein Stichwort erklingt die Harmonika des Kolchosvorsitzenden und rasseln die Rasseln des Vorsitzenden des Dorfsowjets. Wer jetzt tanzen will, wirft eine Münze (oder auch einen Schein) auf die Erde. Spenden für die Braut, der Rubel rollt...

Nach etwa dreißig Minuten begibt man sich hinaus, wieder zum Gelage bei den Schwiegereltern. Hier verkriecht sich die Braut sofort in ihr Kämmerlein. Ihre Hochzeit feiern ihre Gäste. So will es der Brauch.

Aber nicht nur Braut und Bräutigam, die in unseren Breiten doch die Hauptrollen spielen, sind bei der Feier abwesend, sondern auch die Brauteltern. Auch ihnen, und sollten sie gleich im Haus nebenan wohnen, ist es untersagt, an der Hochzeit der Tochter teilzunehmen. Bis zu vier Monate nach der Hochzeit haben sie kein Recht, auch nur ein Sterbenswörtchen von sich hören zu lassen. Unbeeinflusst von ihren Eltern soll sich das Töchterlein an ihre Pflichten als Ehe- und Hausfrau gewöhnen, sie gehört jetzt ganz der Familie des Mannes.

Andere Länder, andere Sitten! Als Mutter eines Mädchens wollen mir die adygeischen Hochzeitsgepflogenheiten gar nicht behagen. Als ich meinen Unmut gedämpft äußere, lacht Batyrbi und sagt: `In vier Monaten werden sich Jubel, Trubel, Heiterkeit noch einmal wiederholen - bei den Eltern der Braut!´"

 

 

Das Wasser rauscht, das Wasser schwoll...  (LESEPROBE aus: "Zwischen Weißem Meer und Baikalsee")

 

"Heute fahren wir hundertsiebzig Kilometer weit. Unser Ziel ist das Dorf Sups im Teutscheshsker Rayon. Direktor Aslan Tschundyschko, einer der vielen des Sowchos `Oktjabrskoje´, die zum herzlichen Empfang angetreten sind, meint, wenn es uns recht sei, möchte er uns erst einmal zu einer Motorbootfahrt und dann zu Ist- und Planziffern einlanden. Die Fische, die wir während unserer Fahrt fangen, möchten wir doch liebenswürdigerweise zum Mittagsmahl mitbringen. Ohne jedwede Angelutensilien besteigen wir, leicht verunsichert, die bereitstehenden Motorboote.

Und dann..., dann beginnt ein Schauspiel, das ich mein Lebtag nicht vergessen werde: Drei Motorboote kreisen mit Blitzgeschwindigkeit auf dem etwa 850 Hektar großen Krasnodarer Stausee, dass uns Hören und Sehen (und erst recht eventuelles Angeln) vergeht. Nach wenigen Minuten schießen rings um uns meterhoch armlange chinesische Amure (Graskarpfen) aus dem Wasser, um dann wieder pfeilgeschwind ins aufgewühlte Meer zurückzutauchen. Nicht alle plumpsen zurück ins Meer. Obwohl ich mir alle Mühe gebe, in Deckung zu gehen, hopst mir ein ganz verwegener geradewegs in den Blusenausschnitt. Er bringt später gute vierzehn Pfund auf die Waage! Vier weitere Amure doppelten Gewichts landen im Boot, einer davon in meiner geöffneten Handtasche. Die mir direkt in den Schoß fallen, werfe ich (ich gestehe es beschämt) mit lautem Aufschrei zurück ins Meer.

Als wir uns alle wieder am Ufer treffen, haben wir zusammen sechzehn Fische gefangen. Ferner registrieren wir einen leicht verwundeten Johann Warkentin, dem eine Schanzflosse einen `Streifschuss´ versetzt hat, einen zutiefst unglücklichen Heinz Krüger, der fürchtet, dass ihm kein `Schuss´ gelungen ist, und eine an allen Gliedern zitternde Gisela Reller, übersät mit `duftenden´ Schuppen, die sich an dem Material ihrer Kleidung besonders wohl zu fühlen scheinen.

Nun ist es an Aslan Tschundyschko, leicht verunsichert zu sein. Er bittet uns um Verzeihung und gesteht, dass seine Attraktion noch nie so gut gelungen sei. Anna Puschtschinskaja, Parteisekretär des Kolchos, gibt stille Anweisung, und Aslan Schantys, Komsomolsekretär, entschlüpft, um mit `Lichtgeschwindigkeit´ und einem Fläschchen zurückzukommen. Wir nehmen einen kräftigen Schluck von dem Mitgebrachten und sagen, wie es Kinder tun, wenn sie sich von ihrem Schreck erholt haben: `Noch einmal. Bitte noch einmal.´

Direktor Tschundyschko, überglücklich, dass es uns dennoch gefallen hat, stößt wie Rumpelstielzchen den rechten Fuß in die Erde und - lässt die Motoren wieder anwerfen...

 

 

"Fliegende" chinesische Graskarpfen auf dem Krasnodarer Stausee.

Foto: Heinz Krüger

 

Nach so ausgelassenem Vergnügen, meint Direktor Tschundyschko später, bäte er uns nun, aufmerksam seinen Ist- und Planziffern zu lauschen. "Der Sowchos", so berichtet er, "erstrecke sich auf einem Boden, der bisher nicht für landwirtschaftliche Kulturen genutzt wurde. Wo früher Wälder waren, befindet sich heute die Talsperre `Oktjabrskoje´. Der gleichnamige Sowchos, 1964 bis 1966 entstanden, hat viele Aufgaben, eine davon: die Bevölkerung des Rayons mit Frischfisch zu versorgen. Der Sowchos hat auch einen Fischzuchtanteil mit sechzehn Wachstumsbehältern. Die Produktion beträgt 45 Millionen Stück jährlich. Aus der Fischproduktion erhält der Sowchos einen Erlös von siebenhunderttausend Rubeln. Die Devise für die Zukunft lautet: Von der Fischbrut bis zum Räucherfisch. Das Gelände des Krasnodarer Störzuchtbetriebes umfasst 902 Hektar, der bilanzierte Wert beläuft sich auf 14,7 Millionen Rubel. Der Betrieb besteht aus zwei Teilen: aus dem Störzuchtteil (mit einer jährlichen Produktion von zwölf Millionen Stück Sternhausen, Hausen und Stör, 1 500 Zentnern junger Störbrut) und dem Abschnitt für Karpfenfische (mit einer Jahresproduktion von 140 Millionen Stück Fischbrut von Zährte und Schemaja; Zuchtergebnis - 1 650 Zentner). Die Brut wird in die Teiche überführt, bei natürlicher Nahrung erreicht sie in zwanzig bis dreißig Tagen das geplante Gewicht von zwei bis zweieinhalb Gramm das Stück."

Nach einer Erholungspause für sich und uns fährt Aslan Tschundyschko fort: "Die Jungfische werden mit Kuttern ins Asowsche Meer ausgesetzt. 1977 wuchsen 28 Millionen Stück Zährten und Schemaja heran. `Na´, meint Direktor Tschundyschko zufrieden, `diese Zahlen können Sie sich getrost auf der Zunge zergehen lassen.´

Tief beeindruckt von den vielen Millionen Fischen, die sich nun in unseren Hirnen tummeln, lassen wir uns dennoch lieber das Mittagsmahl, vor allem den roten und schwarzen Kaviar auf der Zunge zergehen. Aber auch hier schließt sich gleich eine Lektion an.

`Der schwarze Kaviar´, erfahren wir, `das sind die Eier, der Rogen, von Störarten. Die größte Störart, der Beluga, erreicht seine Geschlechtsreife erst mit achtzehn bis zwanzig Jahren. Der rote Kaviar stammt vom Keta-Lachs.´

Wir wollen nun aber doch wissen, was denn die chinesischen Amure bewogen hat, sich vor uns so artistisch zu gebärden. Als Antwort hören wir, dass die Graskarpfen gewöhnlich in Schwärmen vorkommen und mit großer Geschwindigkeit schwimmen. In unserem Falle habe das Geräusch des Motorbootes - es breitet sich im Wasser über große Entfernung aus - bei den Fischen den Instinkt der Selbsterhaltung angeregt. Deshalb der Sprung aus dem Wasser - sie haben wohl nach dem Rechten sehen wollen."

 

 

Der Reis liebt´s heiß  (LESEPROBE aus: "Zwischen Weißem Meer und Baikalsee")

 

"Am 10. April 1968 war in der `Presse der Sowjetunion´ zu lesen gewesen: `In der Region Krasnodar begannen Komsomolzen mit dem Bau des ersten Hauses einer neuen Stadt, die den Namen Adygeisk erhalten soll. Bereits im Herbst dieses Jahres werden die ersten Bewohner von ihrer Stadt Besitz ergreifen können. Insgesamt entstehen hier 1 072 Wohnhäuser und entsprechende Nachfolgeeinrichtungen. Adygeisk soll zum Zentrum eines Rayons werden.´

Die Geschichte der Stadt begann, als am 1. März 1968 die ersten Erbauer der neuen Stadt einzogen. Wir trafen etwa ein Jahrzehnt später dort ein, und man kann sich kaum vorstellen, was alles in dieser Zeit erbaut worden war. Allerdings heißt Adygeisk nicht mehr Adygeisk, sondern wurde - gleichzeitig mit der Verleihung des Stadtrechts durch den Obersten Sowjet der RSFSR am 27. Juli 1976 - in Teutscheshsk umbenannt. Teutscheshsk ist äußerst günstig gelegen: am Westrand verläuft die Autobahn Krasnodar-Sotschi, am Nordhang die asphaltierte Straße Tuapse-Maikop; im Norden liegt das Krasnodarer Meer, am Südwestrand der Stadt führt eine Eisenbahnlinie entlang. Natürlich ist hier alles modern: Den Entwurf der Häuser übernahm das Krasnodarer Projektierungsbüro, das im ganzen land einen wohlklingenden Namen hat. Dennoch kamen viele der Bewohner nicht gerade begeistert hierher. Wir unterhalten uns darüber mit Chasret Schartan, dem Vorsitzenden des Stadtsowjets.

Er erzählt uns:

`Wir waren von dem Wunsch beseelt, dass alle Einwohner freiwillig in diese Stadt ziehen mögen. Die jungen Leute waren sofort dazu bereit, aber bei manchen älteren Menschen hat es jahrelanger Überzeugungsarbeit bedurft. Doch fangen wir von vorn an. Es mussten zweiundzwanzig Auls umgesiedelt werden, weil diese der Krasnodarer Talsperre wegen - sie ist lebenswichtig für die ganze Region - überflutet werden mussten. 1967, nach dem Ministerratsbeschluss zur Schaffung dieses Stausees, begannen wir mit unserer Überzeugungsarbeit und zwar bei dreitausend Familien, das waren zwölftausend Menschen! 1968 fingen die Bauarbeiten an, und am 29. September 1969 bezogen die ersten Bewohner in ihre neuen Wohnungen. Dann siedelten wir jährlich ein bis zwei Dörfer um, 1974 war die Übersiedlung beendet. Damit tatsächlich alle freiwillig umzogen, mussten wir einen Kompromiss eingehen. Für diejenigen, die sich nicht entschließen konnten, in Häusern städtischen Typs zu wohnen, wurden kleine Eigenheime gebaut - etwa zweihundert Stück.

Es wohnen jetzt schon mehr Menschen in Teutscheshsk, als ursprünglich umzusiedeln waren. Es sind Bauarbeiter, die sich mit ihren Familien häuslich bei uns niederließen, Komsomolzen, die bei uns ihre große Liebe fanden, und auch schon Bewohner aus anderen Auls, die das Stadtleben reizt.´

Über den zweitgrößten Rayon des autonomen Adygiens gewährt uns Mugdin Salichowitsch Tlechas, Erster Sekretär des Rayonkomitees der KPdSU, das folgende Interview.

Auf wen ist der Name Ihres Rayons zurückzuführen?

Auf Zug Teutschesh, einen Aschugen, wie bei uns die Volkssänger heißen. 1855 geboren, prophezeite er in seinen Liedern ein großes Wunder, nach dem ein lichtes Leben kommen würde. Das Wunder kam...

Bitte erzählen Sie von Ihrem Rayon.

Er hat 88 000 Einwohner, davon etwa 70 Prozent Adygen. Ansonsten leben mit uns  Russen, Ukrainer, Armenier, Belorussen, Deutsche, Georgier... Unsere ackerbauliche Nutzfläche beträgt 118 000 Hektar.

Was bauen Sie an?

Weizen, Gerste, Gemüse, Mais, Sonnenblumen, Reis, Tabak, Futterkulturen...

Tabak? Welche Fläche nutzen Sie dafür?

900 Hektar. Warum fragen sie ausgerechnet danach?

Weil bis nach Berlin die Nachricht gedrungen ist, dass in der Region Krasnodar bald nur noch Nichtraucher leben werden. Rauchen Sie?

In unserer Region haben sich alle leitenden Mitarbeiter verpflichtet, nicht zu rauchen. Vorbildwirkung sozusagen.

Rauchen SIE?

Herrje - ja!

Nun denn vom giftigen Nikotin zum nahrhaften Reis.

Mit dem Reisanbau wurde auf adygeischem Boden bereits in den dreißiger Jahren begonnen - auf etwa 60 Hektar Boden. Aber es wurde nichts daraus. Nun haben wir vor zehn Jahren wieder damit angefangen. Sie wissen ja, dass wir in Adygien bereits einige Staubecken haben: das Tschiker und das Schapsuger Staubecken zum Beispiel. Inzwischen ist das größte künstliche Meer des Nordkaukasus hinzugekommen: der Krasnodarer Stausee mit einer Wassermenge von 3,2 Milliarden Kubikmetern. Er dient hauptsächlich zur Berieselung der Reisfelder. Wir bauen Reis auf nahezu 10 000 Hektar an. Der Reis, eine Kulturpflanze wie der Tabak, hat so seine Tücken...

Wie der Tabak...?

Die Tücken des Reises sind anderer Art. Er ist sehr arbeitsaufwendig. Vierzehn Tage lang muss das Wasser zentimeterweise von den Feldern abgezogen werden, und genau am fünfzehnten Tag beginnt die Ernte. Der Reis braucht so viel Liebe und Zärtlichkeit wie eine Frau. Vielleicht haben ihn unsere Reisbauern gerade deshalb so ins Herz geschlossen.

