Vorab!

Leider kommt im Internet bei meinem (inzwischen veralteten) FrontPage-Programm  längst nicht alles so, wie von mir in html angegeben. Farben kommen anders, als von mir geplant, Satzbreiten wollen nicht so wie von mir markiert, Bilder kommen manchmal an der falschen  Stelle, und - wenn  ich  Pech  habe  -  erscheint  statt  des  Bildes  gar  eine  Leerstelle.

Was tun? Wer kann helfen?

 

*

Wird laufend bearbeitet!

 

 

Wir sind TSCHERKESSEN: Die sechsjährige Alita

und der fünfzehnjährige Alim.

 

   

 

 Fotos: Heinz Krüger

Zeichnung: Karl-Heinz Döhring

Wenn wir für das eine Volk eine Zuneigung oder gegen das andere eine Abneigung hegen, so beruht das, ob wir uns dessen bewusst sind oder nicht, auf dem, was wir von dem jeweiligen Volk wissen oder zu wissen glauben. Das ist – seien wir ehrlich – oft sehr wenig, und manchmal ist dieses Wenige auch noch falsch.  

Ich habe für die Berliner Illustrierte FREIE WELT jahrelang die Sowjetunion bereist, um – am liebsten - über abwegige Themen zu berichten: über Hypnopädie und Suggestopädie, über Geschlechtsumwandlung und Seelenspionage, über Akzeleration und geschlechtsspezifisches Kinderspielzeug... Außerdem habe ich mit jeweils einem deutschen und einem Wissenschaftler aus dem weiten Sowjetland vielteilige Lehrgänge erarbeitet.* Ein sehr interessantes Arbeitsgebiet! Doch 1973, am letzten Abend meiner Reise nach Nowosibirsk – ich hatte viele Termine in Akademgorodok, der russischen Stadt der Wissenschaften – machte ich einen Abendspaziergang entlang des Ob. Und plötzlich wurde mir klar, dass ich zwar wieder viele Experten kennengelernt hatte, aber mit der einheimischen Bevölkerung kaum in Kontakt gekommen war.  

Da war in einem magischen Moment an einem großen sibirischen Fluss - Angesicht in Angesicht mit einem kleinen (grauen!) Eichhörnchen - die große FREIE WELT-Völkerschafts-Serie** geboren!  

Und nun reiste ich ab 1975 jahrzehntelang zu zahlreichen Völkern des Kaukasus, war bei vielen Völkern Sibiriens, war in Mittelasien, im hohen Norden, im Fernen Osten und immer wieder auch bei den Russen. 

Nach dem Zerfall der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken zog es mich – nach der wendegeschuldeten Einstellung der FREIEN WELT***, nun als Freie Reisejournalistin – weiterhin in die mir vertrauten Gefilde, bis ich eines Tages mehr über die westlichen Länder und Völker wissen wollte, die man mir als DDR-Bürgerin vorenthalten hatte.

Nach mehr als zwei Jahrzehnten ist nun mein Nachholebedarf erst einmal gedeckt, und ich habe das Bedürfnis, mich wieder meinen heißgeliebten Tschuktschen, Adygen, Niwchen, Kalmyken und Kumyken, Ewenen und Ewenken, Enzen und Nenzen... zu widmen. 

Deshalb werde ich meiner Webseite www.reller-rezensionen.de (mit inzwischen weit mehr als fünfhundert Rezensionen), die seit 2002 im Netz ist, ab 2013 meinen journalistischen Völkerschafts-Fundus von fast einhundert Völkern an die Seite stellen – mit ausführlichen geographischen und ethnographischen Texten, mit Reportagen, Interviews, Sprichwörtern, Märchen, Gedichten, Literaturhinweisen, Zitaten aus längst gelesenen und neu erschienenen Büchern; so manches davon, teils erstmals ins Deutsche übersetzt, war bis jetzt – ebenfalls wendegeschuldet – unveröffentlicht geblieben. 

Sollten sich in meinem Material Fehler oder Ungenauigkeiten eingeschlichen haben, teilen Sie mir diese bitte am liebsten in meinem Gästebuch oder per E-Mail gisela@reller-rezensionen.de mit. Überhaupt würde ich mich über ein Feedback freuen!

Gisela Reller 

    * Lernen Sie Rationelles Lesen" / "Lernen Sie lernen" / "Lernen Sie reden" / "Lernen Sie essen" / "Lernen Sie, nicht zu rauchen" / "Lernen Sie schlafen" / "Lernen Sie logisches Denken".

 

  ** Im 1999 erschienenen Buch „Zwischen `Mosaik´ und `Einheit´. Zeitschriften in der DDR“ von Simone Barck, Martina Langermann, Siegfried Lokatis (Hrsg.), erschienen im Berliner Ch. Links Verlag, ist eine Tabelle veröffentlicht, aus der hervorgeht, dass die Völkerschaftsserie der FREIEN WELT von neun vorgegebenen Themenkreisen an zweiter Stelle in der Gunst der Leser stand – nach „Gespräche mit Experten zu aktuellen Themen“.

(Quelle: ZA Universität Köln, Studie 6318)

 

*** Christa Wolf zur Einstellung der Illustrierten FREIE WELT in ihrem Buch "Auf dem Weg nach Tabou, Texte 1990-1994", Seite 53/54: „Aber auf keinen Fall möchte ich den Eindruck erwecken, in dieser Halbstadt werde nicht mehr gelacht. Im Gegenteil! Erzählt mir doch neulich ein Kollege aus meinem Verlag (Helmut Reller) – der natürlich wie zwei Drittel der Belegschaft längst entlassen ist –, daß nun auch seine Frau (Gisela Reller), langjährige Redakteurin einer Illustrierten (FREIE WELT) mitsamt der ganzen Redaktion gerade gekündigt sei: Die Zeitschrift werde eingestellt. Warum wir da so lachen mußten? Als im Jahr vor der `Wende´ die zuständige ZK-Abteilung sich dieser Zeitschrift entledigen wollte, weil sie, auf Berichterstattung aus der Sowjetunion spezialisiert, sich als zu anfällig erwiesen hatte, gegenüber Gorbatschows Perestroika, da hatten der Widerstand der Redaktion und die Solidarität vieler anderer Journalisten das Blatt retten können. Nun aber, da die `Presselandschaft´ der ehemaligen DDR, der `fünf neuen Bundesländer´, oder, wie der Bundesfinanzminister realitätsgerecht sagt: `des Beitrittsgebiets´, unter die vier großen westdeutschen Zeitungskonzerne aufgeteilt ist, weht ein schärferer Wind. Da wird kalkuliert und, wenn nötig, emotionslos amputiert. Wie auch die Lyrik meines Verlages (Aufbau-Verlag), auf die er sich bisher viel zugute hielt: Sie rechnet sich nicht und mußte aus dem Verlagsprogramm gestrichen werden. Mann, sage ich. Das hätte sich aber die Zensur früher nicht erlauben dürfen! – "Das hätten wir uns von der auch nicht gefallen lassen", sagt eine Verlagsmitarbeiterin.

Wo sie recht hat, hat sie recht.“

 

 

Zeichnung: Karl-Heinz Döhring

"Sollte nicht endlich die Zeit kommen, wo die herrlichen Thäler und die romantischen Berge des Kaukasus, sobald Friede in ihnen herrscht und die Völker, welche die Leiden des Krieges so lange standhaft erduldet haben, in ihrer asiatischen Schweiz sich feiner Segnungen erfreuen und gleich der Schweiz Europa´s das Ziel aller der Reisenden werden, welchen das jetzt vielfach bereiste Alpenland des Westens hinlänglich bekannt ißt?"

Karl Koch in: Die kaukasischen Länder und Armenien, 1855

Wenn Sie sich die folgenden Texte zu Gemüte geführt und Lust bekommen haben,  Karatschajewo-Tscherkessien zu bereisen und auch die TSCHERKESSEN  kennenzulernen,  sei Ihnen das Reisebüro ? empfohlen; denn – so lautet ein tscherkessisches Sprichwort -

 

Die Leidenschaft des Reisens ist kein Laster.

 

(Hier könnte Ihre Anzeige stehen!)

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Die TSCHERKESSEN… (Eigenbezeichnung: Adyge)

 

Einst war die Bezeichnung "tscherkess" zusammenfassender Terminus für die Bestimmung zahlreicher adygeischer ethnischer Gruppen (Stämme).

"Die Tscherkessen wurden früher (...) ihres vornehmen Aeussern und Wesens, ihrer Freiheitsliebe und des hervortretenden kriegerischen und ritterliches Sinnes, vielfach poetisch verherrlicht. (...) Ebenso übertrieben waren aber auch die vielfach russischerseits verbreiteten Mitteilungen, welche die Tscherkessen als arge und schlimme Räuber darstellten und alle besseren, edleren und auch kulturellen Vorzüge dieses Stammes verschwiegen."