Von der Liebe allein kann man nicht leben - wie viel verdienen denn Ihre Reisbauern?

150 Rubel im Monat, und am Jahresende erhalten sie eine ganz schöne Prämie.

Deshalb fahren hier so viele Autos herum...?

Gegenwärtig sind fast 4 000 Personenkraftwagen und etwa 8 000 Motorräder Privatbesitz. In unserem Kreis gibt es keine Familie ohne Fernseher, Kühlschrank, Waschmaschine.

Wie steht´s denn in Ihren Rayon mit der Volkswirtschaft?

Bei uns gibt es ein Werk für feuerfeste Ziegel, eine Weinfabrik, ein Werk für Eisenbetonteile, eine Zuchtanstalt für Störe, die wie unser Reis auf den Krasnodarer Stausee angewiesen ist. Sie wissen sicherlich schon, dass der führende Industriezweig Adygiens die Nahrungsmittelindustrie ist; sie beträgt 37 Prozent der Bruttoproduktion. Für eine neue Wasserkläranlage unserer Konservenfabrik - 135 Millionen Dosen jährlich - wurden gerade 28 Millionen Rubel bewilligt; denn grüne Erbsen beispielsweise wollen zwanzigmal gewaschen werden. Außerdem versorgen wir in unserem Rayon 34 000 Rinder, 9 000 Milchkühe, 30 000 Schafe, 5 500 Schweine, 250 000 Stück Geflügel. Sie wissen doch, wir Adygen essen am liebsten morgens, mittags, abends Hühnchen - geschmort, gekocht, gebraten.

Bitte erzählen Sie etwas über sich selbst.

Meine Biographie ist die von Millionen: 1941 geboren, Abitur, Studium am Kubaner Landwirtschaftlichen Institut, Fachrichtung: Ingenieurökonom der landwirtschaftlichen Produktion, dann Chefökonom im Heimatsowchos, Berufung ins Exekutivkomitee und seit drei Jahren Erster Sekretär des Rayonparteikomitees.

Sie sind verheiratet?

Ja, meine Frau ist Lehrerin für russische Sprache und Literatur in den Oberschulklassen. Und um Ihnen eine Frage zu ersparen: Ich habe einen Sohn, er heißt Ruslan. Sie wollen heute noch zurück nach Maikop?

Ja, so ist es geplant.

In Adygien bestimmt der Gast seine Anreise. Die Abreise bestimmt der Gastgeber. Sie bleiben!

Wir bleiben!

Obwohl uns auch schon dieser adygeische Brauch bekannt ist: Kommt ein Gast in Haus, so ziemt es sich nicht, ihn nach seinem Begehr zu fragen. Auch Fragen nach dem Woher und Wohin sind unziemlich. Drei Tage lang bestimmt der Gast das Gesprächsthema, sagt über seine Pläne nur, was er zu sagen wünscht. Vom vierten Tag an aber ist er in die Familie aufgenommen. Vorbei ist´s mit seinen Sonderrechten und - Sonderpflichten. Uns hat Kirimise Shane am vierten Tag mit einem Schulterschlag zu Ehrenadygen erklärt. Jetzt verschweigen wir unser Wissen und antworten auf Mugdin Salichowitschs Frage: `Abgemacht?´ - `Abgemacht!´

Gemeinsam planen wir für heute, noch vor dem Dunkelwerden Reis und Mais in Augenschein zu nehmen; zum Abend lädt uns Mugdin Salichowitsch zu Tisch und Tanz. Als wir ihm für morgen eine Schifffahrt auf dem Kuban abgeschwatzt haben, gibt er sich erleichtert. `Die ganze Zeit überlege ich schon´, sagt er, `in welchem Hotel unserer Stadt ich Sie unterbringe. Nun ist´s ja klar: natürlich im `Psekups´, benannt nach einem der Nebenflüsse des Kuban.´ Wie feinsinnig, denken wir gerührt, bis wir erfahren, dass das Hotel `Psekups´ das einzige Hotel der jungen Stadt Teutscheshsk ist...

Zu Füßen des schneegekrönten kaukasischen Recken Elbrus beginnt der Kuban seinen Lauf. In drei Arme geteilt, stürzt er talwärts in die Schluchten. `Drei Gemsen´ heißen die springenden, sich bäumenden Wasser bei den Bergbewohnern. Noch im Gebirge vereinen sich die Quellbäche und bilden den Fluss Kuban, der sich im Norden den Austritt in die Ebene erzwingt - mitgeführte Steine hat er bis dahin zu Sand zermahlen. Ehe er das Mündungsgebiet erreicht, durchzieht er jene von der Natur gesegnete Region, der er den Namen gibt: Kubangebiet. Der Grieche Herodot, der `Vater der Geschichtsschreibung´, sah dieses Land rechts und links des Kuban um 450 v. u. Z. so: `Bis an das Land der Skythen ist das Gelände überall fruchtbar. Von da an aber wird es dürr und steinig. Nach langer Wanderung durch diese öde Heide kommt man in ein Land, wo am Fuße hoher Berge Menschen wohnen, die von Baumfrüchten leben.´

Ja, der Kuban teilt sein Gebiet in zwei fast gleich große, geographisch aber völlig unterschiedliche Teile: in die Schwarzerdesteppe und in ein Gelände, das zu jener steinernen Mauer ansteigt, von der der griechische Orientreisende Herodot berichtet.

Die Adygen, die die Skythen als ihre Vorfahren ansehen, sind Nutznießer des fruchtbaren Schwarzerdegebiets. Die Erde, die wir in Händen halten, ist tatsächlich tiefschwarz, sie zählt zu den fruchtbarsten aller Böden. Bei ausreichender Zufuhr von Düngern und Wasser - wir kennen ja schon das Leistungsvermögen des Krasnodarer Stausees - erbringt dieser Boden stabile Pflanzenerträge bei geringem Aufwand.

(...)

Das Kubangebiet ist die Reiskammer der Sowjetunion. Und der Reis liebt´s nicht nur heiß, sondern auch nass. Ein recht ungewohnt-unangenehmes Gefühl, mitten in einem wogenden Ährenfeld (mindestens zweihundert Körner je Ähre) von lautem Quaken unzähliger Frösche umgeben zu sein. Mit meinen Absatzschuhen versinke ich bis zu den Knöcheln - so schlammig sind die Felder noch einen Tag vor Erntebeginn; der Fuhrpark mit Spezialkombines ist einsatzbereit.

Der Direktor des Sowchos `Der Weg Iljitschs´ überreicht mir nach Besichtigung seiner Felder sozusagen als Ausgleich für den feuchten Spaziergang (der für mich lediglich übliches Reporterungemach darstellt), einen Flakon französischen Parfüms. Er lächelt dazu mit unnachahmlichem Adygencharme.

Vom abendlichen Tisch und Tanz ist mit Alexander Puschkin zu sagen: `Bei den Adygen wird ein Gast zu einer geheiligten Person.´ Diese Metamorphose geschieht bis heute mit jedem Besucher, und mag er noch so sündig sein."

 

 

Das Hohelied vom Kuban (LESEPROBE aus: "Zwischen Weißem Meer und Baikalsee")

 

"Mugdin Salichowitsch Tlechas hat für uns das Schiff  `Skafandr´ gechartert, das uns nun wunschgemäß auf den Wellen des Kuban schaukelt. Die Tscherkessen nannten den Kuban früher Pschtischtsche (Altes Wasser, die Perser Vardanes, den Griechen war er als Hypanes bekannt.) 907 Kilometer ist der Kuban lang. Unter den russischen Riesen Amur (4 352 Kilometer), Lena (4 264 Kilometer), Jenissej ( 3 807 Kilometer), Wolga (3 688 Kilometer) ist er klein, trotz seines Einzugsgebietes von 51 000 Quadratkilometern. Wegen der Stawropoler Platte hat der Kuban fast nur linke Nebenflüsse: Teberda, Großer und Kleiner Selentschuk, Urup, Laba und Belaja - an deren rechtem Ufer Maikop liegt. An manchen Stellen ist der Kuban 23 Meter breit, an anderen bis zu einem Kilometer, schiffbar ist er nur in seinem Unterlauf ab Krasnodar.

Obwohl die Sonne scheint, ist es kühl. Bevor ich noch so richtig durchgefroren bin, legt mir jemand fürsorglich einen ledernen Mantel um die Schultern. Ich drehe mich um. Das Gesicht vor mir um die Sechzig, mit weißem hoch gezwirbeltem Schnurrbart und blauen Augen mit Lachpünktchen. Woher kenne ich bloß diesen Mann?

Er stutzt. `Was finden Sie an mir?´

Es dauert ein Weilchen, dann hab ich´s. Schnauzbärtig und dickbäuchig erinnert er mich an eine Person, die ich auf einem Gemälde gesehen habe. Auf einem Gemälde von Ilja Repin. Der Titel des Bildes fällt mir nicht ein, dafür aber ihm. `Sie meinen die Saporosher verfassen einen Brief an den türkischen Sultan´, stimmt´s?´ Es stimmt. `Gar nicht so schlecht. Ich bin ein waschechter Ukrainer und wahr ist auch, dass einer meiner Vorfahren zu den Saporosher Kosaken gehörte. Von jenem Zeitpunkt an, da die Zarin Katharina die Zweite die Saporosher am Kuban zwangsangesiedelt hat, leben wir hier.´

Ilja Repin, unbestritten einer der größten Porträtisten Russlands, stellte auf seinem Gemälde dar, wie sich kosakische Oberhäupter auf improvisierten Sitzen um einen Schreiber niedergelassen haben. Die Szene spielt im offenen Feldlager, erst Stunden zuvor haben die Kosaken den Truppen des Sultans eine blutige Abfuhr erteilt. Jetzt überbieten sie einander in gepfefferten Beiworten, die ihre Verachtung dem Sultan gegenüber zum Ausdruck bringen sollen. Mit Recht hat man das Bild eine Symphonie des Lachens genannt; denn jeder lacht auf diesem Bild über Situation und Deftigkeit der Ausdrücke auf seine Weise: Der eine schmunzelt verhalten, der andere kichert schadenfroh, ein Dritter lacht lauthals, bei einem Vierten wiederum glaubt man einen zwerchfellerschütternden Bass zu hören. Um dieses Bild zu malen, unternahm Repin einige Studienreisen in das Kubangebiet, wo die Nachfolger der Saporosher leben. In einem Brief an den Kunst- und Musikkritiker Wladimir Stassow schrieb er: `Ich konnte Ihnen bis jetzt nicht antworten. Schuld daran sind die Saporosher - das ist aber auch ein Völkchen. Der Kopf dreht sich einem bei ihrem Lärmen und Singen...´ Das Gemälde ist weltberühmt geworden, nahezu unbekannt blieb der Brief, der  in die Geschichte  als ´Der grobe Brief´  eingegangen ist.

`Du türkischer Schaitan, Bruder und Genosse des verfluchten Teufels und des leibhaftigen Luzifer Sekretär!

Was in Teufels Namen, bist du eigentlich für ein trauriger Ritter? Was der Teufel scheißt, das frisst du samt deinen Scharen, und schwerlich wird es dir glücken, Christensöhne in deine Gewalt zu bekommen.

Dein Heer fürchten wir nicht, werden zu Wasser und zu Land uns mit dir schlagen, du Babylonischer Küchenchef, du Mazedonischer Radmacher, Alexandrinischer Ziegenmetzger, Jerusalemitischer Bierbrauer, Erzsauhalter des großen und des kleinen Ägypten...

Du Armenisches Schwein, du Tatarischer Geißbock, du Henker von Kamenetz und Taschendieb von Podolsk, du Enkel des leibhaftigen Satans und Narr der ganze Welt und Unterwelt, dazu unseres großen Gottes Dummkopf...

Schweineschnauze, Stutenarsch, Metzgerhund, ungetaufter Schädel! Ausdämpfen soll der Teufel deine Frau Mutter, und also, du Unflätiger, antworten dir die Saporoger [Saporosher]! Denn einer Mutter rechtgläubiger Christen bist du nicht würdig.

Da wir keinen Kalender haben, so wissen wir das Datum nicht; der Mond steht am Himmel, das Jahr steht im Buch geschrieben, und der Tag ist der gleiche wie bei euch.

Wofür du uns den Hintern küssen kannst.

Der Lager-Ataman Iwan Syrko mitsamt dem ganzen Lager der Saporoger Kosaken.´

`Die Saporosher´, lärmt mein Seebär auf unserem Schiff, `das waren handfeste Burschen. Auch auf die Urururenkel ist da noch einiges überkommen - hahaha...´

Ich glaube ihm aufs Wort!

Einst hatten die russischen Zaren die Hilfe der Saporosher bereitwillig angenommen. Doch dann waren sie aus gutem Grund bestrebt, die Freiheit der Setsch einzuschränken; die Saporosher Setsch waren um 1550 entstandene, weitgehend selbständige, befestigte Kosakensiedlungen südlich der Stromschnellen des Dnepr; sie stellten auch ein wichtiges Bollwerk im Kampf gegen die Tataren und die polnischen Feudalherren dar. Die Außenpolitik der Zarin Katharina II. hatte die Großmachtrolle Russlands enorm gestärkt. In erfolgreichen Kriegen gegen die Türken (1768 bis 1774; 1787 bis 1792) wurde die Südgrenze Russlands bis zum Schwarzen Meer vorgeschoben (Neurussland) und durch Verträge 1783 die Krim an Russland angegliedert. Bei den Teilungen Polens von 1772, 1793 und 1795 erhielt Russland Belorussland, Litauen und Teile der Ukraine. Nach einer Reihe von Maßnahmen, die darauf gerichtet waren, die Autonomie der Ukraine, die ihr nach der Vereinigung gewährt worden war, einzuschränken, schaffte Katharina II. die Hetmanschaft und die Militärorganisation der ukrainischen Kosaken vollends ab. Die Verfügungsgewalt erhielten nunmehr ausschließlich russische Beamte, neben anderen ihr Günstling Fürst Potjomkin.