Roderich von Erckert (1821-1900; deutscher Ethnograph, Kartograph und Offizier in russischen Diensten)

in: Der Kaukasus und seine Völker, 1887

Es gibt zwölf tscherkessische Stämme, zu denen auch die eigentlichen Tscherkessen gehören.

 

Die zwölf tscherkessischeN Stämme:

 

  1. die Abadzechen oder Azachen

       2. die Beslenejer

      3. die Bjedughen

     4. die Hatkuajer

       5. die Kabardiner

        6. die Makhoscher

       7. die Mamkeyher

      8. die Natkhuajer

       9. die Schapsugen (Adygen)

10. die Temirgojer oder Chemgujer

11. die Ubychen

         12. die Yecerikahuajer

 

Sechs dieser Stämme (die Hatkuajer, Makhoscher, Mamkeyher, Natkhuajer, Ubychen und Yecerikhuajer) sind mehrheitlich in die Diaspora gegangen; die wenigen Zurückgebliebenen schlossen sich anderen Stämmen an; die Ubychen gelten als ausgestorben. Die anderen sechs Stämme leben noch heute im Kaukasus, u.a. die Kabardiner in der Republik der Kabardiner und Balkaren, die Adygen in der Republik Adygeja, die Tscherkessen in der Republik der Karatschaier und Tscherkessen. - Heute heißen Tscherkessen nur noch die Bewohner der autonomen Karatschaiisch-Tscherkessischen Republik, sie formierten sich aus den westlichen Adygejern (Adygen). Die Selbstbezeichnung der Adygejer, Kabardiner und Tscherkessen ist auch heute noch einheitlich "adyge". - Bis Mitte des 19. Jahrhunderts besiedelten die Tscherkessen das Gebiet zwischen Schwarzem Meer, Asowschen Meer, Kuban und Terek, den Rayon Krasnodar bis nach Nordossetien (Mosdok). - Nach den Tscherkessen und ihren Stämmen wurden drei kleine Teilrepubliken der Russischen Föderation benannt: Kabardino-Balkarien, Karatschai-Tscherkessien und Adygeja. - Die Herkunft der Bezeichnung „Tscherkessen“ oder englisch „Circassians“ ist umstritten, jedenfalls tauchte sie im 13./14. Jahrhundert auf, woraus sich dann fast alle Bezeichnungen in europäischen und orientalischen Sprachen entwickelten.

Zitat: "`Tscherkessen? Tscherkessen? Nie gehört´, vernahm ich bei meinen Recherchen zu diesem Buch nicht nur in Deutschland, sondern auch in Russland immer wieder. -  Auch um den Begriff `Tscherkesse´ herrscht in den Medien und auch in der Literatur einige Verwirrung. Der russische Romanautor Lew Tolstoi behauptete sogar, es gebe zwar Tschetschenen, Abadzechen und Kumyken, aber keine Tscherkessen. Hier irrte Tolstoi. `Tscherkessen´ (englisch Circassian) ist der Oberbegriff für mehrere kaukasische Stämme wie Kabardiner, Schapsugen und Ubychen. Sie selbst bezeichnen sich in ihrer Sprache als Adygejer. Das Exekutivkomitee der Internationalen Tscherkessischen Assoziation empfahl im Jahr 2011 allen Adygejern, sich im Russischen und in anderen Sprachen Tscherkessen zu nennen. Wohl, um im Ausland die Begriffsverwirrung zu beseitigen."

Manfred Quiring in: Der vergessene Völkermord, Sotschi und

die Tragödie der Tscherkessen, 2013

 

"Tscherkessen" - Gemälde von J. Stanislau Bell (1837/39).

Reproduktion aus: Rellers Völkerschafts-Archiv

 

Im Kaukasus ist nur eine Minderheit der Tscherkessen verblieben. Von den 893 000 Einwohnern der drei genannten Republiken sind etwa 498 000 Tscherkessen; weitere 10 000 Tscherkessen leben in der Umgebung der Stadt Tuapse an der Schwarzmeerküste, wenige Tausend Tscherkessen  in der Stawropoler Region, in Nordossetien und in Moskau. Bis auf Kabardino-Balkarien sind die Tscherkessen überall in der ehemaligen Sowjetunion Minderheiten.

"Wenn wir nachmittags schulfrei hatten, dann kratzten wir die fünfzig Pfennig Eintrittsgeld zusammen und begaben uns zu den wilden Völkerschaften, zu den Tscherkessen im Zoologischen Garten. – Da, wo jetzt das große Kino der Ufa steht, jagten auf einem freien Feld, von Zuschauern umsäumt, die wilden Völker auf ihren Mustangs einher. Aus friedlichen Hütten stieg romantischer Rauch gen Himmel, schmutzige, aber furchtbar interessante Tscherkessenfrauen verkauften Ansichtspostkarten und benahmen sich auch sonst recht tscherkessisch. Die wilden Reiter schossen entsetzlich viele Platzpatronen in die Luft; kurz, es ging ganz so zu, wie sich Karl May aus Radebeul den Kaukasus vorstellt. Und wir waren beseligt und konnten gar nicht genug bekommen…“

Ignaz Wrobel (Kurt Tucholsky) in der Berliner Volkszeitung

 vom  15. Februar 1920

Bevölkerung: Bei den  Volkszählungen von  1926 und 1939  wurden die Tscherkessen zu den Adygen gezählt;  1959    gaben sich 28 986   Personen als Tscherkessen aus;  1970  waren es   38 356; 1979 gleich 44 572; 1989 gleich 50 572; 2002 gleich 60 517;  nach der letzten Volkszählung von 2010 gaben sich 73 184  Personen als Tscherkessen aus.

"Der Nordkaukasus stellt, was Natur, Geschichte und besonders die ethnische Zusammensetzung der Bevölkerung anbelangt, eine außergewöhnlich interessante Region dar. Hier leben nur 6 Prozent der sowjetischen Bevölkerung, der Zahl der Nationalitäten und Völkerschaften nach aber findet man seinesgleichen im Lande nicht. Besonders bunt ist die nationale Zusammensetzung in den Gebirgsgegenden. Kurz nach der Errichtung der Sowjetmacht wurden hier autonome Republiken und Gebiete gebildet. Eine autonome Republik - das ist ein gleichberechtigter Sowjetstaat, der auf der Grundlage politischer Autonomie im Bestand einer Unionsrepublik in die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken eingegliedert ist. Jede dieser Republiken ist im Nationalitätensowjet des Obersten Sowjets der UdSSR direkt durch 11 Abgeordnete vertreten, jedes autonome Gebiet durch 5, unabhängig von seiner Einwohnerzahl."

Aus: Sowjetliteratur 1/1972

Ende der 1960er Jahre emigrierten Tscherkessen aus der Türkei in Länder der Europäischen Union. Über die Gesamtzahl der in Europa lebenden Tscherkessen gibt es keine genauen Angaben, man geht davon aus, dass in Europa etwa 10 000 Tscherkessen leben, vorwiegend in Deutschland und in Holland. Die Tscherkessischen Siedlungsgebiete reichen heute nicht mehr bis zur Olympiastadt Sotschi, liegen aber nahe der Schwarzmeerküste. - In allen Gebieten, in denen Tscherkessen leben, sind auch zahlreiche Russen zu Hause. Die Russen machen in der Republik Adygeja 65 Prozent aus, in der Kabardino-Balkarischen Republik  32 Prozent und in der Karatschaiisch-Tscherkessischen Republik 42 Prozent (2010). - Auf dem Gebiet der Karatschaier und Tscherkessen sind seit dem 14. Jahrhundert auch Abasiner und seit dem 17. Jahrhundert auch Nogaier ansässig, heute machen die Abasiner sieben Prozent der Bevölkerung aus, die Nogaier drei Prozent.

 

Fläche: Die Fläche der Karatschaiisch-Tscherkessischen Republik beträgt 14 277 Quadratkilometer.

"So schön aber auch die Berge erschienen, so üppig ihre Gipfel im lebendigen Laubschmucke der Wälder prangten, sie waren es doch nicht, was uns Alle vorherrschend so mächtig ergriff. Es war die Gewißheit, zum ersten Male Tscherkessien zu sehen, dieses romantische Heimatland des Heldenmuthes und der Freiheit. Alle unsere Reisefefährten, vor Allem aber die Frauen, riefen fast zu einer Zeit und mit einer Freude, die sie nicht länger verbergen konnten: `Tscherkessien, Tscherkessien´."