Die murrenden Saporosher ließ Katharina mit Gewalt im Kubangebiet ansiedeln. Der aus einer Kosakenfamilie stammende russische Schriftsteller Alexander Serafimowitsch schreibt darüber in seinem Roman `Der eiserne Strom´:

`Nicht freiwillig kamen die Kosaken; die Zarin Katharina II. hat sie vor anderthalb Jahrhunderten gewaltsam in dieses Land getrieben; sie löste die freie Saporosher Kosakenwehr auf und schickte sie hierher, sie schenkte ihr gnädig dieses damals wilde, fruchtbare Land. Blutige Tränen weinten die Saporosher Kosaken über dieses Geschenk, sie sehnten sich nach ihrer ukrainischen Heimat zurück. Gelbes Fieber stieg aus den Sümpfen und aus dem Schilf, saugte sich fest an den Menschenleibern, schonte weder alt noch jung, brachte viel Volk ums Leben. Tscherkessen empfingen die Zwangssiedler mit scharfen Dolchen und tödlichen Kugeln. Blutige Tränen weinten die Saporosher Kosaken, sie gedachten ihrer alten Heimat, kämpften Tag und Nacht mit dem gelben Fieber, mit den Tscherkessen, mit dem wilden Nauland - sie hatten nichts, womit sie die uralten Reichtümer dieser Erde hätten heben können.´

Dann aber kam die Zeit, da es alle nach dieser Schale voll unbeschreiblicher Reichtümer verlangte. Aus den ukrainischen Gouvernements Charkow, Poltawa und Kiew strömten die Menschen herbei, getrieben von der Not, halbnackt und bettelarm. Landlos wurden sie zu Knechten bei den Kosaken, die sie `Zugewanderte´ nannten. Die Kosaken setzten ihnen hart zu, ließen ihre Kinder nicht in die Kosakenvolksschulen gehen, zogen ihnen bei der Verpachtung das Fell über die Ohren, ließen von ihnen alle Ausgaben der Verwaltung  bestreiten und nannten sie mit tiefer Verachtung `Teufelsbrut´ und `Gesindel´. Die `Zugewanderten´ aber widmeten sich, da sie landlos waren, jeglichem Handwerk; sie erwiesen sich als geschickt, strebten nach Wissen und Kultur. Sie zahlten den Kosaken mit der gleichen Münze heim, nannten sie ´Kulaken´ und `Vogelscheuchen´.

Von beiden Seiten Hass und Verachtung, von der zaristischen Regierung gefördert.

Serafimowitschs Roman spielt im August des Jahres 1918. Im Kubangebiet war die Rote Armee in die Umzingelung des Feindes geraten. Die Kubankosaken hatten sich in einem konterrevolutionären Aufstand gegen die Sowjetmacht erhoben. Grausam rechneten sie mit all jenen ab, die mit den Roten sympathisiert hatten. Vor Angst vor diesen Vergeltungsaktionen sammelten sich Bauern, Handwerker, versprengte Rotarmisten und Matrosen der Schwarzmeerflotte zu einer riesigen, bunt zusammen gewürfelten Menge. Sie wollten zu den Hauptkräften der Roten Armee durchstoßen. Allen irgendwie transportablen Hausrat und alles Vieh führten sie auf ihrem Marsch mit. Alexander Serafimowitsch schildert zweiunddreißig Tage Hungersnot, Hitzequalen, aufreibende Kämpfe und Sterben, Sterben, Sterben... Es gibt keine Schilderung über Bürgerkrieg und Konterrevolution, die eindringlicher und erschütternder wäre als diese.

Neben mir die schon vertraute Stimme aufmunternd: `Wer ans Vergangene denkt, der wird gehenkt.´ Und dann singt `mein Saporosher´ unerwartet zärtlich und weich ein altes ukrainisches Lied - indes die ´Skafandr´ beidreht und auf Heimatkurs geht."

 

 

Wie man Padischah wird (LESEPROBE aus: "Zwischen Weißem Meer und Baikalsee")

 

„Von Walagai Kasboletowitsch Autjew heißt es, er sei der beste Harmonikaspieler Adygiens. Er begrüßt uns vor seinem Haus im Aul Dsherokaj im modernen Anzug, der traditionellen hohen Schaffellmütze und in kaukasischen Stiefeln aus feinem Leder. Die Brauen sind buschig-grau, die Augen braun, lebensbejahend; die ein wenig gerötete Nase verrät, dass er in seinem Leben einen guten Tropfen wohl nie verschmäht hat. Einzig die tiefen Falten und der eingefallene Mund bringen dich auf den Gedanken, dass er die Siebzig wohl schon überschritten hat.

Doch die Vermutung verwirfst du sogleich wieder, wenn er sein Spiel beginnt. Die Harmonika lacht und schluchzt, jauchzt und wimmert. Sie berichtet von Freudenfesten und Kümmernissen, von erstaunlich Schönem und empörend Ungerechtem, von wilden Kämpfen und wilden Pferden…. Walagai Kasboletowitsch schwingt das Musikinstrument mal hoch über seinem Kopf, mal sieht es aus, als würde er es fallen lassen. Mit einer Hand lässt er die Harmonika vertikal auf- und nieder tanzen oder versetzt sie in schlangenartige Bewegungen. Und dennoch kein disharmonischer Akkord, durchweg eine Ohrenschmaus.

Nach genau einer Stunde bricht er sein Spiel unvermittelt ab. Vor zwei Jahren ist seine Frau gestorben. Damals hat er seine Harmonika verschenkt und sich geschworen, nie mehr zu spielen. Heute hat er seinen Schwur für eine Stunde gebrochen, um auf geliehenem Instrument zu Ehren der Gäste aus der DDR zu musizieren. Nach zwei Jahren Pause, so sagt er, hätten sich seine Finger benommen, als habe es nie eine Unterbrechung gegeben. Nun fragen wir doch, wie alt denn diese quicklebendigen Finger eigentlich sind. Die Antwort: einhundertfünfzehn Jahre.

Walagai ist ohne Schulbildung aufgewachsen. Die zweiklassige Schule kostete dazumal – die Leibeigenschaft war ja gerade erst abgeschafft – jährlich sechzig Rubel, vier Sack Mehl, sechzehn Kilogramm Bohnen und einen Beutel Käse. Bis auf den heutigen Tag ist Walagai Kasboletowitsch lese- und schreibunkundig, spricht und versteht nicht russisch, kennt keine Noten. Jahrzehntelang war er Hirt, wurde Ende der zwanziger Jahre Kolchosbauer. Als Hirt noch hat er seinem Herrn mal eine Kuh gestohlen, weil seine beiden Schwestern dem Hungertode nahe waren. „Und stellen Sie sich vor“, freut er sich mehr als ein halbes Jahrhundert später, „der Herr hat seine Kuh nicht wiedererkannt. Not macht erfinderisch. Ich legte auf jedes Horn einen glühend heißen Laib Brot, dann verbog ich die weich gewordenen Hörner nach Herzenslust. So eine ulkige Kuh, meinte der Herr, habe er nie besessen.“

Walagai Kasboletowitsch ist Vater zweier Söhne. Der eine Sohn fiel im Großen Vaterländischen Krieg. Drei Jahrzehnte lang schüttelte die Mutter danach Tag für Tag sein Bett auf. Der Witwer Walagai Kasboletowitsch lässt es nun unberührt, bezieht es aber jedes Mal frisch, wenn er das seine bezieht. Walagai Kasboletowitschs zweiter Sohn ist Doktor der Wissenschaften; er ist zugleich der erste und bisher einzige adygeische Archäologe.

Auf Walagai Kasboletowitschs Hof zähle ich zwölf Schafe und zwei Kühe. Der Einhundertfünfzehnjährige versorgt Haus und Hof allein, hatte Hilfe noch niemals nötig. Augenfällig auf dem gepflegten Anwesen ein winziges, zerfallenes Lehmhaus mit Öffnungen, die kaum als Fenster zu bezeichnen sind, mit einer Tür, durch die ein Mensch nur geduckt hindurchgehen kann. Schon oft sollte es abgerissen werden. Seine Enkel wollten es, der Kolchosvorsitzende, der Deputierte des Dorfsowjets. Aber Walagai Kasboletowitsch lässt es nicht zu, `weil ich, das Vergangene vor Augen das Heute besser achten kann´.

Als wir uns verabschieden, klopft er Heinz Krüger auf die Schulter und sagt verschmitzt: `Weißt du was, meine Mutter hat mich rascher geboren, als du mich fotografiert hast.´ Und Kirimise Shane, den über Sechzigjährigen fragt er verwundert: `Sag mal, warum hast du so graue Haare?´

Durch das Haar des Einhundertfünfzehnjährigen ziehen sich nur ein paar graue Fädchen. Auffallend viele adygeische Märchen, Sagen und Legenden erzählen vom Altwerden und vom Leben der Alten. Das

 

MÄRCHEN Wie man Padischah wird

 

ist besonders aufschlussreich:

*

Es gab einmal eine Zeit, da wurden die Adygen zweihundert Jahre alt. Weissagte man einem schon älteren Adygen ein Leben von nur einhundertfünfzig Jahren, so sagte dieser enttäuscht: `Wenn ich bloß hundertfünfzig Jahre alt werde, so will ich gar nicht erst mit dem Bau eines neuen Hauses beginnen!´ Waren die Alten schwach und hinfällig geworden, wurden sie von den Schwiegertöchtern in die Wiege gelegt und wie Wickelkinder behandelt. Die gutherzige Schwiegertochter schaukelte den alten Schwiegervater mit einem Wiegenlied in den Schlaf:

 

Eiapopeia, / im Wieglein, dem molligen, / Fürst, du mein goldiger, / schlafe jetzt ein! /

Die böse Schwiegertochter aber sang:

Eiapopaia, mein Fürst, / wann kratzt du ab, mein Fürst? / Fahre ins Grab, mein Fürst / Eiapopaia, mein Fürst. // 

 

Mit der Zeit fingen die Menschen an, sich Gedanken zu machen über die Last, die man mit den Alten habe. `Die Weiber im Haus haben zuviel Scherereien mit ihnen´, hieß es. `Wir sollten sie in den Abgrund werfen.´ Gesagt, getan, und alsbald wurde diese Sitte, sich der Alten zu entledigen, zu einem festen adygeischen Brauch.

Endlich fand sich ein Jüngling, der es nicht übers Herz brachte, seinen Großvater in den Abgrund zu stoßen. Er ließ ihn in einem sicheren Versteck weiterleben.

Eines schönen Sonntags saßen einige Dorfbewohner unter einem Baum und unterhielten sich. Da gewahrten sie im Wasser eine goldene Kanne. Hals über Kopf stürzten sie sich in den Fluss, die Kanne aber konnten sie nicht finden. `Es liegt daran, dass wir den Schlamm aufgewühlt haben´, meinten sie, und stiegen aus dem Wasser. So ging das den ganzen Tag. Wenn sie vom Ufer aus in die Fluten schauten, sahen sie die Kanne blinken, kaum aber waren sie im Wasser, fehlte von der Kanne jede Spur.

Am Abend brachte der Jüngling seinem Großvater das Essen und erzählte ihm die ganze Geschichte.

`Ach, was sind die Menschen töricht´, sagte lächelnd der Greis. `Die Leute sehen doch nur den Widerschein im Fluss. Steig auf den Baum, an dem die Kanne hängt, und nimm sie vom Ast.´

Da staunten anderntags alle über den Scharfsinn eines so jungen Mannes.

Eines Tages wurde beschlossen, denjenigen zum Padischah des Landes zu machen, der als erster die Sonne aufgehen sieht. Der Jüngling erzählte seinem Großvater, dass Tag für Tag jeder Dorfbewohner hinausgehe, um als erster den Sonnenaufgang zu erblicken. Doch jedes Mal sähen sie ihn alle zugleich.

Da riet der Großvater: `Stell dich morgen ans Ufer des Flusses. Behalte den Wasserspiegel fest im Auge, dann bist du es, der den ersten Sonnenstrahl sieht.´

Anderntags verließen wieder alle beim ersten Morgengrauen das Dorf.

`Da kommt sie!´ rief der Jüngling als erster, denn er hatte den Sonnenstrahl auf der Wasseroberfläche aufblitzen sehen.

So wurde der Jüngling Padischah.

Der junge Herrscher ließ alle seine Untergebenen zusammenrufen und verkündete ihnen: `Hört, ihr Leute! Dass ich die goldene Kanne fand und auch dass ich die Sonne als Erster aufgehen sah, verdanke ich einzig und allein meinem Großvater. Unsere Alten haben in ihrem Leben viel gesehen und erlebt, sie sind erfahren und weise. Vom heutigen Tag an verbiete ich, die Greise in den Abgrund zu werfen, und verfüge, dass man sie bis zu ihrem Tode hege und pflege.´“

Deutsch von Johann Warkentin; Redaktion: Gisela Reller

 

*

Wahrheit und Legende! Wahr, der uralte adygeische Brauch, gebrechliche Alte in den Abgrund zu werfen. Legende, wie dieser grausame Brauch aufgehoben wurde. Tatsache aber auch, dass im heutigen Adygien die Greisin und der Greis geehrt und von allen geachtet werden.

Die meisten Hundertjährigen leben im Kaukasus. Von Wissenschaftlern nach dem Geheimnis ihrer Langlebigkeit befragt, schwören die einen auf die klare Bergluft, den täglichen Löffel Bienenhonig, den Joghurt, die Knoblauchzehe; die anderen nennen regelmäßige körperliche Betätigung, geben an, dass sie nie rauchten, sich hin und wieder aber ein Gläschen nicht versagten. Walagai Kasboletowitsch winkt bei derlei Erklärungen ab. `Um lange zu leben, muss man sich freudige Erlebnisse schaffen. Ich verdanke mein Alter einzig und allein meiner Harmonika. Mit ihr habe ich mir hundert Jahre lang jeden Kummer von der Seele gespielt.´ Sehr leise, sehr traurig fügt er hinzu: `Nur den letzten nicht – der ist zu groß.´

Das Geheimnis kaukasischer Langlebigkeit sehe ich vorrangig darin, dass sich hier kein alter Mensch einsam, unnütz, ausgeschlossen fühlt. Ich kann mir keinen Adygen vorstellen, der sitzen bliebe, wenn ein Älterer steht; der nicht sofort hinzueilte, wenn ein Älterer hilfsbedürftig ist; der nicht seinen Spross kräftig versohlte, sollte dieser es an der nötigen Hochachtung einem älteren Menschen gegenüber fehlen lassen. In Adygien achtet man Lebenserfahrung und holt unbedingt den Rat eines Älteren ein, wobei es aber auch ein ungeschriebenes Gesetz ist, dass die Alten nicht von sich aus zu all und jedem ihren Senf beigeben. Sie warten ruhig ab, bis man sie fragt (und es ist gewiss, dass man sie fragen wird): Großvater (oder Großmutter), was sagst denn du dazu? Großvater oder Großmutter, so nennt man hier jeden älteren Menschen, ganz gleich, ob Verwandter, Nachbar oder Fremder.

In einem Gedicht des Lyrikers Kirimise Shane heißt es:

 

Wenn du wo hörst einen Graubart sprechen / sachte, bedächtig im Kreise der Jungen, / wage ja nicht, ihn zu unterbrechen, / zähm deinen Stolz und zügle die Zunge, / achte sein Alter, sein Wissen auch - / so ist es bei den Adygen Brauch. //“

 Nachgedichtet von Johann Warkentin

 

 

Walagai Autlew, der beste Harmonikaspieler Adygiens, 115 Jahre alt.

Foto: Heinz Krüger

 

 

 Auslese (LESEPROBE aus: "Zwischen Weißem Meer und Baikalsee")

 

"Wir lauschten nicht nur dem besten Harmonikaspieler Adygiens. Wir begegneten auch dem siegreichsten Judo- und Sambotrainer und dem Begründer der adygeischen Prosa; außerdem besuchten wir die weltgrößte Stuhlfabrik, den ältesten adygeischen Industriebetrieb und bestaunten den größten Findling der Welt;  verkosteten den nördlichsten Tee, den schmackhaftesten Käse, die saftigsten Brombeeren.

 

Der siegreichste Judo- und Sambokämpfer: In Adygien sind Judo und Sambo heißgeliebte Sportarten, und Jakub Koblew - Dekan der Sportfakultät am Pädagogischen Hochschulinstitut, Kandidat der Pädagogischen Wissenschaften und Dozent - gilt als landesbester Trainer. Dieweil um uns herum die Körper auf die Matten schlagen, erklärt er uns die Regeln.

`Judo ist eine Ende des 19. Jahrhunderts in Japan au dem Jiu-Jitsu entwickelten Zweikampfsportart, bei der jeder Kämpfer anstrebt, den Gegner schwungvoll auf den Boden zu werden oder mit Bodengriff zu besiegen. Die Wirksamkeit der zahlreichen Würfe, Griffe und Kombinationen beruht besonders auf der Nutzung biomechanischer Gesetze, anatomischer und physiologischer Erkenntnisse. Sambo ist eine judoähnliche Zweikampfsportart, bei der angestrebt wird, den Gegner auf beide Schulterblätter zu legen, durch einen schmerzhaften Griff zur Aufgabe zu zwingen oder nach Punkten zu besiegen.´

Judo ist seit 1964 olympische Disziplin. Das Ursprungsland des Sambo ist die Sowjetunion. Europameisterschaften, die auch für außereuropäische Länder offen sind, werden seit 1973 ausgetragen, Weltmeisterschaften seit 1974; gleich bei der ersten Kraftprobe wurden zwei Adygen aus Maikop Weltmeister. Die Maikoper Fakultät ist für die gesamte Sowjetunion Judo- und Sambostützpunkt. Der Russe Newzerow, Olympiasieger im Judo von Montreal (Halbmittel), studierte am Maikoper Pädagogischen Institut und wurde von Jakub Koblew trainiert.

 

Der Begründer der adygeischen Prosa: Wir besuchten den fast Achtzigjährigen in seiner Wohnung. Tembot Keraschew schuf zusammen mit dem Adygen Achmed Chatkow die ersten Lehrbücher der Mittelschule in adygeischer Sprache, übersetzte mehr als vierzig Werke russischer und sowjetischer Schriftsteller ins Adygeische.

Von seinem entbehrungsreichen Leben und dem seiner Familie spricht der Satz: `Mit Großmutter zusammen bewohnten wir jahrzehntelang eine Hütte, die nicht zu beheizen war.´

Ich habe viele Aufzeichnungen von Tembot Keraschew, am meisten aber haben mich diese Aussagen beeindruckt:

Jahrhunderte lang standen wir Adygen mit dem Rücken zum Leben, mit dem Gesicht zum Jenseits. / Als meine Augen sehen lernten, sahen sie, wie ähnlich schleppender Gang und hoffnungsloser Blick eines Adygen / und eines russischen Tagelöhners waren. Ich begriff: / Wir und sie waren `Verdammte dieser Erde´. / Fest und undurchdringlich war die nationale Kruste, mit der wir Adygen uns umgaben, / um unsere Eigenart zu bewahren. Wie erstaunlich schnell / barst diese Kruste nach der Oktoberrevolution! Nicht auf Kosten unserer Eigenart, sondern zu ihrem Gunsten. / Greise sind das empfindsamste Barometer des Lebenswetters. //

Die weltgrößte Stuhlfabrik: Direktor Nikolai Ostapenko gibt über `sein´ Werk zu Protokoll: `In zwanzig Hallen, eine jede etwa zehntausend Quadratmeter groß, werden Wohnzimmerstühle - zweiundzwanzig Muster, Export nach Frankreich -, Melkschemel, Gartenstühle, Barhocker, Bänkchen jeder Art, nostalgische Schränke, komplette Einrichtungen für Einraumwohnungen, Parkettfußböden - auch der im Kongresspalast in Moskau - produziert; bis jetzt erhielten neun Artikel das staatliche Gütezeichen. `Freundschaft heißt das Werk, weil hier Vertreter von einundvierzig Nationalitäten arbeiten, darunter fünfhundert Adygen. Ein bisschen Geschichte: In den ersten Jahren der Sowjetmacht entstand am Nordrand der Provinzstadt Maikop, die nur aus Holzhäusern bestand, das erste zweigeschossige Gebäude. Es gehörte einer Aktiengesellschaft. Sie stellte die ersten Stühle her. 1924 wurde die Gesellschaft nationalisiert und somit ein Betrieb des jungen Sowjetstaates und Maikop Industriestadt. 1925 stellte die Fabrik trotz ihrer bescheidenen Ausrüstung täglich hundertzwanzig Stühle her.

Am Sonntag, dem 5. Mai 1929, erfolgte die Inbetriebnahme des umgebauten Kombinats. Es war ein bewegener Augenblick, als die Lämpchen des Kraftwerkes aufleuchteten: der erste Industriestrom. 1931 gingen die ersten Stühle über die Häfen Noworossisk und Tuapse nach England, Österreich und in andere Länder. 1940 war unser Betrieb der größte Stuhlproduzent im Lande. Der Krieg zerstört dann alles. Alles! Erst 1948 stellten wir wieder die ersten Stühle her. Heute ist unser Möbelwerk im Rahmen der Spezialisierung weltgrößtes Werk für Stühle. Fast jeder Sowjetbürger und Tourist sitzt jetzt schon auf einem Vier-, Zwei- oder Einbeiner aus Maikop.´

 

Der nördlichste Tee: Juri Adagow ist Direktor der adygeischen Filiale des Forschungsinstituts für Teeanbau und subtropische Kulturen, das sich in Batumi befindet. Die adygeische Filiale wurde 1967 gegründet, weil in der kaukasischen Vorgebirgszone 60 000 Hektar Boden als für den Teeanbau geeignet erkannt wurden. Doch bis jetzt hast das Klima einen Strich durch jede Teerechnung gemacht. Die nördlichsten Teepflanzen der Welt müssten bis zu dreißig Grad minus aushalten, aber schon bei minus elf Grad erfrieren sie - ohne Schutzmaßnahmen. Einhundert verschiedene Schutzvarianten hat Juri Adagow mit seinen unermüdlichen Mitstreitern schon ausprobiert, alle ohne endgültigen Erfolg. Dennoch ist Juri Adagows Zuversicht unerschütterlich. `Es wird adygeischen Tee geben! Und er wird einer der aromatischsten Tees der Welt sein.´

Juri Adagow schreibt an seiner Tee-Doktorarbeit und trinkt selbst am liebsten Milch. In Berlin bin ich mit einem Päckchen adygeischen Tees zu Berufsverkostern gegangen und habe für Juri Adagow ein Testat anfertigen lassen. Ergebnis: `Es ist ein sehr schöner, aromatischer Tee, er hat eine Blume und gießt gut ab. Er ist begnadet, weil er hochgewachsen ist und besser als die höchste Sorte, die importiert wird. Wenn man nur das erste Blatt nimmt, könnte er Spitzentee werden!´

 

Der schmackhafteste Käse: mit 6,6 Kilogramm je Kopf der Bevölkerung jährlich standen die Nordkaukasier schon 1971 an der Spitze aller Käse schätzenden Nationen. Sprunghaft stieg der Konsum 1975 an, seitdem es den adygeischen Käse zu kaufen gibt. Bis dahin hatte ihn die adygeische Hausfrau im geflochtenen Weidenkörbchen selbst hergestellt. Der Erfinder der neuen Rezeptur für die industrielle Herstellung ist der Direktor des Maikoper Milchkombinats Madin Chejschcho. Wir verkosteten seinen vorzüglichen Käse frisch, gebraten, gebacken, geräuchert, gerieben.

 

Die saftigsten Brombeeren: Sie werden gezüchtet auf der Versuchsstation für Pflanzenkunde (ein Stützpunkt des Leningrader Unionsforschungsinstituts), sind saftig, süß und - die Pflanzen haben keine Stacheln. Prof. Dr. Anatoli Tus, Stellvertretender Direktor der Versuchsstation, lässt uns auch Birnen verkosten, die bisher nur in China gedeihen wollten. Die Versuchsstation sammelt und studiert Kulturpflanzen der ganzen Welt. Zur Zeit werden mehr als 20 000 `Katalogmuster´ (Obst, Gemüse, Feldfrüchte) angepflanzt, so 5 340 Obstsorten - davon 2 500 Arten Äpfel, 1 000 Birnen-, 800 Pflaumen-, 420 Kirsch-, 200 Erdbeer-, 200 Pfirsichsorten.

`Wir experimentieren aber nicht nur´, sagt Prof. Dr. Tus, `Sowchosen und Kolchosen erhalten von uns auch regelmäßig Setzlinge, im vergangenen Jahr zum Beispiel drei Millionen Erdbeerpflanzen. Außerdem haben wir einen Obstverarbeitungsbetrieb, der jährlich einen Reingewinn von etwa 430 000 Rubeln bringt.´ (Am Abreisetag in die Heimat stehen vor unseren Hoteltüren große Obstkisten, flugsicher verpackt. Daran ein Zettelchen: `Möge unsere Freundschaft haltbarer sein als der Inhalt dieser Kisten.´

 

Der größte Findling: Er liegt am Ufer der Belaja und wurde einst von Gletschern aus Schweden oder Finnland hierher transportiert.

Der eiszeitliche Gesteinsblock, von dem aus eine romantische Hängebrücke zum anderen Ufer der Belaja führt, ist legendenumwoben. Sein Name `Mädchenstein´ wird so erklärt:

Jahrhunderte lang erprobte man hier die Tapferkeit junger Adygen. Der Gipfel des steil aufragenden Steinblocks musste zu Pferde erklommen werden. In einem Jahr wollte dieses Kunststück keinem einzigen Jüngling glücken, viele stürzten ab. Als die Zuschauer gerade enttäuscht nach Hause gehen wollten, stürmte noch ein wunderschöner, eleganter Reiter heran. Ihm gelang es, die Bergspitze zu erklimmen. Oben angekommen, warf der Reiter den Umhang ab - hoch oben stand ein Mädchen!

 

Der älteste adygeische Industriebetrieb: Das Werk, 1892 mit fünfundzwanzig Beschäftigten als Reparaturwerkstatt gegründet, ist heute vollautomatisiert, hat tausend Beschäftigte und exportiert Drehmaschinen in zweiundfünfzig Länder: in die Tschechoslowakei, nach Polen, Rumänien, Finnland, Mexiko, Kanada, Indien, Pakistan, Bangladesh, Tschad, Algerien, Syrien, Afghanistan... In der Bandsägewerkhalle lesen wir auf einem Transparent:

`Die zehn Werkbänke der DDR zeichnen sich durch hohes Niveau, große Präzision, Unfallsicherheit und schöne Formgestaltung aus. Sie geben unseren Erzeugnissen den letzten Schliff.´

Verwundert blicke ich ob dieser öffentlichen Lobpreisung auf den stellvertretenden Direktor Galma Tarassow. `Die Belegschaft wollte Ihnen diese Freude machen´, erklärt er ein bisschen verlegen.

`Danke.´"

 

 

`Salam aleikum!´ (LESEPROBE aus: "Zwischen Weißem Meer und Baikalsee")

 

 „Zum wer weiß wievielten Male bitten wir, uns in ein x-beliebiges Haus, zu einer x-beliebigen Familie zu führen. Der adygeische Dichter Kirimise Shane schüttelt zum wer weiß wievielten Male verzweifelt den Kopf. Das Problem bestehe nicht etwa darin, eine x beliebige Tür zu öffnen und hineinzuspazieren. Nein…, das Problem bestehe vielmehr darin, wieder herauszukommen. Wir: `Na, wenn wir überraschend auftauchen, kann es mit der Bewirtung doch so schlimm nicht werden.´ - Kirimise Shane: `Bloß das nicht, da muss ja während eurer Anwesenheit erst alles zubereitet, der Tisch gedeckt werden.´ Dann ruft er seinen Freund Nalbij an und bittet ihn, schnell eine Familie zu suchen, in der wenigstens einige Familienmitglieder um diese Zeit zu Hause sind. `Schließlich´, so stöhnt er, `haben wir versprochen, den deutschen Gästen jeden Wunsch zu erfüllen.´ Und zu uns: `Für die Neugeborenenstation muss euch aber dann eine Stunde reichen.´

Wir überzeugen uns in dieser Stunde davon, wie fachmännisch und liebevoll die Adygin, die vor der Revolution zu Hause unter Lebensgefahr gebären musste, hier umsorgt wird. (In den vergangenen acht Monaten dieses Jahres erblickten allein in diesem Krankenhaus 167 Kinder das Licht der Welt.) Sieben Tage lang lernen die Mütter hier, wie ihre Babys zu versorgen sind. Das medizinische Personal verlässt sich nicht darauf, dass der jungen Mutter `draußen´ alles Nötige beigebracht werden wird, `von einer, die es schon hinter sich hat´. Hier werden Wickel- und Stilltechnik, Trink- und Speiseregeln nach neuesten medizinischen Erkenntnissen vermittelt – eine Unterrichtsstunde täglich. Zur Neugeborenenstation (fünfzehn Betten) haben nur Ärzte und Schwestern Zutritt. Der Vater sieht sein Kind erst am siebenten Lebenstag – wenn die Mutter entweder nach Hause darf oder in ein anderes Krankenhausbett umquartiert wird. Ergebnis: Die niedrigste Zahl von Säuglingserkrankungen im ganzen Adygeischen Gebiet. Mit uns wird ausnahmsweise eine Ausnahme gemacht. Wir dürfen zwölf Neugeborene in ihren Bettchen und beim Stillen begutachten und bewundern – was wir den glücklichen Muttis zuliebe natürlich auch ausgiebig tun, obwohl die feurigen Adygenaugen geschlossen sind, der kühne Adygenmund weinerlich verzogen ist; nichts da von adygeischem Charme, von Grazie und verführerisch enger Taille. Und dennoch: Babys sind süß!