Karl Koch in: Die kaukasischen Länder und Armenien, 1855

Der Elbrus – die höchste Erhebung des Kaukasus und Europas überhaupt – befindet sich im Siedlungsraum der Tscherkessen; er ist der Tscherkessen „heiliger Berg“.

Die Baumgrenze des Kaukasus liegt höher als in den Alpen - bei 2 500 Metern. Und die Vegetationsgrenze? Bis unmittelbar unter die Gletscher reicht die Region der  blütenreichen  Rhododendronbüsche.  Auch   der  Getreideanbau   ist bis zu 2 500 Metern Höhe möglich. Das höchste Dorf liegt 2 700 Meter über dem Meeresspiegel.

Geschichtliches: Die Vorfahren der Tscherkessen und Karatschaier sind schon seit alters auf ihrem heutigen Territorium ansässig - davon zeugen archäologische Funde aus der Steinzeit. Bis ins 10. Jahrhundert bildete sich dann die Völkerschaft der Tscherkessen heraus. Vom 14. bis 17. Jahrhundert erfolgte eine Massenübersiedlung der Abasiner aus Abchasien. Seit dem 17. Jahrhundert siedelten sich Nogaier an. In der Zeit vom 15. bis 18. Jahrhundert wurde das karatschaiisch-tscherkessische Territorium von den Krimtataren unterworfen. 1552/1555 und 1557 schickten die Einheimischen Abgesandte nach Russland, um Schutz für sich zu erbitten. - Bis Mitte des 19. Jahrhunderts besiedelten die Tscherkessen das Gebiet zwischen Schwarzem Meer, Asowschen Meer, Kuban und Terek, den Rayon Krasnodar bis nach Nordossetien (Mosdok). Seit Mitte des 19. Jahrhunderts befinden sich die Karatschaier und Tscherkessen unter russischer Herrschaft. Russischen Truppen war nach hartnäckigem Widerstand des Nationalhelden Imam Schamil, der 1839 die kaukasischen Völker vereinigt hatte, die Unterwerfung der Region gelungen.

Imam Schamil (um 1797 bis 1871) war von 1834 bis 1859 religiös-politischer Führer (Imam) der muslimischen Bergvölker Dagestans und Tschetscheniens und organisierte in dieser Zeit deren Widerstand gegen die russische Eroberung des Nordostkaukasus. Schamil war der Sohn eines Landbesitzers und gehörte dem Volk der Awaren an. Er studierte Grammatik, Logik, Rhetorik und Arabisch und erwarb sich großes Ansehen als Gelehrter. - Unter der Führung von Imam Ghazi Muhammad setzten sich dagestanische Bergvölker ab ungefähr 1827 gegen die dagestanischen Fürsten der Ebene und den russischen Staat, der die Fürsten Dagestans stützte und zu Vasallen machte, zur Wehr. Ab 1830 schlossen sich auch Tschetschenen der antikolonialen Widerstandsbewegung an. Ideologische Grundlage des Widerstands war der Islam, der die unterschiedlichen Ethnien Dagestans und Tschetscheniens einigte. Schamil wurde zu einem der wichtigsten Mitstreiter und Freunde Ghazi Muhammads. 1834 wurde Schamil zum neuen Imam gewählt, 1836 erkannte man seine Führungsposition auch in Tschetschenien an. Schamil erlebte den Höhepunkt seiner Macht, als er das gegen ihn entsandte große Heer des neubestellten Kaukasus-Statthalters Michail Woronzow 1845 fast vollständig vernichtete. Diese Erfolge erregten auch in Westeuropa einiges Aufsehen. Doch die folgende, von Woronzow angegangene, Reorganisation der gesamten russischen Politik im Nordkaukasus leitete den Niedergang von Schamils Macht ein. Nach dem Ende des Krimkrieges 1856 entschloss man sich, die wegen des Krimkriegs im Kaukasus stationierten zusätzlichen Truppen gegen Schamil einzusetzen und begann 1857 eine erneute großangelegte Militärkampagne, die die endgültige Niederwerfung Schamils zur Folge hatte. 1859 ergab sich Schamil selbst angesichts der russischen Übermacht - er wurde nach Kaluga verbannt. 1871 starb er in der Nähe von Medina im heutigen Saudi-Arabien während einer Pilgerreise. Bis heute existiert besonders bei den Tschetschenen der Heldenmythos von Imam Schamil, dem "Löwen von Tschetschenien“.

Fast einhundert Jahre lang hatten die unterschiedlichen Stämme der Tscherkessen Widerstand gegen die russische Kolonisation des Kaukasus geleistet.

"Die Tscherkessen verdankten ihren zähen Widerstand, neben den natürlichen Begünstigungen durch die geographischen und topographischen Verhältnisse ihres Gebiets, ihrem hoch entwickelten Freiheitsgefühl und kriegerischen Sinn und ihrer Gewohnheit, zu kämpfen, bei streng nach Ständen gegliedertem nationalem Bau. (...) Es gab Fürsten, Adel, freien Bauerstand und Unterthanen oder Sklaven, welche letztere immer nur durch Krieg und Raub erworbene Gefangene waren."

Roderich von Erckert (1821-1900; deutscher Ethnograph,

Kartograph und Offizier in russischen Diensten) in:

Der Kaukasus und seine Völker, 1887

Schließlich unterlagen die Tscherkessen der Übermacht des russischen Militärs, das mit größter Brutalität gegen die Menschen im Nordkaukasus vorgegangen war; Dörfer waren systematisch niedergebrannt, Männer, Frauen und Kinder umgebracht worden.

 

 

Eine der seltenen Abbildungen aus dem Krieg der Russen gegen die Tscherkessen.

Aus: Rellers Völkerschafts-Archiv

 

Der 21. Mai 1864 gilt offiziell als Ende der russisch-kaukasischen Kriege. Nach diesem letzten Russisch-Türkischen Krieg wurden die Tscherkessen aus ihrer Heimat vertrieben. Etwa fünfhunderttausend bis eine Million Tscherkessen und Abchasen wurden über das Schwarze Meer ins Osmanische Reich zwangsverschifft - in überfüllten, offenen Barkassen, von denen viele sanken und Hunderte Menschen ertranken. Nach Schätzungen kamen in den darauffolgenden Jahren über einhunderttausend Vertriebene um. Nach der Zwangsvertreibung wurde etwa eine Million Tscherkessen vermisst, die nur im Laufe der Geschehnisse umgekommen sein kann.

 

„Vor der russischen Kolonisierung gab es rund zwei Millionen Tscherkessen. - 1864 war der nordwestliche Kaukasus, das Herzland der Tscherkessen, fast vollständig `gesäubert´. Zwischen 120 000 und 150 000 Tscherkessen wurden in andere Regionen des Russischen Reiches umgesiedelt, rund 500 000 wurden ins  Osmanische  Reich  zwangsdeportiert.  Zuvor  im  Jahr  1858  waren   rund 30 000 Familien bzw. etwa 200 000 Personen ausgewandert. Das bedeutet, dass zu rund einer Million Tscherkessen es keine Angaben gibt, und wenn man noch die Opfer der Vertreibung hinzuzählt, gab es wohl fast 1,5 Millionen tscherkessische Opfer.“

Stephen Shenfield (US-amerikanischer Historiker), 1995

 

Der 21. Mai 1864 wird von den Tscherkessen als „Tag des Genozids“ begangen.

"Der 21. Mai 1864 ist für die Russen ein `Tag des Sieges´ über die Völker des nördlichen Kaukasus, für die Tscherkessen ein Anlass zur Besinnung, zum Protest und zu gemeinsamem Engagement angesichts vergangener Gewalttaten der Russen gegenüber den Völkern des Kaukasus."

Hans-Joachim Hoppe in: Eurasisches Magazin vom 2. Oktober 2011

So gedachten die Tscherkessen am 21. Mai 2009 in Berlin des 145. Jahrestags des Genozids durch das zaristische Russland. Dazu kamen tscherkessische Emigranten aus Deutschland, Italien, den USA, Israel, der Türkei, den Niederlanden und anderen Staaten zusammen. Die Genozidtragödie hat für die Tscherkessen einen ähnlichen Stellenwert wie der armenische Genozid der Türken für die Armenier. Die Gedenkfeier gab vor allem jungen Menschen aus Europa und Übersee die Gelegenheit, Kontakt aufzunehmen und sich der eigenen Identität zu versichern, tscherkessische Lieder zu hören und sich politisch zu engagieren. Die Feier stand unter der Schirmherrschaft der Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV).