Pünktlich eine Stunde später stehen wir vor dem Haus der Chamersokows. Mit `Salam aleikum!´ empfangen uns eine Urgroßmutter, eine Großmutter, ein Großvater und ein sieben Jahre alter Enkel. Sogleich geht´s zu Tisch. Da ist aber zu unserer Enttäuschung nur noch der Großvater mit uns; denn Großmutter hat mit einigen herbeigeeilten Nachbarinnen in der Küche alle Hände voll zu tun, und Urgroßmutter, einhundertsieben Jahre alt, hat sich ein bisschen hingelegt; der Enkelsohn Murat vergnügt sich draußen lautstark mit einer Horde Kinder – was sollte er auch am Festtisch Erwachsener? Schließlich so tröstet man uns, hätten wir die Tochter des Hauses ja soeben mit ihrem zwei Tage alten Baby in der Entbindungsstation kennengelernt und auch schon fotografiert. Sie sei Chefköchin, ihr Mann Bauarbeiter. Wenn er abends von der Arbeit kommt, seien wir ja sowieso noch hier. (Es ist gerade elf Uhr vormittags.)

Nuch Chamersokow, der Großvater, erhebt nun sein Glas auf die Gäste und sagt freudig bewegt, dass sein Haus auch unser Haus sei, dass ein Gast, der ihn einmal besucht habe, nicht einmal mehr anzuklopfen brauche – `ob Tag, ob Nacht, kommt einfach rein`. Sagt´s stellt sein unberührtes Sektglas zurück auf die schneeweiße Damastdecke, übergibt dem Tischältesten Kirimise Shane alle Hausherrenvollmachten und überlässt uns samt Speise und Trank unserem Journalistenschicksal.

Donnerwetter, sind wir verblüfft!

Lidija Magometowna Kuwajewa, Sekretär für Agitation und Propaganda, findet – berufsbedingt? – als erste Worte.

`Sie wollten doch eine x-beliebige adygeische Familie besuchen, stimmt´s?´ fragt sie.

`Stimmt.´ - `Das ist eine. Nuch Chemersokow ist Anhänger des Islam. Und gegenwärtig ist Urasa – die große Fastenzeit. Vom 25. August bis 25. September essen die gläubigen Mohammedaner von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang nichts und dürfen auch nicht an Festtafeln sitzen. Wir nach der Revolution Geborenen haben in der Eile einfach nicht daran gedacht. Zumal auch bei unseren Älteren nicht mehr viele die rituellen Gebote des Islam einhalten.´

Kirimise Shane, jetzt offizieller Hausherr, erhebt sein Glas. `Halten wir es mit den Jungen dieses Hauses! Respektieren wir den Glauben anderer und erweisen wir unseren Gastgebern Ehre, indem wir den Speisen und Getränken zusprechen.´

Der Islam – neben Christentum und Buddhismus die dritte und späteste Weltreligion – schreibt fünf rituelle Gebote vor: das jährliche zweimalige Fasten (im Januar/Februar gibt es noch den Fastenmonat Ramadan); das tägliche fünfmalige Gebet, die Waschung vor dem Gebet und nach Verunreinigungen; die Steuer (Zakat) zugunsten der Armen, die Pilgerfahrt (Hadsch) nach Mekka, wenigstens einmal im Leben, sofern es die materielle Situation erlaubt. (…) Das Wort Islam bedeutet Hingabe – ausschließliche Verehrung Allahs. Im Kaukasus bekannten sich die meisten Völker vor der Ausbreitung des Islam zum Christentum, später – als die Goldene Horde die Adygen nach mehreren Schlachten unterworfen hatte – gelangte der Islam allmählich auch zu den nordkaukasischen Völkern. Seit dem 18. Jahrhundert ist er vorherrschende Religion der Adygen.

Nachdem Großmutter Chamersokowa es auch noch fertiggebracht hat, in aller Eile Brot aus Kubanweizen für die unverhofften Gäste zu backen, begeben wir uns in den Garten, um uns fernab von Speisen und Getränken gegenseitig ein bisschen kennenzulernen…

Zwei Tage darauf erreicht mich in Maikop ein Telegramm: `Möchten Töchterchen den Namen Gisela geben. Bitten um Einverständnis. Die Chamersokows.´

In einer adygeischen Familie geschieht nichts ohne die Zustimmung der Alten, und hier nun stimmten alte Menschen zu, die Anhänger eines Glaubens sind, zu dessen Geboten auch der Heilige Krieg (Dschihad) gehört. Der Koran äußert sich hierüber unmissverständlich: Acht Monate im Jahr (vier Monte gelten als `verbotene´) soll Krieg geführt werden gegen Ungläubige. Diese seien auszurotten und ihr Vermögen zu beschlagnahmen. Der russische Völkerkundler Professor Tokarew schreibt 1976: `Im Zeichen des Dschihad haben mohammedanische Prediger bis in unsere Tage hinein immer wieder die Gläubigen zum Vernichtungskrieg gegen alle Ungläubigen, zum Beispiel auch gegen die Russen und die Rote Armee, aufgewiegelt.´

Ich hatte im Garten der Chamersokows die Frage, ob ich mich zu einem religiösen Glauben bekenne, unmissverständlich mit Nein beantwortet. Durch das Mädchen Gisela ist das Haus der Chamersokows im Aul Mamcheg nun auch einer Nicht-Islamgläubigen Haus geworden.“

 

 

Nurshan Chamersokowa mit ihrer zwei Tage alten Tochter - zu Ehren der DDR-Gäste

bekam sie den Namen Gisela.

Foto: Heinz Krüger

 

     

 

Gisela Chamersokowa, inzwischen fünf Jahre alt, zeichnet sich selbst und ihre Patenmama Gisela - als sie mit Papa, Mama und Bruder bei Familie Reller zu Gast ist.

Zeichnungen aus Rellers Völkerschafts-Archiv

 

 

Dialog im Dampfbad (LESEPROBE aus: "Zwischen Weißem Meer und Baikalsee")

 

"Ein unscheinbares Tor, dahinter ein grauer Hof mit unattraktiven flachen Häusern. Ungewöhnlich nur die gewundene Außentreppe und die großen Glasfenster. Hier haben sechsundzwanzig adygeische Künstler ihr Ateliers: Maler, Graphiker, Gebrauchsgraphiker, Illustratoren, Formgestalter, Bildhauer...

Wir treffen drei an.

Teutschesh Kat ist Graphiker, hat an der Kransodarer Universität studiert. Noch keine dreißig Jahre alt, hat er sich ganz dem Alten, den adygeischen Sitten und Bräuchen verschrieben. Er illustrierte das "Nartenepos" - Tausende gesammelter uralter adygeischer Lieder, sogenannter Pschtschynatlas, und Legenden über die Narten (Recken), Bücher mit adygeischen Märchen und Spruchweisheiten. Teutschesh begründet seinen Hang zum Alten so:

`Ich wurde in einem winzigen Aul geboren. Viele Sitten kenne ich noch aus eigener Anschauung - das Pflanzen eines Baumes, wenn ein Sohn geboren wird; den nationalen Ringkampf; Jagdzeremonien; Reiterspiele. Viele Bräuche sind mir vertraut durch die Erzählungen der Alten: die Entführung der Braut; die spätere Berufswahl entsprechend dem Gegenstand, nach dem ein dreijähriger Knabe greift: nach dem Maiskolben, dem Dolch, dem Spiegel, dem Weinpokal... Ich möchte dazu beitragen, das adygeische Brauchtum für die Nachwelt zu erhalten.´

Dann öffnet uns Feliks Petuwasch seine Tür. Auch ein Graphiker, auch er aus einem kleinen Aul. Er ist Mitte Zwanzig und hat die Moskauer Kunstschule absolviert. Auch bei ihm nationale Motive, aber durchaus auch Heutiges. bei Teutschesh Kat ist alles brav und sehr schön anzusehen, bei Feliks Petuwasch alle frech ironisiert. Gestern und Heute zeigen sich nackt und bloß. Feliks Petuwasch prüde zu nennen, wäre gleichbedeutend damit, den Teufel als Heiligen auszugeben. Der islamische Halbmond neben dem Ziegenbock, Sex-Verirrte im `Heiligen Wald´. So richtig ernst nimmt er kein Motiv, am wenigsten sich selbst - davon zeugen seine zahlreichen hintergründig-komischen Selbstdarstellungen. Nur eines nimmt er durchaus ernst: seine Arbeit. Er sei auf der Suche nach sich selbst, sagen seine Künstlerkollegen und prophezeien ihm eine große Zukunft.

Hinter der dritten Tür malt Tigran Manakjan: Frauen, Mädchen, Pferde, Blumen (sich selbst als Harlekin). Alle Bilder in ganz grellen Farben, es dominieren gelb, blau, orange, auch rotbraun, weiß. `Die Italiener´, sagt er, `stehen mir besonders nahe.´

Obwohl die anderen Künstler nicht am Platze sind, führt uns die Direktorin der `Künstlerischen Werkstätten´, Nurijet Chadshiretowna Kandaurowa, auch in die anderen Ateliers. Im Koran, der Heiligen Schrift des Islam, findet sich das strickte Verbot, Menschen und Tiere bildlich darzustellen. Kein Künstler hier, der sich einem solchen Verbot verpflichtet fühlt.

Strapazieren wir im Zusammenhang mit Frau Nurijet Kandaurowa noch einmal den Koran, in dem auch geschrieben steht, die Frau sei ein untergeordnetes Wesen,  von Allah geschaffen, um dem Manne zu dienen. Wir haben durchaus Adyginnen in beruflich anspruchsvollen Funktionen kennengelernt: Dr. Seinab Keraschwa, die erste Adygin, die Doktor der Philologie wurde, Professorin und Sprachforscherin ist; die Chefärztin der Stomatologischen Klinik Tamara Tschernimenko; die Leiterin der Entbindungsanstalt Tamar Tschejebijewa; in Frauenhänden liegt in Adygien auch ein gut Stück der Ideologie. Sei es im Gebietsparteikomitee (Assja Kuschu), im Stadtparteikomitee (Larissa Jewdokimowa), im Rayonparteikomitee (Lidija Kuwajewa). Der Sekretär für Ideologie, dem man neben vielen Fertigkeiten und Fähigkeiten nicht wenig Einfühlungsvermögen abverlangt, ist in Adygien heutzutage eine Frau!

Bedenken wir: Der deutsche Forschungsreisende Moritz Wagner schrieb in seinem Reisebericht über Adygien noch 1846: `Der Sklavenhandel mit Tscherkessinnen wird noch immer in schrecklichem Umfang betrieben... Jedes Schiff befördert dreißig bis vierzig Mädchen, die, wie Heringe in einem Fass, dicht aneinandergedrängt, an die Harems der türkischen Sultane verkauft werden. Teuer, denn unter den Tscherkessinnen gibt es echte Schönheiten.´

Dennoch fällt auf, dass in `gehobenen Positionen´ auch in Adygien durchaus mehr Männer sitzen. Dazu Nurijet Chadshinretowna: `Die Frau, die entsprechende Fähigkeiten mitbringt, kann es in den meisten Berufen durchaus so weit bringen wie ein Mann. Kein Mann stellt sich ihr in den Weg - es sei denn der eigene. Es ist schwer, neben der beruflichen Tätigkeit mit dem Haushalt und den Kindern gut zurechtzukommen. Die Kindererziehung wird heutzutage schon von vielen Männern auch als ihre Aufgabe angesehen. Aber Adygen, die im Haushalt helfen, können Sie noch mit der Lupe suchen. Deshalb steht die Adygin heute noch nicht so ihren Mann, wie sie gern möchte.´

Um so erstaunter sind wir, als sich der Deputierte, den wir anschließend plangemäß in seinem Betrieb besuchen, als eine Frau entpuppt - als Tamara Genijewskaja, Schleiferin im Möbelkombinat `Drushba´, Deputierte des Nationalitätensowjets.

Der Oberste Sowjet der UdSSR - das höchste Organ der Staatsgewalt - besteht aus zwei gleichberechtigten Kammern: dem Unionssowjet und dem Nationalitätensowjet. Der Unionssowjet wird auf proportionaler Grundlade gewählt: ein Deputierter auf 300 000 Einwohner. Im Nationalitätensowjet hat jede Unionsrepublik, unabhängig von der Größe ihres Territoriums und ihrer Bevölkerungszahl, zweiunddreißig Deputierte, jede autonome Republik elf, jedes autonome Gebiet fünf und jeder autonome Bezirk einen Deputierten. Tamara Genijewskaja vertritt als eine von fünf Deputierten das Adygeische Autonome Gebiet.

Nur: Tamara Genijewskaja bringt unsere anthropologischen Erfahrungen völlig durcheinander. Rund und rosig ist sie, blauäugig und blond. Doch das Möbelkombinat `Drushba´ hat einen Parteisekretär mit Menschenkenntnis. Auf unsere noch gar nicht gestellte Frage antwortet er schon: `Tamara lebt seit fünfzehn Jahren in Maikop, oft vergessen wir, dass sie Russin ist. Entscheidend für eine Kandidatur ist nicht die Nationalität, sondern der Wohnsitz und die persönlichen Eigenschaften und Verdienste. Es gibt zum Beispiel in Adygien einen Kolchos, in dem fast ausschließlich Russen leben; der Kolchosvorsitzende aber ist Adyge.

In der Halle vier, in der Tamara als Schleiferin arbeitet, fragen wir Arbeiter und Arbeiterinnen, warum sie Tamara Genijewskaja zur Deputierten wählten. Die Antworten fielen etwa so aus:

`Weil sie hartnäckig und mutig ist.´ - `Weil sie immer Zeit für uns hat.´ - `Tamara fürchtet nicht einmal unseren strengen Direktor Ostapenko.´ - `Sie ist charmant.´- `Weil sie einen Stiefel vertragen kann.´ - `Sie versteht etwas von der Arbeit, deshalb versteht sie auch die Sorgen, die man mit seiner Arbeit haben kann.´- `Sie ist selbst Mutter, da braucht man bei Anliegen solcher Art nicht viele Worte zu machen.´ - `Weil sie jung ist und auch dann hilft, wenn Ältere eine Anliegen nicht verstehen wollen.´

Nach unserer kleinen Umfrage in der Halle vier begeben wir uns in Tamara Genijewskajas gemütliches Deputiertenstübchen; eigenhändig hat sie einen kleinen Imbiss für uns zubereitet. Hier hält Tamara Genijewskaja einmal im Monat ihre offizielle Sprechstunde ab (inoffiziell werden tagtäglich große und kleine Sorgen an sie herangetragen); hier bearbeitet sie die schriftlichen Wähleraufträge, führt akkurat Buch darüber, was erledigt ist und was noch offenblieb. Hier empfängt sie, die Schleiferin, auch `Männer in gehobenen Positionen´, die ihr - manchmal auch recht kleinlaut - Frage und Antwort stehen müssen. Ihr augenblicklich größtes Problem betrifft den eigenen Betrieb.

`Wir werden mit dem anfallenden Holzstaub nicht fertig´, erzählt sie. `Früher, als es in unserem Betrieb noch unzählige Missstände gab, haben wir den Holzstaub nicht zur Kenntnis genommen. Jetzt aber beklagen sich die Arbeiter zu Recht. Innerhalb der nächsten zwei Jahre muss eine technische Lösung gefunden werden.´ Eng gedrängt schwitzen wir in Tamara Genijewskajas Stübchen. Mehr aus Spaß beklage ich mich, dass um uns herum so viele Männer offene Ohren haben. Tamara lacht: `Ein Wort von Frau zu Frau? Da habe ich eine Idee...´- Ich: `Wir schmeißen einfach alle raus.´- Sie: `Aber nein..., das wäre nicht die feine Deputiertenart. Kommen Sie, wir gehen in die Sauna.´

Und so bleiben denn der Betriebsdirektor, der Parteisekretär, einer von der Gewerkschaft, einer vom Komsomol, einer vom Betriebsschutz, Kirimise Shane, Batyrbi Schekultirow, Heinz Krüger und Johann Warkentin allein mit den appetitlichen `schnellen Häppchen´ zurück.

Bei achtzig Grad Hitze schweigen wir uns beide erst einmal tüchtig aus.

 

 

Von Frau zu Frau: In der Sauna mit der Deputierten Tamara Genijewskaja.

Foto: Heinz Krüger

 

Aber nach einem erfrischenden Sprung ins Kaltwasserbecken erzählt Tamara: `Ich bin dreiunddreißig Jahre alt, habe zwei Kinder. Die Tochter ist neun, der Sohn drei. Mein Mann ist Baggerfahrer. Ich habe einen guten Mann. Auch eine gute Schwiegermutter. Sie nehmen mir alle Hausarbeit ab. Ob´s ganz ohne Streit zu Hause abgeht? Nun, meine Familie ist stolz auf mich. Na ja, es kommt schon vor, dass mein Mann ärgerlich ist - wenn´s viele Abende hintereinander spät wird. Wenn ich von `Tatortbesichtigungen´ komme zum Beispiel. Ja, ich bin stolz, als Arbeiterin eine so hohe Funktion auszuüben. Deputierte... Das ist schon etwas. Aber ich möchte auch im Beruf weiterkommen. Gegenwärtig studiere ich am Technikum für Holzverarbeitung. Das ist eine Fachschule. Und danach, na ja, schön wäre schon ein Hochschulstudium. Das Forsttechnische Institut in Moskau, das schwebt mir vor. Mein Mann? Dem macht seine Arbeit Spaß. Der hat nicht so einen Bildungsrappel wie ich. Gott sei Dank. Denn beide, das ginge ja gar nicht. Freizeit? Viel ist da nicht. Ich gehe einmal in der Woche zum Friseur, liebe es, mich modern zu kleiden - das kostet auch Zeit. Und gehenlassen darf ich mich auch nicht. Dann heißt es gleich: Was hat denn Tamara? Hat sie Kummer? Dann werden wir sie mal mit unserem Kram zufrieden lassen. Na, und das darf ja nun wirklich nicht sein. Also strahle ich - auch wenn mir der Hals weh tut. Wenn er nicht allzu weh tut. Vorteile als Deputierte? Vorteile? Ja, die gibt´s. Den Deputierten steht eine Wohnung von mindestens fünfzig Quadratmetern zu, ein Auto und ein kostenloser Erholungsaufenthalt im Jahr. Was glauben Sie, wie viel Leute zu uns nach Hause kommen! Und wie viele Wege ich zu machen habe! Den Erholungsaufenthalt nehme ich selten in Anspruch. Keine Zeit.

Vielleicht hört sich das komisch an... Schließlich bin ich Ehefrau und Mutter, aber als meinen Lebensinhalt betrachte ich die gesellschaftliche Tätigkeit. Ein Leben ohne diese Arbeit kann ich mir gar nicht mehr richtig vorstellen. Natürlich auch kein Leben ohne meinen Mann und ohne meine Kinder. Das ist ja klar. Ach, Sie verstehen das schon. Schließlich lassen Sie ihren Mann ja auch mit der Tochter allein, wenn Sie durch die Gegend reisen... Ich glaube, mir liegt es einfach, meine Nase in alles zu stecken. Wenn ich nicht wiedergewählt werde? Na, dann mache ich irgendwas anderes gesellschaftlich Nützliches.

Bevor die Männer wieder die Ohren spitzen: Ich habe hier im Betrieb jede Unterstützung. Ist wirklich wahr. Aber manchmal gibt´s doch Krach. Manchmal tun sich die Männer ganz schön schwer, sich was von einem `Mädchen´ sagen lassen zu müssen. Wenn ich empfindlich wäre... oder nachtragend..., wer weiß...´"

 

 

Schwerer Abschied (LESEPROBE aus: "Zwischen Weißem Meer und Baikalsee")

 

"1931 reiste die erste internationale Schriftstellerbrigade durch die Sowjetunion. Der einzige deutsche Autor war Karl Grünberg. Drei Jahre zuvor hatte er seinen Erstling "Brennende Ruht" geschrieben, von Literaturwissenschaftlern heute als `bahnbrechende Leistung der proletarisch-revolutionären Literatur´ eingeschätzt. Karl Grünberg war der erste Deutsche, der nach der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution zu Gast bei den Adygen weilte (die man damals gewohnheitsgemäß noch Tscherkessen nannte). In seinem Buch "Zwischen Taiga und Kaukasus schreibt er über die Adygen:

`Wer hat nicht schon von den Tscherkessen gehört? - Ist der Begriff nicht mit exotischer Musik, Wirbeltänzen, wilder Tapferkeit und Räuberromantik verknüpft? So betrachte ich mit andächtiger Neugier die ersten mir begegnenden Tscherkessen: schlanke, sehnige Gestalten, Adlernasen, feurige Augen und bronzene, sonnengegerbte Gesichter...

Der Zarismus hatte dieses stolze Volk in langen, blutigen Eroberungskriegen dezimiert, zwang einen großen Teil zur Auswanderung in die Türkei; die übrigen wurden in die Sümpfe gejagt oder grausam unterjocht.

Mit der Oktoberrevolution schlug auch bei den Tscherkessen die Befreiungsstunde vom nationalen und sozialen Joch. Aber gerade hier versuchten die Interventen und Weißgardisten ihre Positionen zu halten. Doch unmittelbar vor den Mauern Krasnodars, das damals noch Jekaterinodar (Katharinas Geschenk) hieß, fiel der verbrecherische General Kornilow, als er versuchte, die in großen Scharen zu den Rotgardisten übergehenden Tscherkessen-Bauern aufzuhalten.

Seit 1922 hat das Tscherkessenland eine Selbstverwaltung. Ein riesiges Meliorationsprogramm veränderte rasch dieses Gebiet, das sich 350 Kilometer lang zwischen Kuban und Kaukasus hinzieht..."

Wir sind fast ein halbes Jahrhundert später als Karl Grünberg nach Adygien gereist und sind Ende der siebziger Jahre die ersten offiziellen deutschen Gäste nach dem Großen Vaterländischen Krieg. Ungeachtet dessen, welch unbeschreibliches Leid schon ein Jahrzehnt nach dem Besuch eines deutschen Arbeiterschriftstellers deutsche Faschisten auch über das adygeische Sowjetvolk brachten, trägt Tembot Keraschew, der fast Achtzigjährige, die Erinnerung an einen anderen Deutschen im Herzen: an den `warmherzigen Antifaschisten Karl Grünberg´. Ihm, der als Dreißigjähriger Karl Grünberg betreute, gelang es, das Andenken an den Sohn eines sozialdemokratischen Schuhmachers bis auf den heutigen Tag im adygeischen Volk zu bewahren. 1971 eröffnete er gemeinsam mit Kirimise Shane am Pädagogischen Hochschulinstitut in Maikop eine ständige Grünbergausstellung. Alexander Nikitin, Dozent für deutsche Sprache am Hochschulinstitut, führt alle neuen Studenten (und auch uns) erst einmal in diese Ausstellung, um sie vertraut zu machen mit dem ersten deutschen Schriftsteller, der adygeischen Boden betrat und in seinen Reisereportagen innige Worte fand für das kleine adygeische Volk. Kirimise Shane hat für uns - sozusagen in letzter adygeischer Minute - seinen herzlichen Briefwechsel mit der Gattin und der Tochter Karl Grünbergs herausgesucht.

Unsere adygeischen Minuten sind nunmehr gezählt. Ein letztes Mal können wir gespannt sein, was unsere Gastgeber an der Grenze zur Region Krasnodar aus Körben, Kisten, Kannen, Krügen Schmackhaftes zu Tuche oder Tische fördern.

 

 

An jeder Grenze wird der Gast zur geheiligten Person; ganz vorne rechts der Gastgeber Kirimise Shane - der bekannteste Lyriker und "der Mann mit dem gütigsten Herzen" Adygiens (Adygejas)...

Foto: Heinz Krüger

 

Wahr ist, dass wir uns schon auf daheim freuen. Wahr ist aber auch, dass uns der Abschied von den Menschen Adygiens besonders schwer wird. Nicht nur wegen ihrer über alle Schilderungen erhabenen Gastfreundschaft, sondern auch weil es so wärmt, ihr Miteinander zu erleben, zu sehen und zu hören, wie sie ihrem Nächsten begegnen. Immer siehst du sie bemüht, einander zu helfen, einander zu achten, einander Gutes zu tun; es braucht lange, bis Adygen einander ein böses Wort sagen. Vieles hat sich in dem halben Jahrhundert, da Karl Grünberg dieses Land bereiste, im Sinne des Fortschritts verändert. Vieles haben sich die Adygen im Sinne ihrer nationalen Eigenart zu bewahren gewusst. In Karl Grünbergs `Episoden´ ist zu lesen:

`Dann kam der Abschied, der mir noch nirgendwo so schwergefallen ist wie bei diesen liebenswerten Menschen. Die Russen haben uns bei solcher Gelegenheit immer stürmisch umarmt und abgeküsst. Unsere Tscherkessen blieben ganz Haltung und Würde, aber ihr Händedruck und ihre feuchten Augen bewiesen, dass sie es nicht minder herzlich meinten.´

Fünfzig Jahre später - Schriftsteller und Journalisten, Tänzer und Wissenschaftler, Parteisekretäre und Tischler, Pioniere und Deputierte... sind gekommen, um mit uns von entfaltetem Riesentuch den unwiderruflich letzten Happen und letzten Schluck auf adygeischem Boden zu nehmen.

`Auf Wiedersehen!

`Salam aleikum!´ - `Friede sei mit Euch!´

Aus dem kaukasischen Spruchbeutel „Aus Tränen baut man keinen Turm, Weisheiten der Adygen (Adygejer), Dagestaner und Osseten“, Herausgegeben und aus dem Russischen übertragen von Gisela Reller, Illustrationen von Wolfgang Würfel, 2. Auflage, Eulenspiegel Verlag Berlin, 1985. - Gewidmet meinem adygejischen Patenkind Gisela Chamersokowa.

Genießt du im Haus keine Achtung, erwarte auch keine außer Haus.

Wenn du alt bist, sei alt - bist du jung , sein jung.

Wer die Alten die ehrt, wird sich bald schon selber verachten müssen.

Rufe einen alten nicht zu dir, geh zu ihm.

Wenn man den Anführer nicht fürchtet, flößt auch das Heer keine Angst ein.

Wer mit seinen eigenen Angelegenheiten nicht fertig wird, mischt sich gern in fremde.

Ein Angeber sieht den Boden unter seinen eigenen Füßen nicht.

Um Ansehen zu erlangen, genügt es nicht, einen großen Hut zu tragen.

Wie überladen eine Arba* auch sein mag, ein Köfferchen findet immer noch Platz.

Arbeit ehrt jedes Alter.

Wer die Arbeit liebt, steht vor der Sonne auf.

Wer gut arbeitet, kann sich geräuchertes Fleisch leisten.

Wer eine Armee zu versorgen hat, muss sich selbst vieles versagen.