1918 siegte auf dem heutigen Gebiet der Karatschaier und Tscherkessen die Sowjetmacht, 1918/20 wurde das Territorium von Weißgardisten besetzt.  - In der Sowjetära hatten die Tscherkessen von 1922–1957 eine eigene autonome Sowjetrepublik. Nach der Ausweisung der Tscherkessen waren zumeist landlose christliche russische Bauern aus dem Landesinneren des Russischen Reiches in die autonome Republik gekommen, die zusammen mit den dort ansässigen Turkvölkern die Tscherkessen zu einer Minderheit im angestammten Land machten. 1926 war eine Teilung des Territoriums in das Autonome Gebiet der Karatschaier und in den Nationalen Kreis der Tscherkessen erfolgt, der 1928 in ein autonomes Gebiet umgewandelt worden war. - 1943/44 wurde das Karatschaiische Autonome Gebiet liquidiert, die Bevölkerung - wegen des Vorwurfs der Kollaboration mit der deutschen Wehrmacht - vorrangig nach Kasachstan umgesiedelt. 1957 wurden die Tscherkessen bewusst mit anderen Nationalitäten wie den turkstämmigen Balkaren und Karatschaiern, die weder ethnisch noch sprachlich zusammenpassten, in zwei Teilrepubliken zusammengeschlossen.

"Für die Tscherkessen in aller Welt ist der 21. Mai ein Tag der traurigen Erinnerung an die Vertreibung im Jahre 1864. Es ist ein Tag, der an all das Leid erinnert, das nach der Niederlage gegen die Russen in der kaukasischen Urheimat begann. Aber er erinnert sie auch daran, dass es ihnen bis zum heutigen Tag gelungen ist, die Erinnerung an ihre Kultur und Geschichte zu bewahren."

Cem Özdemir, Bundesvorsitzender der Partei Bündnis 90/

Die Grünen, 2013

Staatsgefüge: 1922 wurde das Tscherkessische Autonome Gebiet eingerichtet, das nach mehreren Veränderungen 1957 mit dem ehemaligen Karatschaiischen Autonomen Gebiet zum Karatschaiisch-Tscherkessischen Autonomen Gebiet zusammengelegt wurde - obwohl Karatschaier und Tscherkessen weder ethnisch noch sprachlich miteinander verwandt sind. Seit 1992 ist das Karatschaiisch-Tscherkessische Autonome Gebiet eine autonome Republik, Präsident ist seit 2011 Raschid Temresow, seine Amtsperiode geht bis 2016.

„Der Austragungsort der Olympischen Winterspiele hat eine düstere Vergangenheit. Vor genau 150 Jahren vertrieben die Russen von hier Hunderttausende Tscherkessen - das größte der kaukasischen Völker, das Jahrhunderte lang am Schwarzen Meer und in den Bergen gelebt hatte. Das zaristische Russland verübte Massaker von bis dahin ungeahnten Ausmaßen, manche Historiker sprechen vom ersten Völkermord der Geschichte.“

ARD,Titel, Thesen, Temperamente vom 19. Januar 2014

Verbannungsgebiet: In Karatschai-Tscherkessien gibt es das Dorf Kosta-Chetagurowo. Der ossetische Dichter war für seine aufrührerischen Gedichte, besonders wegen seiner Kritik an der zaristischen russischen Regierung, zweimal verbannt worden (1891–1896, 1899–1902), einmal nach Karatschai-Tscherkessien, wo er  an Tuberkulose erkrankte. Die letzte Verbannung beeinträchtigte Chetagurows Gesundheit so sehr, dass er seine literarische Arbeit nicht mehr fortsetzen konnte. 1905 zog er zu seiner Schwester nach Georgiewsko-Ossetinskoje (heute Kosta-Chetagurowo in Karatschai-Tscherkessien).

Hauptstadt: Die einzige Großstadt der Karatschaiisch-Tscherkessischen Autonomen Republik ist Tscherkessk - die Republikshauptstadt. Die Stadt ist heute vornehmlich Verwaltungsstadt, industriell bedeutend sind die Elektroindustrie, die Lederwaren- und die Nahrungsmittelproduktion.

 

Wirtschaft: In der fruchtbaren Steppe werden, begünstigt durch das feuchtwarme Klima, Mais, Weizen, Kartoffeln, Sonnenblumen und Zuckerrüben angebaut. In den höheren Lagen des Vorgebirges wird intensive Rinder-, Schweine- und Schafzucht betrieben. Außerdem werden Pferde gezüchtet. Nicht irgendwelche, sondern tscherkessische, heute bekannt als Kabardiner - eine besonders ausdauernde Rasse.

 

 

Ein tscherkessischer Pferdesattel, 19. Jahrhundert.

Zeichnung aus: Rellers Völkerschafts-Archiv

 

Neben der Holzwirtschaft bildet der Bergbau mit Steinkohleförderung sowie der Gewinnung von Zinn-, Zink- und Kupfererzen die industrielle Basis der Wirtschaft. Die verarbeitende Industrie, die zu zwei Dritteln in der Hauptstadt Tscherkessk konzentriert ist, umfasst Betriebe des Maschinenbaus, der Holzverarbeitung, der Gummiverarbeitung sowie der chemischen Industrie. - Die Karatschaiisch-Tscherkessische Republik ist reich vor allem an Steinkohle, Kupfererzen, Gips, Kalkstein, Marmor, vulkanischem Gestein, Sandstein, Granit, Ton, Lehm, mineralischen Farben; Mineralquellen.

 

Verkehr: Straßenanbindungen bestehen unter anderem an die Fernstraße M29 über die föderale Straße A155. Die Hauptstadt Tscherkessk ist durch eine Stichbahn mit der nordkaukasischen Eisenbahn verbunden. Der größte Teil des Landes ist nur durch Straßen verkehrsmäßig erschlossen.  Der innerstädtische öffentliche Verkehr besteht aus einem Trolleybusnetz sowie Bussen und Linientaxen. - Der Kaukasus ist ein verkehrsfeindliches Gebirge. Es fehlen Quertäler. Das macht ihn unzugänglich. Nur drei Passstraßen gibt es - die Georgische Heerstraße von Ordshonikidse nach Tbilissi, die Ossetische Heerstraße, die ebenfalls in Ordshonikidse beginnt und nach Kutaissi führt, und eine dritte Straße von Tscherkessk über den Kluchor-Pass nach Suchumi. Nur die Georgische Heerstraße hat verkehrstechnische und wirtschaftliche Bedeutung, sie führt durch die Darialschlucht.

 

Sprache/Schrift: Das Tscherkessische gehört zur adygejisch-abchasischen Sprachfamilie. Sprachlich und historisch fühlen sich die Tscherkessen mit den Abchasen verbunden, für deren Unabhängigkeit sie sich einsetzen - in der Hoffnung auf einen Präzedenzfall für ihren eigenes Selbständigkeitsstreben.

"Die tscherkessische Sprache besteht aus zwei verschiedenen Dialekten/Mundarten: dem West-Tscherkessischen (adygejisch) und dem Ost-Tscherkessischen (kabardinisch). Man geht davon aus, dass sich das Ost-Tscherkessische im 13./14.Jahrhundert von der gemeinsamen tscherkessischen Sprache getrennt hat. Gemeinsam mit den Abchasen und Abasinern gehören die Tscherkessen zur adyge-abchasischen Sprachfamilie und bilden damit den nordwestlichen Zweig der kaukasischen Sprachfamilie. Das West-Tscherkessische ist in der Autonomen Republik Adygeja die offizielle Sprache. Das Ost-Tscherkessische wiederum in Kabardino-Balkarien und in Karatschai-Tscherkessien. Da das Ost-Tscherkessische weniger Laute als das West-Tscherkessisch besitzt, ist es für den Ost-Tscherkessisch Sprechenden schwieriger, das West-Tscherkessische zu verstehen. Nach ihrer Sprache befragt, geben alle Tscherkessen zur Antwort, adygejisch zu sprechen. Daher ist es irreführend die tscherkessische Sprache in adygejisch und kabardinisch zu unterteilen. Die Unterteilung in West-Tscherkessisch (adygejisch) und Ost-Tscherkessisch (kabardinisch) ist sinnvoller."

Irfan Genel, Tscherkessischer Kulturverein Köln e. V.

Mit der Islamisierung wurde die Schriftsprache der Tscherkessen Arabisch. Anfang des 20. Jahrhunderts bedienten sie sich des lateinischen Alphabets. Seit 1937/38 wird von den Tscherkessen das kyrillische Alphabet mit einigen Zusatzzeichen benutzt.

Literatursprache/Literatur: Alim Chanfenow, (geboren 1922) schreibt seine Gedichte - seit 1947 wird er gedruckt -  in tscherkessischer Sprache. Er studierte an der Pädagogischen Fachschule und an den Höheren Literaturkursen in Moskau.