Weißt du einen Augenzeugen, wozu glaubst du einem, der die Sache nur

vom Hörensagen kennt...

Leichter mit einem ganzen Aul** zu streiten als mit der eigenen Frau.

Suche nicht weiter des Bären spuren, wenn du schon seinen Kopf siehst.

Bäume begegnen sich nicht, wohl aber Menschen.

Von Beleidigungen rostet die Seele.

Bellen und Beißen ist zweierlei.

Auch der höchste Berg, den du erklommen, macht dich nicht größer.

Das schönste Kleid ist Bescheidenheit.

Der Bettler kennt viele Flüche, der Faulenzer viele Ausflüchte.

Wider fährt dir Böses, obwohl Gutes beabsichtigt war, halte das Böse für das Gute.

Wer sich an zwei Boote klammert, kann leicht ertrinken.

 

LESEPROBE aus FREIE WELT 21/81: Wie es mit meinem Patenkind

Gisela Chamersokowa und mir weiterging…

"1981, fünf Jahre nach unserer Reise durch Adygien (Adygeja), ist die Familie Chamersokow – Vater Ramasan, Mutter Nurshan, Sohn Murat und Tochter Gisela - inzwischen fünf Jahre alt – drei Wochen lang zu Gast in Berlin bei Gisela Reller und ihrer Familie, Vater: Helmut, Tochter: Katharina. Zu berichten ist, dass wir alle drei Wochen lang harmonisch miteinander auskamen, miteinander aßen, oft adygejisch (denn Nurshan ist Köchin), dass alle immerzu höllische Angst ausstanden, dass Gisela (das Kind aus dem kleinen adygeischen Dorf) unter ein Großstadt-Auto geraten könnte; dass viel gelacht wurde (über Missverständnisse, entstanden durch Vokabelverwechslungen, sowie über den spritzigen Spreewaldfährmann); dass wir gemeinsam schwitzten bei fast 30 Grad und heißen Diskussionen (über Krieg und Frieden); dass wir uns gemeinsam gemahnt fühlten (im Potsdamer Cecilienhof und am Treptower Ehrenmal); dass wir miteinander weinten (in Buchenwald); dass sich uns durch Ramasans Augen das neugebaute und das wunderschön rekonstruierte Berlin in ganz neuem Lichte zeigte (denn Ramasan ist Bauarbeiter). Kurzum: Durch das adygejische Mädchen Gisela wurde die Wohnung einer FREIE WELT-Reporterin im Berliner Stadtbezirk Pankow auch die Wohnung der Chamersokows.

Ankunft der Gäste aus Adygien: Wiedersehen nach fünf Jahren - auf dem Berliner Ostbahnhof. Vorne links mein Patenkind Gisela, daneben meine Tochter Katharina, dahinter von links nach rechts: Giselas Bruder Murat, die Mutter Nurshan, der Vater Ramasan und ich, die deutsche Patenmutter.

Bummel auf dem Berliner Alexanderplatz: ganz rechts Helmut Reller.

Am Alex-Springbrunnen.

Zu Hause in der Pankower Wohnung Gisela (5 Jahre alt) und Katharina (10 Jahre alt) verstehen sich, obwohl sie einander nicht verstehen können, prächtig.

Fotos: Alfred Paszkowiak (2), F. Silberbach (2)

 

 

Letzte Nachrichten: In meinem Gästebuch vom 24. November 2012 und per E-Mail am 20. März 2013

Gisela, inzwischen 36 Jahre alt, verheiratet, teilt mir ihre Skaipe-Adresse mit.

 

 „Die mit vollem Recht weit verbreitete Bewunderung für die kaukasische Schönheit trifft voll und ganz auf das Volk der Adygen zu.“

 

 Moritz Wagner (deutscher Geograph und Naturforscher), 1846.

 

 

Rezensionen und Literaturhinweise (Auswahl) zu den ADYGEJERN (ADYGEN):

 

 

Rezension in meiner Webseite www.reller-rezensionen.de

 

* KATEGORIE BELLETRISTIK: Steffi Chotiwari-Jünger, Die Literaturen der Völker Kaukasiens, Neue Übersetzungen und deutschsprachige Bibliographie, Reichert Verlag, Wiesbaden 2003.

"Steffi Chotiwari-Jünger stellt jede der Literaturen grundsätzlich mit neuen Übersetzungen vor, fast ausschließlich (bis auf ganz wenige Ausnahmen) aus der Originalsprache - wobei die Formulierung, dass die Übersetzung außer von unterschiedlichen Mutter-sprachlern auch meist von ihr, der Herausgeberin, stammt, doch wohl nicht ganz wörtlich gemeint ist. Gemeint ist sicherlich, dass Steffi Chotiwari-Jünger  die Roh- bzw. Interlinearübersetzungen der Muttersprachler korrigierte bzw. nachdichtete. Allerdings hat Frau Dr. Chotiwari-Jünger, die russisch und georgisch beherrscht,  für die armenischen Übersetzungen extra ein Jahr lang armenisch gelernt und für einige andere kaukasische Sprachen Wörterbücher erworben, um die Übersetzungen der Muttersprachler einschätzen und beeinflussen zu können."

In: www.reller-rezensionen.de

 

Literaturhinweise (Auswahl)

 

 * Monika Buttler, Die Kaukasus-Kost der Hundertjährigen, Rezepte für ein langes Leben, Urania Verlag, Berlin 1999.

Die Bewohner des Kaukasus leben nicht nur lange, sondern erhalten sich auch bis ins hohe Alter ihre Lebensfreude und eine beneidenswerte Gesundheit. Die Ernährung spielt dabei eine entscheidende Rolle. Der ausführliche Rezeptteil wird u. a. ergänzt mit einem opulent fotografierten Freundschaftsessen und einem erotischen Menü für zwei Personen, das aus einem Mango-Kefir-Drink, Spargelsuppe, einem Selleriecocktail, Wolfsbarsch mit Safran-Sauce und Reis, Feigen in Granatapfel-Sauce und einem Kardamom-Kaffee besteht...

 

KATEGORIE BELLETRISTIK: Steffi Chotiwari-Jünger (Hrsg.), Die Literaturen der Völker Kaukasiens, Neue Übersetzungen und deutschsprachige Bibliographie, Literatur der Abasiner, Abchasen, Adygen, Agulen, Armenier, Aserbaidshaner, Awaren, Balkaren, Darginer, Georgier, Inguschen, Kabardiner, Karatschaier, Kumyken, Kurden, Lakier, Lesginer, Nogaier, Osseten, Rutulen, Tabassaraner, Taten, Tschetschenen, Ubychen, Uden, Zachuren, Zowatuschen (Bazben)., Reichert Verlag, Wiesbaden 2003.

"Am meisten an diesem außerordentlich arbeitsaufwendigen Buch beeindruckt die gelungene Mischung von Lesevergnügen und Wissenschaftlichkeit. Hier kommt sowohl der Literatur liebende Leser auf seine Kosten als auch der Kaukasusspezialist."

In: www.reller-rezensionen.de

 

* G. Chuzischwili, Kaukasische Schwarzmeerküste, Reiseführer, Aus dem Russischen von Doris Mies, 2. ergänzte und bearbeitete Auflage, Raduga-Verlag, Moskau 1983.

 

Roderich von Erckert, Der Kaukasus und seine Völker, Mit Textabbildungen, etc., Verlag von Paul Frohberg, Leipzig, 1887.

Aus der Einführung: "Ein zweijähriger Aufenthalt auf dem Kaukasus in höherer militärischer Stellung, gab durch dienstliche und private zu wissenschaftlichem Zweck unternommene ausgedehnte Reisen die Möglichkeit und Gelegenheit, Land und Leute in verschiedenen Gegenden und Gruppen zu erforschen und für vieles eine Anschauung zu gewinnen, was ausserhalb der gewöhnlichen Reiserouten liegt. Wenn die Schilderung freilich ein zusammenhängendes, umfassendes Ganzes bilden kann, so darf sie vielleicht den Anspruch erheben, einigen Werth darin zu besitzen, dass sie auf an Ort und Stelle gesammelten persönlichen Angaben und Eindrücken beruht, dass mit eigenen Augen geschaut, mit eigenem Ohr gehört wurde. (...) Anstrengung, Zeit und materielle Opfer, selbst Gefahr bei lokalen Schwierigkeiten wurden nicht gescheut, - in erster Linie aber anthropologische und ethnographische Forschungen angestellt, um möglichst alle noch wenige bekannte oder in vielem unbekannte Völker und Volksstämme auf dem Kamm des Gebirges und dessen Nordabhängen zu besuchen."

* Manfred Quiring, Der vergessene Völkermord, Sotschi und die Tragödie der Tscherkessen, Mit einem Vorwort von Cem Özdemir, Ch. Links Verlag, Berlin 2013.

Dort, wo 2014 die Olympischen Winterspiele stattfanden, war einst ein Schlachtfeld. Russische Truppen hielten bei Sotschi 1864 ihre Siegesparade ab, nachdem sie die Tscherkessen aus ihrer angestammten Heimat vertrieben hatten. Hunderttausende fanden den Tod oder mussten in die Türkei und den Nahen Osten fliehen. Manfred Quiring erzählt die bewegte Geschichte des Kaukasusvolkes und wirft einen Blick auf die aktuelle Situation der Tscherkessen, die heute über die ganze Welt verstreut leben. Er schildert ihren Kampf um die Anerkennung dieses Völkermordes und gegen die Verdrängung der Ereignisse in der Geschichtspolitik Putins. Das Buch ist voller bisher auch wenig bekannter Fakten und sehr lesbar geschrieben. - Mit einem Vorwort von Cem Özdemir, dem Bundesvorsitzenden von Bündnis 90/Die Grünen, dessen tscherkessische Vorfahren väterlicherseits im 19. Jahrhundert aus dem Kaukasus in die Türkei vertrieben worden sind.

 

* Gisela Reller, Hrsg. und aus dem Russischen übertragen, Aus Tränen baut man keinen Turm, Ein kaukasischer Spruchbeutel, Weisheiten der Adygen, Dagestaner und Osseten, Illustrationen von Wolfgang Würfel, Eulenspiegel Verlag,  Berlin 1985, 2. Auflage

Zu den Adygen aus der Vorbemerkung: "Die Beamten der zaristischen Regierung, gewohnt, jedwede ethnische Eigenheiten der kleinen Völkerschaften zu ignorieren, bezeichneten sowohl die Adygen als auch die Abchasen, Kabardiner und eigentlichen Tscherkessen allesamt als `Schwarzmeer-Tscherkessen´. Und außerdem: Wo keine Adygen waren, konnten keine ausgerottet werden... Gab es zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch zweieinhalb Millionen Adygen, so waren sie bereits ein Jahrhundert später bis auf eine kleine Völkerschaft dezimiert."

 

 

Ein adygejisches Sprichwort lautet: Wer eine besonders feine Tscherkesska* trägt, wird öfter gegrüßt.

Illustration: Wolfgang Würfel

 

Tscherkesska = mit Patronentaschen die Nationaltracht des kaukasischen Mannes, schwarz für alltags, weiß für feierliche Anlässe.

 

 

 

 

Bibliographie zu Gisela Reller

 

Bücher als Autorin:

 

Länderbücher:

 

* Zwischen Weißem Meer und Baikalsee, Bei den Burjaten, Adygen und Kareliern,  Verlag Neues Leben, Berlin 1981, mit Fotos von Heinz Krüger und Zeichnungen von Karl-Heinz Döhring.

 

* Diesseits und jenseits des Polarkreises, bei den Südosseten, Karakalpaken, Tschuktschen und asiatischen Eskimos, Verlag Neues Leben, Berlin 1985, mit Fotos von Heinz Krüger und Detlev Steinberg und Zeichnungen von Karl-Heinz Döhring.

 

* Von der Wolga bis zum Pazifik, bei Tuwinern, Kalmyken, Niwchen und Oroken, Verlag der Nation, Berlin 1990, 236 Seiten mit Fotos von Detlev Steinberg und Zeichnungen von Karl-Heinz Döhring.

 

Biographie:

 

* Pater Maksimylian Kolbe, Guardian von Niepokalanów und Auschwitzhäftling Nr. 16 670, Union Verlag, Berlin 1984, 2. Auflage.

 

 

... als Herausgeberin:

 

Sprichwörterbücher:

 

* Aus Tränen baut man keinen Turm, ein kaukasischer Spruchbeutel, Weisheiten der Adygen, Dagestaner und Osseten, Eulenspiegel Verlag Berlin in zwei Auflagen (1983 und 1985), von mir übersetzt und herausgegeben, illustriert von Wolfgang Würfel. Von den adygeischen Sprichwörtern fertigte der Adyge Leonid Chapatchew eine Interlinearübersetzung ins Russische an. Wir hatten uns 1978 kennengelernt, als Leonid in Grimmen als Dolmetscher tätig war. FREIE WELT lud ihn dann ein, "Fortuna" zu spielen und aus 50 426 Einsendern die Gewinner unseres Preisrätsels zu ziehen. Seitdem, seit 36 Jahren, sind wir befreundet!

* Dein Freund ist dein Spiegel, ein Sprichwörter-Büchlein mit 111 Sprichwörtern der Adygen, Dagestaner Kalmyken, Karakalpaken, Karelier, Osseten, Tschuktschen und Tuwiner, von mir gesammelt und zusammengestellt, mit einer Vorbemerkung und ethnographischen Zwischentexten versehen, die Illustrationen stammen von Karl Fischer, die Gestaltung von Horst Wustrau, Herausgeber ist die Redaktion FREIE WELT, Berlin 1986.

 * Liebe auf Russisch, ein in Leder gebundenes Mini-Bändchen im Schuber mit Sprichwörtern zum Thema „Liebe“, Buchverlag Der Morgen, Berlin 1990, von mir (nach einer Interlinearübersetzung von Gertraud Ettrich) in Sprichwortform gebracht, herausgegeben und mit einem Nachwort versehen, illustriert von Annette Fritzsch.

Aphorismenbuch:

* 666 und sex mal Liebe, Auserlesenes, 2. Auflage, Mitteldeutscher Verlag Halle/Leipzig, 200 Seiten mit Vignetten und Illustrationen von Egbert Herfurth.