Bildung: In der zweitgrößten Stadt der Republik, in Karatschajewsk, die am Fuße des berühmten Berges Elbrus liegt, ist auch die älteste Hochschule des Gebietes beheimatet: die Staatliche Universität Karatschai-Tscherkessiens. Als eines der wichtigsten Zentren der Wissenschaft, Kultur und Bildung widmet sich die Universität auch der deutschen Sprache.

Kultur/Kunst: In ihrer angewandten Kunst widerspiegeln die Völker Karatschai-Tscherkessiens den schweren Alltag der Bergbewohner und eigene Vorstellungen von ihrer Umwelt. Holzschneidekunst, Sticken, Flechten, Töpferkunst, Herstellung von Keramikgeschirr mit anschließender Bemalung, Gold- und Silberstickerei – dafür ist die Republik seit ehe und je berühmt. In der Volkskunst der Karatschaier und Tscherkessen waren auch Bastmattenflechtarbeiten aus Sumpfgras sehr verbreitet. In neuerer Zeit widmen sich die Karatschaier vorrangig der Herstellung gemusterter Filze, die Tscherkessen der Juwelierkunst. Anfang der siebziger Jahre wurde der Gebietsverband Bildender Künstler gegründet.

 "Obwohl mein Vater ein Tscherkesse aus der Türkei ist, hatte ich selbst lange Zeit kaum Kenntnisse über das Volk und die Kultur seiner Vorfahren. Mein Wissen beschränkte sich zunächst auf die üblichen Klischees, die Reit- und Kampfkunst der tscherkessischen Männer oder die Schönheit der tscherkessischen Frauen, von den viele im Kaukasus entführt und an den Sultanshof verschleppt wurden. "

Cem Ozdemir, Bundesvorsitzender der Partei Bündnis 90/

Die Grünen, 2013

Gesundheitswesen: Im Artikel 41 der Verfassung der Russischen Föderation ist für alle Bürger das Recht auf kostenlose medizinische Grundversorgung verankert. Dieser seit den Sowjetzeiten bestehende Grundsatz ist zum Teil die Ursache dafür, dass Russland im internationalen Vergleich eine vergleichsweise hohe Anzahl an Ärzten und Krankenhäuser pro Kopf der Bevölkerung aufweist. Dennoch ist der gesundheitliche Zustand der russischen Bevölkerung schlecht. Gerade beim wirtschaftlichen Niedergang der 1990er Jahre in Russland wurde das Gesundheitswesen stark getroffen. Das Ergebnis führte zu äußerst niedrigen Entlohnungen der Ärzte und Krankenschwestern und als Folge zu einer massiven Verschlechterung der Qualität der medizinischen Versorgung der breiten Öffentlichkeit. So ist inzwischen jede dritte Klinik der siebentausend Krankenhäuser im Land dringend renovierungsbedürftig. In letzter Zeit werden die Gehälter für das medizinische Personal schrittweise angehoben sowie staatliche Mittel in die Einrichtung neuer und in die Modernisierung bestehender Kliniken investiert. In den Jahren 1999 bis 2003 betrugen die durchschnittlichen Gesamtausgaben für den Gesundheitssektor in Russland im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt 5,70 Prozent. - In der Russischen Föderation ist der Gesundheitssektor dezentral organisiert. Das Gesundheitsministerium ist auf föderaler Ebene für den gesamten Sektor zuständig, das Erbringen der konkreten medizinischen Leistungen aber Aufgabe der Föderationssubjekte* und Gemeinden. Der Bedeutung der Föderationssubjekte und Gemeinden im Gesundheitssektor gemäß werden rund zwei Drittel der gesamten Budgetausgaben von diesen bestritten. Das russische Gesundheitssystem wird durch einen Mix aus Budgetmitteln und Mitteln aus der Sozialversicherung finanziert.

 

* Als Föderationssubjekte der Russischen Föderation werden die 83 territorialen, mit gewisser politischer und administrativer Autonomie ausgestatteten und im Föderationsrat vertretenen Verwaltungseinheiten Russlands bezeichnet.

Klima: Das Klima ist kontinental, dem Territorium entsprechend höhendifferenziert. Die Tscherkessen bewohnen vorrangig die Ebene und die Vorgebirgszone.

Natur/Umwelt: Die Tscherkessen pflegten immer schon einen respektvollen Umgang mit der Natur. In der Vergangenheit wurde kein Baum ohne den Beschluss des Ältestenrates (Chase) gefällt. Jede Familie oder Sippe hatte ihren speziellen Baum, bei dem man sich vor Versammlungen oder vor wichtigen Entscheidungen traf. Für die Tscherkessen waren die Umwelt und der Mensch eins. In ihren alten Schriften stand, dass nur die Verschmelzung von Mensch und Umwelt ein unendliches Leben auf der Erde ermöglicht. - Der Nordkaukasus liegt in einem Erdbebengebiet.

Pflanzen- und Tierwelt: Der Kaukasus beherbergt eine reichhaltige Tierwelt. Zu den großen Arten zählen Marale (eine Unterart des Rothirschs), Wildschweine, Gämsen und Steinböcke. Ebenfalls heimisch sind noch Bär, Wolf und Luchs. Extrem selten ist der Kaukasische Leopard, der erst 2003 wiederentdeckt wurde. Das Kaukasische Wisent starb 1927 aus. Wieder eingeführte Tiere, bei denen es sich um Hybriden mit Bisons handelt, leben im Naturreservat des nordwestlichen Kaukasus in Adygeja. Das letzte Exemplar des Kaukasus-Elches wurde 1810 getötet. – Der Kaukasus ist sehr artenreich an wirbellosen Tieren, beispielsweise sind hier bisher etwa tausend Spinnenarten nachgewiesen. - Im Kaukasus sind 6 350 Blütenpflanzen-Arten heimisch, davon sind 1 600 endemische Arten, zum Beispiel Bestimmte Doldenblütler, Korbblütler, Nelkengewächse, Braunwurzelgewächse, Baldriangewächse, Kreuzblütengewächse, Raubblattgewächse, Rosengewächse. – Der Riesenbärenklau wurde 1890 als Zierpflanze nach Europa importiert. – Die Gebirgsregion des Kaukasus ist aus Sicht des Naturschutzes eines der 25 gefährdetsten Gebiete der Erde.

Behausungen: Traditionelle tscherkessische Siedlungen unterschieden sich bis auf wenige Ausnahmen stark vom mittel- und ostkaukasischen Aul (Bergdorf), bei dem die Häuser sehr dicht am Hang stehen. Typisch waren rechteckige Langhäuser aus Lehm mit Stroh gedeckt. Oft befanden sich neben dem Wohnhaus ein Gästehaus, ein Küchenhaus, eine Scheune, Stallungen und weitere Wirtschaftsgebäude auf einem Hof, der zur Verteidigung von einer Mauer, meist aber nur von einem Flechtzaun umgeben war. Wehrtpürme waren selten. Die Höfe standen in den Siedlungen oft weit auseinander, eine Tradition, die die Tscherkessen in der Diaspora wiederholten. Bis ins 18. Jahrhundert existierten auch Siedlungen, deren Wohnhäuser zur Verteidigung ringförmig aneinander gebaut waren.

Ernährung: Legendäre Vitalität zeichnet die Bewohner des Kaukasus aus. Sie leben nicht nur lange, sondern erhalten sich auch ihre Lebensfreude und eine beneidenswerte Gesundheit. Eine entscheidende Rolle spielt dabei die Ernährung.

Naturbelassene Nahrungsmittel und eine Fülle von frischen Zutaten werden zu Gerichten von unwiderstehlicher Köstlichkeit komponiert. (...) Bei allen Unterschieden haben die Kaukasier jedenfalls eines gemeinsam: Sie werden dank ihrer natürlichen Ernährung und Lebensweise steinalt, und das bei bester Gesundheit."

Monika Buttler in: Die Kaukasuskost der Hundertjährigen, 1999

 

Gegenstand für die Aufbewahrung von Korn - aus Stroh und Schilfgras, 19. Jahrhundert.

Zeichnung aus: Rellers Völkerschafts-Archiv

 

Kleidung: Die traditionelle Kleidung der Tscherkessen ähnelte im 16. bis 19. Jahrhundert zunehmend der Tracht anderer Bewohner Kaukasiens, die auch von den südrussischen Kosaken übernommen wurde. Männer trugen eine Tschocha, darunter ein Hemd, eine Papacha oder eine Filzmütze. Bei Wind oder Regen wurden darüber die kaukasische Burka  und der Baschlik getragen. Frauen trugen privat ein verziertes Blusengewand  mit falscher Hemdfront vorn und eine Pluderhose, zu der ein Kaftan-ähnlicher Leinenumhang kam und je nach festlichem Anlass und Kälte noch eine bestickte Kappe. Gesichtsschleier waren nicht üblich. Auffällig waren verzierte hohe Holzsandalen. Diese Tracht wird heute nur noch in entlegenen Regionen, von älteren Menschen oder zu Festen getragen und war, wie erwähnt, bei vielen Völkern Kaukasiens ähnlich.

  

Traditionelle Trachten der Tscherkessin.

Foto aus: Rellers Völkerschafts-Archiv

 

 

Kinder-Tscherkesska, um 1900.

Foto von Wolfgang Gregor aus: Rellers Völkerschafts-Archiv

 

„Dolch und Säbel sind Teile ihres [tscherkessischen] Körpers, und der Säugling beginnt sie zu beherrschen, noch ehe er sein erstes Wort stammelt.

Alexander Puschkin (russischer Dichter, 1799 bis 1837) in:

Die Reise nach Arzrum während des Feldzuges im Jahre 1829

 

Folklore: Der traditionelle Tanz der Tscherkessen ist die Lesginka, die dem tscherkessischen Paartanz entspricht. Er ist in ganz Kaukasien verbreitet und entgegen dem tscherkessischen Namen nicht nur bei muslimischen Völkern, sondern auch bei christlichen und jüdischen. Neben diesen oft sehr akrobatisch getanzten Tänzen existieren weitere, wie der langsamere Geschlechtertanz und der alte Ritualtanz, der eine Tanzparty beendet, mit seiner schapsugischen Variante. Der sehr langsame Tanz war  vor allem im Adel beliebt, wo er auch Rittertanz genannt wurde. Früher gab es auch Sänger, die eher romantische, melancholische und heroische Gesänge vortrugen, aber auch Gesänge des nordkaukasischen Narten-Epos, Volkslieder, Märchen, Witze, satirische und Lobgesänge. Zu ihren Aufgaben gehörte auch die Leitung von Banketten und Tanzpartys. Die Tscherkessen setzten beruhigende Musik, Rituale und motivierende Ansprachen und Unterhaltung auch zur Therapie Verwundeter ein. - Berühmt für ihre „Narten-Epen“ sind mehrere Völker des nördlichen Kaukasus, besonders die Adygejer, die Tscherkessen, die Abchasen, die Osseten, die Karatschaier, die Balkaren, die Inguschen, die Abasiner, die Tschetschenen. Der Name „Narten“ leitet sich wahrscheinlich vom mongolischen Wort narta (Sonne) ab. Die Urmutter aller Narten ist die verführerische und weise Satanaya, die Ähnlichkeit hat mit der altgriechischen Fruchtbarkeitsgöttin Demeter. Die "Narten"-Sagen besitzen ein gleichgewichtiges Verhältnis zwischen Männern und Frauen, Göttinnen und Heldinnen genießen großen Respekt in den Erzählungen. Nartische Gottheiten wie der Himmelsschmied Kurdalagon, der Donnergott Uazilla sowie Sapha, der Schirmherr des heimischen Herdes, haben Parallelen zu nordischen Sagen und Mythen. Auch der griechischen Mythologie ähneln die "Narten"-Sagen in vielen Elementen. Die Figur von Nasran z. B. gleicht dem feuerbringenden Titanen Prometheus, den der Göttervater Zeus ausgerechnet an einen Berg im Kaukasus fesseln ließ. Der russisch-orthodxe Geistliche André Sikojew (der Vater war Ossete, die Mutter Deutsche) hat das "Narten"-Epos erstmals as einer russischen Fassung, die es seit 1948 neben einer ossetischen gab, ins Deutsche übertragen. Laut Sikojev sind die "Narten"-Sagen im Siedlungsgebiet der Osseten entstanden und einst im gesamten nördlichen Kaukasus erzählt und gesungen worden.

"Aus dem Inhalt des Narten-Epos´: Die Welt war zunächst von wilden Riesen-Narten besiedelt, die in Höhlen wohnten, weil sie keine Häuser zu bauen vermochten. Sie hatten viel Kraft und wenig Verstand. Als dann weniger starke, dafür aber verständigere Narten auf die Welt kamen, konnten sie die Riesen leicht besiegen: Bald schläfert der Narte mit seiner Beredsamkeit das Misstrauen des Riesen ein oder lenkt seinen Zorn auf einen anderen Gegenstand, bald verwickelt er ihn geschickt in eine Situation, in der der Riese machtlos ist. Außer den Begegnungen mit den Riesen nehmen die Narten an fröhlichen Zusammenkünften teil, gehen auf die Jagd oder ziehen in den Krieg. Bei den Zusammenkünften spielen die Narten lustige Spiele, zechen, tanzen und singen. Ihre Kriegszüge sind immer voller Überraschungen. Die einzelnen Sagen erzählen von zahlreichen Fehden zwischen den Narten, von ihren blutigen Auseinandersetzungen. Darüber hinaus sind die Narten mit übermenschlichen Eigenschaften ausgestattet und verstehen die Sprache der Vögel. Und: Einige Narten beherrschen die Kunst, sich tot zu stellen, um den argwöhnischen Gegner zu überlisten. Andere Narten können in den Himmel steigen und zurückkehren, wieder andere wandern in die Hölle – und kommen, sobald sie wollen, zurück auf die Erde. Fast alle Narten sind mit mythischen Figuren der Sonne und deren Tochter verwandt.  Doch das Hünenvolk endete tragisch: Die Narten waren so stolz geworden, dass sie an die Türen ihrer Häuser keine Leitern mehr ansetzten, damit Gott nicht etwa glaube, sie würden  ihn anbeten. Gott sandte deshalb eine fürchterliche Hungersnot auf die Erde. Doch in der Nacht war der Himmel mit Körnern unbekannter Art übersät, die wie Lichter glänzten. Die Narten begannen, diese leuchtenden Körner mit Pfeilen abzuschießen und sich davon zu ernähren. Diese Speise allein aber reichte nicht aus, und alle Narten verhungerten. Nach ihrem Untergang fielen die himmlischen Körner auf die Erde und fingen zu wachsen an und Früchte zu tragen – das war der Mais, der für die Menschen so kostbar ist.“

Natascha Petrowa, in: Stimme Russlands vom 8. Oktober 2009

Feste/Bräuche: Nach altem Brauch wird in den Bergen des Kaukasus der Neuankömmling in den ersten drei Tagen als Gast betrachtet, am vierten Tag aber schon dem Hausherrn gleichgestellt. Die sprichwörtliche Gastfreundschaft der Kaukasier ist bei den Tscherkessen besonders ausgeprägt. Ein Gast ist nicht nur ein Gast der Familie, sondern immer auch ein Gast der ganzen Ortschaft und der ganzen Sippe. Selbst Feinden gegenüber wird diese Gastfreundschaft als eine heilige Pflicht angesehen. Wenn ein Feind das Haus betritt, wird auch dieser stets respektvoll behandelt und bedient. Der berühmte Kaukasologe A. Dir schrieb einmal „Der Gast ist ein Sklave des Gastgebers.“ Mit diesem Satz versuchte A. Dir zu erklären, dass auch der Gast die Vorschriften der traditionellen „Chabze“ (Benimmregeln) zu befolgen hat, z. B. durfte der Gast nicht ohne die Erlaubnis seines Gastgebers der Gast einer anderen Familie werden. - Jeder Tscherkesse erhebt sich sobald jemand den Raum betritt, bietet diesem einen Platz an und redet nur, wenn er dazu aufgefordert wird. In Anwesenheit von Älteren und Frauen ist Rücksicht und Respekt unabdingbar.

 

 

Die Frau wird bei den Tscherkessen unabdingbar respektiert. Um so beliebter sind Männerrunden...

Foto aus: Rellers Völkerschafts-Archiv

 

In Gegenwart von Frauen werden Streitigkeiten unterbunden, bricht eine Frau in eine derartige Situation herein, wird dieser Streit sofort beendet. Auf Wunsch einer Frau versöhnen sich sogar zerstrittene Parteien.

„Die etwa tausendjährige `Adyge Xabze´ ist bei den Tscherkessen (Adygen) der Inbegriff für ihre Traditionen und ihre Lebensweise. Es ist ein Ehrenkodex, welcher auf gegenseitiger Achtung und auf gegenseitigen Respekt basiert und Verantwortung, Disziplin und Selbstbeherrschung voraussetzt. - Es sind die ungeschriebenen Gesetze der Tscherkessen, die zwar niemals niedergeschrieben wurden, aber dennoch in der Vergangenheit ihr Alltagsleben regelten. Nach diesem Kodex wurden Mut, Großzügigkeit und Menschlichkeit als wichtigste und unabdingbarste Eigenschaften eines Ritters betrachtet, Habgier, Drang nach Besitz, Reichtum und Prahlerei jedoch als Schande.“

Irfan Genel, Tscherkessischer Kulturverein Köln e. V.