 

... als Mitautorin:

 

Kinderbücher:

 

* Warum? Weshalb? Wieso?, Ein Frage-und-Antwort-Buch für Kinder, Band 1 bis 5, Herausgegeben von Carola Hendel, reich illustriert, Verlag Junge Welt, Berlin 1981 -1989.

 

Sachbuch:

 

* Die Stunde Null, Tatsachenberichte über tapfere Menschen in den letzten Tagen des zweiten Weltkrieges, Hrsg. Ursula Höntsch, Verlag der Nation 1966.

 

* Kuratorium zur kulturellen Unterstützung deutscher Minderheiten im Ausland e. V., Broschüre, Herausgegeben von Leonhard Kossuth unter Mitarbeit von Gotthard Neumann, Nora Verlag 2008.

 

 

 

... als Verantwortliche Redakteurin:

 

* Leben mit der Erinnerung, Jüdische Geschichte in Prenzlauer Berg, Edition  Hentrich, Berlin 1997, mit zahlreichen Illustrationen.

 

* HANDSCHLAG, Vierteljahreszeitung für deutsche Minderheiten im Ausland, Herausgegeben vom Kuratorium zur kulturellen Unterstützung deutscher Minderheiten im Ausland e. V., Berlin 1991 - 1993.

 

 

Die erste Ausgabe von HANDSCHLAG liegt vor. Von links: Dr. Gotthard Neumann, Leonhard Kossuth (Präsident), Horst Wustrau

(Gestalter von HANDSCHLAG), Gisela Reller, Dr. Erika Voigt

(Mitarbeiter des Kuratoriums zur kulturellen Unterstützung deutscher Minderheiten im Ausland e. V.).

Foto aus: Rellers Völkerschafts-Archiv

 

 

 

 

Pressezitate (Auswahl)

 zu Gisela Rellers Buchveröffentlichungen:

 

Dieter Wende in der „Wochenpost“ Nr. 15/1985:

„Es ist schon eigenartig, wenn man in der Wüste Kysyl-Kum von einem Kamelzüchter gefragt wird: `Kennen Sie Gisela Reller?´ Es ist schwer, dieser Autorin in entlegenen sowjetischen Regionen zuvorzukommen. Diesmal nun legt sie mit ihrem Buch Von der Wolga bis zum Pazifik Berichte aus Kalmykien, Tuwa und von der Insel Sachalin vor. Liebevolle und sehr detailgetreue Berichte auch vom Schicksal kleiner Völker. Die ethnografisch erfahrene Journalistin serviert Besonderes. Ihre Erzählungen vermitteln auch Hintergründe über die Verfehlungen bei der Lösung des Nationalitätenproblems.“

B(erliner) Z(eitung) am Abend vom 24. September 1981:

"Gisela Reller, Mitarbeiterin der Illustrierten FREIE WELT, hat autonome Republiken und gebiete kleiner sowjetischer Nationalitäten bereist: die der Burjaten, Adygen und Karelier. Was sie dort ... erlebte und was Heinz Krüger fotografierte, ergíbt den informativen, soeben erschienenen Band Zwischen Weißem Meer und Baikalsee."

Sowjetliteratur (Moskau)Nr. 9/1982:

 "(...) Das ist eine lebendige, lockere Erzählung über das Gesehene und Erlebte, verflochten mit dem reichhaltigen, aber sehr geschickt und unaufdringlich dargebotenen Tatsachenmaterial. (...) Allerdings verstehe ich sehr gut, wie viel Gisela Reller vor jeder ihrer Reisen nachgelesen hat und wie viel Zeit nach der Rückkehr die Bearbeitung des gesammelten Materials erforderte. Zugleich ist es ihr aber gelungen, die Frische des ersten `Blickes´ zu bewahren und dem Leser packend das Gesehene und Erlebte mitzuteilen. (...) Es ist ziemlich lehrreich - ich verwende bewusst dieses Wort: Vieles, was wir im eigenen Lande als selbstverständlich aufnehmen, woran wir uns ja gewöhnt haben und was sich unserer Aufmerksamkeit oft entzieht, eröffnet sich für einen Ausländer, sei es auch als Reisender, der wiederholt in unserem Lande weilt, sozusagen in neuen Aspekten, in neuen Farben und besitzt einen besonderen Wert. (...) Mir gefällt ganz besonders, wie gekonnt sich die Autorin an literarischen Quellen, an die Folklore wendet, wie sie in den Text ihres Buches Gedichte russischer Klassiker und auch wenig bekannter nationaler Autoren, Zitate aus literarischen Werken, Märchen, Anekdoten, selbst Witze einfügt. Ein treffender während der Reise gehörter Witz oder Trinkspruch verleihen dem Text eine besondere Würze. (...) Doch das Wichtigste im Buch Zwischen Weißem Meer und Baikalsee sind die Menschen, mit denen Gisela Reller auf ihren Reisen zusammenkam. Unterschiedlich im Alter und Beruf, verschieden ihrem Charakter und Bildungsgrad nach sind diese Menschen, aber über sie alle vermag die Autorin kurz und treffend mit Interesse und Sympathie zu berichten. (...)"

Neue Zeit vom 18. April 1983:

„In ihrer biographischen Skizze über den polnischen Pater Maksymilian Kolbe schreibt Gisela Reller (2. Auflage 1983) mit Sachkenntnis und Engagement über das Leben und Sterben dieses außergewöhnlichen Paters, der für den Familienvater Franciszek Gajowniczek freiwillig in den Hungerbunker von Auschwitz ging.“

Der Morgen vom 7. Februar 1984:

„`Reize lieber einen Bären als einen Mann aus den Bergen´. Durch die Sprüche des Kaukasischen Spruchbeutels weht der raue Wind des Kaukasus. Der Spruchbeutel erzählt auch von Mentalitäten, Eigensinnigkeiten und Bräuchen der Adygen, Osseten und Dagestaner. Die Achtung vor den Alten, die schwere Stellung der Frau, das lebensnotwendige Verhältnis zu den Tieren. Gisela Reller hat klug ausgewählt.“

1985 auf dem Solidaritätsbasar auf dem Berliner Alexanderplatz: Gisela Reller (vorne links) verkauft ihren „Kaukasischen Spruchbeutel“ und 1986 das extra für den Solidaritätsbasar von ihr herausgegebene Sprichwörterbuch „Dein Freund ist Dein Spiegel“.

Foto: Alfred Paszkowiak

 Neues Deutschland vom 15./16. März 1986:

"Vor allem der an Geschichte, Bräuchen, Nationalliteratur und Volkskunst interessierte Leser wird manches bisher `Ungehörte´ finden. Er erfährt, warum im Kaukasus noch heute viele Frauen ein Leben lang Schwarz tragen und was es mit dem `Ossetenbräu´ auf sich hat, weshalb noch 1978 in Nukus ein Eisenbahnzug Aufsehen erregte und dass vor Jahrhunderten um den Aralsee fruchtbares Kulturland war, dass die Tschuktschen vier Begriff für `Freundschaft´, aber kein Wort für Krieg besitzen und was ein Parteisekretär in Anadyr als notwendigen Komfort, was als entbehrlichen Luxus ansieht. Großes Lob verdient der Verlag für die großzügige Ausstattung von Diesseits und jenseits des Polarkreises.“

 

 Gisela Reller während einer ihrer über achthundert Buchlesungen in der Zeit von 1981 bis 1991.

Foto aus: Rellers Völkerschafts-Archiv

 

Berliner Zeitung vom 2./3. Januar 1988:

„Gisela Reller hat klassisch-deutsche und DDR-Literatur auf Liebeserfahrungen durchforscht und ist in ihrem Buch 666 und sex mal Liebe 666 und sex mal fündig geworden. Sexisch illustriert, hat der Mitteldeutsche Verlag Halle alles zu einem hübschen Bändchen zusammengefügt.“

Neue Berliner Illustrierte (NBI) Nr. 7/88:

„Zu dem wohl jeden bewegenden Thema finden sich auf 198 Seiten 666 und sex mal Liebe mannigfache Gedanken von Literaten, die heute unter uns leben, sowie von Persönlichkeiten, die sich vor mehreren Jahrhunderten dazu äußerten.“

Das Magazin Nr. 5/88.

"`Man gewöhnt sich daran, die Frauen in solche zu unterscheiden, die schon bewusstlos sind, und solche, die erst dazu gemacht werden müssen. Jene stehen höher und gebieten dem Gedenken. Diese sind interessanter und dienen der Lust. Dort ist die Liebe Andacht und Opfer, hier Sieg und Beute.´ Den Aphorismus von Karl Kraus entnahmen wir dem Band 666 und sex mal Liebe, herausgegeben von Gisela Reller und illustriert von Egbert Herfurth."

 

Schutzumschlag zum „Buch 666 und sex mal Liebe“ .

Zeichnung: Egbert Herfurth

 

FÜR DICH, Nr. 34/89:

 

"Dem beliebten Büchlein 666 und sex mal Liebe entnahmen wir die philosophischen und frechen Sprüche für unser Poster, das Sie auf dem Berliner Solidaritätsbasar kaufen können. Gisela Reller hat die literarischen Äußerungen zum Thema Liebe gesammelt, Egbert Herfurth hat sie trefflich illustriert."

Messe-Börsenblatt, Frühjahr 1989:

"Die Autorin – langjährige erfolgreiche Reporterin der FREIEN WELT - ist bekannt geworden durch ihre Bücher Zwischen Weißem Meer und Baikalsee und Diesseits und jenseits des Polarkreises. Diesmal schreibt die intime Kennerin der Sowjetunion in ihrem Buch Von der Wolga bis zum Pazifik über die Kalmyken, Tuwiner und die Bewohner von Sachalin, also wieder über Nationalitäten und Völkerschaften. Ihre Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft wird uns in fesselnden Erlebnisberichten nahegebracht."

Im Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel schrieb ich in der Ausgabe 49 vom 7. Dezember 1982 unter der Überschrift „Was für ein Gefühl, wenn Zuhörer Schlange stehen“:

„Zu den diesjährigen Tagen des sowjetischen Buches habe ich mit dem Buch Zwischen Weißem Meer und Baikalsee mehr als zwanzig Lesungen bestritten. (…) Ich las vor einem Kreis von vier Personen (in Klosterfelde) und vor 75 Mitgliedern einer DSF-Gruppe in Finow; meine jüngsten Zuhörer waren Blumberger Schüler einer 4. Klasse, meine älteste Zuhörerin (im Schwedter Alten- und Pflegeheim) fast 80 Jahre alt. Ich las z.B. im Walzwerk Finow, im Halbleiterwerk Frankfurt/Oder, im Petrolchemischen Kombinat Schwedt; vor KIM-Eiersortierern in Mehrow, vor LPG-Bauern in Hermersdorf, Obersdorf und Bollersdorf; vor zukünftigen Offizieren in Zschopau; vor Forstlehrlingen in Waldfrieden; vor Lehrlingen für Getreidewirtschaft in Kamenz, vor Schülern einer 7., 8. und 10 Klasse in Bernau, Schönow und Berlin; vor Pädagogen in Berlin, Wandlitz, Eberswalde. - Ich weiß nicht, was mir mehr Spaß gemacht hat, für eine 10. Klasse eine Geographiestunde über die Sowjetunion einmal ganz anders zu gestalten oder Lehrern zu beweisen, dass nicht einmal sie alles über die Sowjetunion wissen – was bei meiner Thematik – `Die kleinen sowjetischen Völkerschaften!´ – gar nicht schwer zu machen ist. Wer schon kennt sich aus mit Awaren und Adsharen, Ewenken und Ewenen, Oroken und Orotschen, mit Alëuten, Tabassaranern, Korjaken, Itelmenen, Kareliern… Vielleicht habe ich es leichter, Zugang zu finden als mancher Autor, der `nur´ sein Buch oder Manuskript im Reisegepäck hat. Ich nämlich schleppe zum `Anfüttern´ stets ein vollgepacktes Köfferchen mit, darin von der Tschuktschenhalbinsel ein echter Walrosselfenbein-Stoßzahn, Karelische Birke, burjatischer Halbedelstein, jakutische Rentierfellbilder, eskimoische Kettenanhänger aus Robbenfell, einen adygeischen Dolch, eine karakalpakische Tjubetejka, der Zahn eines Grauwals, den wir als FREIE WELT-Reporter mit harpuniert haben… - Schön, wenn alles das ganz aufmerksam betrachtet und behutsam befühlt wird und dadurch aufschließt für die nächste Leseprobe. Schön auch, wenn man schichtmüde Männer nach der Veranstaltung sagen hört: `Mensch, die Sowjetunion ist ja interessanter, als ich gedacht habe.´ Oder: `Die haben ja in den fünfundsechzig Jahren mit den `wilden´ Tschuktschen ein richtiges Wunder vollbracht.´ Besonders schön, wenn es gelingt, das `Sowjetische Wunder´ auch denjenigen nahezubringen, die zunächst nur aus Kollektivgeist mit ihrer Brigade mitgegangen sind. Und: Was für ein Gefühl, nach der Lesung Menschen Schlange stehen zu sehen, um sich für das einzige Bibliotheksbuch vormerken zu lassen. (Schade, wenn man Kauflustigen sagen muss, dass das Buch bereits vergriffen ist.) – Dank sei allen gesagt, die sich um das zustande kommen von Buchlesungen mühen – den Gewerkschaftsbibliothekaren der Betriebe, den Stadt- und Kreisbibliothekaren, den Buchhändlern, die oft aufgeregter sind als der Autor, in Sorge, `dass auch ja alles klappt´. – Für mich hat es `geklappt´, wenn ich Informationen und Unterhaltung gegeben habe und Anregungen für mein nächstes Buch mitnehmen konnte.“

Die Rechtschreibung der Texte wurde behutsam der letzten Rechtschreibreform angepasst.

Die ADYGEJER wurden am 15.05.2013 ins Netz gestellt.  Die letzte Bearbeitung erfolgte am 16.01.2016.

Die Weiterverwertung der hier veröffentlichten Texte, Übersetzungen, Nachdichtungen, Fotos, Zeichnungen, Illustrationen... ist nur mit Verweis auf die Internetadresse www.reller-rezensionen.de gestattet - und mit  korrekter Namensangabe des jeweils genannten geistigen Urhebers. 

Zeichnung: Karl-Heinz Döhring