Religion: Seit dem 5. Jahrhundert wurden Tscherkessen von byzantinischen Missionaren zum Christentum bekehrt. Im Mittelalter folgten Bekehrungen durch georgisch-orthodoxe und genuesisch-katholische Missionare, die aber aufgrund der geografischen und politischen Abgeschnittenheit Tscherkessiens nicht von Dauer waren. Die Tscherkessen verehrten weiterhin Naturgötter z. B. Schible – den Gott des Donners, Tlepsch – den Gott des Feuers, Soserez – den Gott des Wassers, Melzischa – den Gott der Wälder. Im 15. Jahrhundert wurden die kabardinischen Tscherkessen unter dem Einfluss der Krim-Tataren zum Islam bekehrt. Die Kabardiner verbreiteten von da an bis zum 19. Jahrhundert den Islam unter den anderen tscherkessischen Stämmen und benachbarten Völkern, der christliche und animistische Kulte allmählich zurückdrängte. - Der schottische Gesandte James Stanislaus Bell, der sich 1837–1839 in Tscherkessien aufhielt, berichtet, dass damals die Bibel (auf Georgisch) und der Koran (auf Arabisch) gelesen wurde und auch alte Kulte verbreitet waren, wobei der Koran bevorzugt wurde. – Bis auf eine kleine Minderheit der kabardinischen Tscherkessen, welche othodoxe Christen sind, sind die meisten Tscherkessen heute sunnitische Muslime.

Zitat: „Wie alle sieben russischen Kaukasusrepubliken hängt auch Karatschai-Tscherkesskien am Moskauer Subventionstropf. Früher traf sich an den tscherkessischen Hängen der Viertausender Sowjetrusslands die Boheme zum Après-Ski und sicherte den Bergbauern ein bescheidenes Auskommen. Heute bleiben die Urlauber aus. Stattdessen haben radikale Islamisten unter der arbeitslosen Jugend in den abgelegenen Dörfern großen Zulauf. - 1999 wurden Tscherkessen erstmals mit Terroranschlägen in Verbindung gebracht. Bei Explosionen von Wohnhäusern in Moskau und im südrussischen Wolgodonsk starben damals hunderte von Menschen. Diese heimtückischen Terrorakte dienten Moskau als Vorwand, den zweiten Tschetschenienkrieg in fünf Jahren vom Zaun zu brechen. Den endgültigen Beweis für eine kaukasische Spur blieb Moskau indes bislang schuldig. - Die Regionalregierung errichtete indes in der Hauptstadt Tscherkessk, von der russischen Öffentlichkeit kaum beachtet, einen Sperrgürtel an der Grenze zu Georgien und der Nachbarrepublik Kabardino-Balkarien. Die Orte dahinter sind nur noch mit Sondergenehmigung zugänglich. Russland erhofft sich davon, die in den Städten Churschuk, Utschkalan und Utschkeken besonders aktive wahhabitische Djamata (Gemeinschaft der Gläubigen) besser überwachen zu können. Die Gläubigen dort haben sich vom Geistlichen Direktorat der Moscheen losgesagt und predigen offen die Lehre eines `reinen Islam´.“

Klaus Helge-Donath in: taz.de vom 12. Oktober 2004

Ereignisse nach dem Zerfall der Sowjetunion, sofern sie nicht bereits oben aufgeführt sind: Vom 19.-21. Mai 1990 fand in Holland eine konstituierende Versammlung für einen „Weltkongress der Tscherkessen“ statt, an der Delegationen aus Europa, der Türkei, Syrien, Jordanien, den USA und aus dem Kaukasus teilnahmen. Dieser benannte sich später in „Internationale Tscherkessische Assoziation“ um.  Sitz des Weltverbandes ist Naltschik, die Hauptstadt der Republik Kabardino-Balkarien, Vorsitzender ist der Bankier Kanshoby Azhakhov aus Naltschik. Die „Internationale Tscherkessische Assoziation“ (ICA, oft mit dem Zusatz „Adyge-Khase“), ist wohl der wichtigste Dachverband tscherkessischer Organisationen aus aller Welt. Ihm gehören die ethnisch-tscherkessischen Organisationen der drei Teilrepubliken der Russischen Föderation (Kabardino-Balkarien, Adygeja, Karatschai-Tscherkessien), des Krasnodar Gebietes sowie der Diaspora, der Türkei, Syriens, Jordaniens, Israels, der USA (New Jersey und Kalifornien) und Deutschlands an. - Bis 2010 gehörten die drei Teilrepubliken Kabardino-Balkarien, Adygeja und Karatschai-Tscherkessen den Südlichen Föderationsbezirk an, so wurden 2010 auf Anordndung von Präsident Medwedjew Kabardino-Balkarien und Karatschai-Tscherkessien einem neuen Nordkaukasischen Föderationsbezirk zugeschlagen, während die Republik Adygeja außen vor blieb. - Im Februar 2014 wurde Asker Sokht (Socht), der Führer der „Internationalen Tscherkessischen Assoziation“ (auch: „Verband Adyge-Khase“) der Region Krasnodar, zu der auch das Olympiazentrum Sotschi gehört, in der Regionalhauptstadt Krasnodar verhaftet. Nach Mitteilung der Assoziation hängt die Verhaftung mit der Kritik des Historikers Asker Sokht an den Olympischen Spielen zusammen.

"Insgesamt fühlen sich die Tscherkessen in Russland politisch und wirtschaftlich benachteiligt und träumen von einer eigenen zusammenhängenden Region."

Hans-Joachim Hoppe in: Eurasisches Magazin vom 2. Oktober 2011

In zwei der drei russischen Teilrepubliken sind Tscherkessen an der Macht: in der Republik Adygea ist seit 2007 der Adygejer Aslan Tchakuschinow Präsident und in Kabardino-Balkarien seit 2005 Arsen Kanokow. In Abchasien (zu Georgien gehörig) war der Tscherkesse Sultan Sosnaliyew in den Jahren 2005-2007 Verteidigungsminister und Vizepremier (gestorben 2008).

„Eine Neugestaltung der Republiken Kabardino-Balkarien und Karatschai-Tscherkessien würde - wie überall im Nordkaukasus - äußerst heikle Fragen nach den künftigen Grenzen aufwerfen. Fast alle Gemeinschaften beanspruchen in der einen oder anderen Form Gebiete, die zurzeit von einem oder mehreren anderen Völkern besiedelt werden.“

Neue Zürcher Zeitung vom 9. September 2004

Kontakte zur Bundesrepublik Deutschland: Der erste in Europa gegründete „kaukasische Kulturverein“ wurde im September 1968 von tscherkessischen Emigranten in München ins Leben gerufen. Weitere Kulturvereine in Deutschland und den Nachbarländern folgten. Erst mehrere Jahrzehnte später - im Jahre 2004 - schlossen sich die inzwischen gewachsenen Kulturvereine in Deutschland, Holland und Belgien zu einer „Föderation der Tscherkessischen Kulturvereine in Europa“ zusammen. Heute gibt es in Deutschland adygeisch/tscherkessische Kulturvereine unter anderem in Münster, Bremen (Oyten), Hannover, Hamburg, Zwingenberg, Berlin, Wuppertal, Köln und München. Und in den verschiedensten Ländern gibt es unpolitische, kulturelle, politisch gemäßigte und radikal-nationalistische Verbände.

"Daher finden sich immer häufiger nordkaukasische Kulturvereine oder tscherkessische Vereine in Deutschland. Ihr Anliegen ist es, ihre Kultur und Sprache an die eigenen Kinder, aber auch ihrer neuen Heimat zu vermitteln. Tscherkessen wurden in der Diaspora und in all den Ländern, in denen sie Schutz, Aufnahme und eine neue Heimat gefunden haben, schnell loyale Bürger, ohne dabei ihre Herkunft zu vergessen."

Cem Özdemir, Bundesvorsitzender der Partei Bündnis 90/

Die Grünen, 2013

2009 besuchte eine Gruppe von Abgeordneten und Kulturschaffenden aus Karatschai-Tscherkessien die saarländisch-lothringische Grenzregion. Im Ergebnis des Besuches wurde vereinbart, die Zusammenarbeit zwischen den beiden Regionen im Bereich Schüleraustausch und gesellschaftliches Engagement zu erweitern. - 2010 fand der Gegenbesuch statt: eine Abordnung der Gesamtschule Neunkirchen reiste in die Republik Karatschai-Tscherkessien, um die Voraussetzungen für einen Schüleraustausch mit dem Gymnasium Nr. 17 aus Tscherkessk zu schaffen. Im Vordergrund der Begegnung stand das Kennenlernen der Kultur der nordkaukasischen Völker. Es wurden Workshops gegründet in den Bereichen Kunst, Basteln, Musik und Tanz. - Nach der Schülerbegegnung  2010 fand 2011 eine Gegenbegegnung in Karatschai-Tscherkessien statt. Eine Gruppe von 27 Personen besuchte die nordkaukasische Region mit dem Ziel, die aufgebauten Kontakte zu vertiefen und Möglichkeiten für die weitere Zusammenarbeit zu erörtern. Am 24. November 2013 wurde im Völkerkundemuseum in Hamburg die Ausstellung „Tscherkessen – Vom Kaukasus in alle Welt verweht. Ein legendäres Volk neu entdecken“ eröffnet.

„Die Hamburger Ausstellung ist die erste große außerhalb Russlands zu den Tscherkessen. Tscherkessische Vereine in Europa haben zwar schon kleine Schauen im Rahmen ihrer jährlichen Treffen organisiert, doch eine solche wie in Hamburg habe es bisher noch nicht gegeben. (…) 30 bis 50 Zentimeter lange Dolche, die, wie man auf Infotafeln lesen kann, nicht nur Waffe, sondern auch Teil der Kleidung waren. Daneben sieht man Kettenhemden aus dem Kaukasus und dem Iran aus dem 18. und 19. Jahrhundert, Säbel und Armschienen, Pulverhorn und Schusswaffen. Auch eine über hundert Jahre alte `Tscherkesska´. Und dann springt einem noch etwas anderes ins Auge: der fein gearbeitete `Säbel des Imam Schamil´, ein Geschenk der iranischen Herrscherfamilie der Kadscharen. Imam Schamil führte über zwanzig Jahre die muslime Bevölkerung Dagestans und Tschetscheniens gegen die russische Besatzung an.“

zenithonline vom 7. März 2014

 

Interessant, zu wissen..., dass die Mehrheit des kaukasischen Volkes der Tscherkessen seit der Vertreibung durch das zaristische Russland außerhalb seiner Urheimat lebt.

 

Etwa zwei Millionen Tscherkessen, deren ursprüngliche Heimat der Kaukasus ist, sind seit dem Sieg der Russen im letzten Russisch-Türkischen Krieg 1864 in alle Winde zerstreut: Heute lebt etwa eine Million Tscherkessen in der Türkei, etwa einhunderttausend Tscherkessen leben in Syrien, etwa 65 000 in Jordanien, etwa 4 000 in Israel, etwa 40 000 in Ländern der Europäischen Union, vornehmlich in Deutschland, Holland, Belgien, Frankreich, der Schweiz und Österreich, und etwa 9 000 in den USA; in die Länder der Europäischen Union gelangten die Tscherkessen nach ihrer Emigration aus der Türkei. Es gab und gibt auch noch Tscherkessen-Siedlungen im Kosovo, in Südserbien, in Bulgarien und in Moldova. Im Nahen Osten waren die Tscherkessen als treue Gardisten bei den Herrschern beliebt, auf dem Balkan waren sie als ehemalige Söldner eher verhasst. 1998, auf dem Höhepunkt des Kosovo-Konflikts, wurden die Tscherkessen in einer Blitzaktion ausgeflogen und in den Kaukasus zurückgeschafft, wo sie in der Republik Adygeja angesiedelt wurden. - Trotz des Assimilationsdrucks in der Diaspora haben die Tscherkessen als Volk überlebt. Es ist ihnen gelungen, ihre Kultur und Sprache in die Gegenwart hinüberzuretten, und es gibt eine breite tscherkessische Bewegung im Nordkaukasus, in der Diaspora in der Türkei, in der des Mittleren Ostens, in Europa und den USA. Die Tscherkessen fordern von der russischen Regierung die Anerkennung des Völkermords durch das zaristische Russland. Der Kreml hingegen bezeichnet die Tscherkessen als „Separatisten“ und brandmarkt deren Eigenständigkeitsstreben. Die Enttäuschung über die Haltung der Russen könnte, so meinen Experten, zu einer Radikalisierung der jungen tscherkessischen Generation führen. - Das runde Jubiläum – der 150. Jahrestag des Genozids im Jahre 2014 - wurde bewusst in der Olympiastadt Sotschi vor einer breiten Öffentlichkeit begangen. Viele tscherkessische Aktivisten beklagen, dass die Olympiade 2014 „auf blutbeflecktem Boden“, dem Terrain des Genozids, stattgefunden hat.

 

 Ein Volk, das seine  Heimat verloren hat,

verliert auch seine angeborene Würde.

Sprichwort der Tscherkessen

 

Als Journalistin der Illustrierten FREIE WELT – die als Russistin ihre Diplomarbeit über russische Sprichwörter geschrieben hat - habe ich auf allen meinen Reportagereisen in die Sowjetunion jahrzehntelang auch Sprichwörter der dort ansässigen Völker gesammelt - von den Völkern selbst,  von einschlägigen Wissenschaftlern und Ethnographen, aus Büchern ... - bei einem vierwöchigen Aufenthalt in Moskau saß ich Tag für Tag in der Leninbibliothek. So ist von mir erschienen: 

* Aus Tränen baut man keinen Turm, ein kaukasischer Spruchbeutel, Weisheiten der Adygen, Dagestaner und Osseten, Eulenspiegel Verlag Berlin in zwei Auflagen (1983 und 1985), von mir übersetzt und herausgegeben, illustriert von Wolfgang Würfel.

* Dein Freund ist dein Spiegel, ein Sprichwörter-Büchlein mit 111 Sprichwörtern der Adygen, Dagestaner Kalmyken, Karakalpaken, Karelier, Osseten, Tschuktschen und Tuwiner, von mir gesammelt und zusammengestellt, mit einer Vorbemerkung und ethnographischen Zwischentexten versehen, die Illustrationen stammen von Karl Fischer, die Gestaltung von Horst Wustrau, Herausgeber ist die Redaktion FREIE WELT, Berlin 1986.

 * Liebe auf Russisch, ein in Leder gebundenes Mini-Bändchen im Schuber mit Sprichwörtern zum Thema „Liebe“, Buchverlag Der Morgen, Berlin 1990, von mir (nach einer Interlinearübersetzung von Gertraud Ettrich) in Sprichwortform gebracht, herausgegeben und mit einem Nachwort versehen, illustriert von Annette Fritzsch.

Ich bin, wie man sieht, gut damit gefahren, es mit diesem turkmenischen Sprichwort zu halten: Hast du Verstand, folge ihm; hast du keinen, gibt`s ja noch die Sprichwörter.

Hier dreißig tscherkessische Sprichwörter:

 

(Bisher Unveröffentlicht)

 

Einer Brotfreundschaft wegen mache keine Blutsverwandtschaft zu Geld.

In dem nicht in Angriff genommenen Werk lauert die Schlange.

Weder Hemden halten ewig, noch Zweifel und Ängste.

Schau dich erst im Kreise um, ehe du mit dem Schwert ausholst.

Nur dem Landstreicher und Liederjan ist jede Kopfbedeckung recht.

Neidische Menschen verschweigen gern fremden Ruhm.

Der Reiter und sein Pferd teilen nicht dasselbe Los.

Willst du dich rechtfertigen, wälze alle Schuld auf einen Toten ab.

Schuldige und Unschuldige sitzen oft am selben Tisch.

Auch an einem heiteren Tag ist ein Gewitter nicht ferner als ein Pferdesattel.

Besonders nahe sind Tod und Not demjenigen, der immer an sie denkt.

Springt dir tagsüber kein Unglück ins Auge, hast du nächstens keine bösen Träume.

Hast du einen guten Vater, bilde dir darauf nichts ein - dein Verdienst ist, wenn du

 einen guten Sohn hast.

Irgendwann verliert man, was einem zu besitzen nicht beschieden ist.

Manches kleine Vögelchen richtet sich selbst zugrunde, weil es ein zu großes Ei legen will.

Kommt die Wahrheit als Unwahrscheinlichkeit daher, wird sie wie eine Lüge empfangen.

Auch im Wald allein, plaudere kein Geheimnis aus.

Ob einer gut oder böse, weißt du erst, hast du mit ihm Weg oder Dach geteilt.

Selbst ein Weiser kann Neider haben.

Worte mit alter Weisheit sind zeitgemäßer Rede Zier.

Wer meint, die Welt sei voller böser Menschen, tut meist selbst wenig Gutes.

Selbst ein nettes Wort füllt keinen leeren Bauch.

Die Wut eines Feindes ist kurz, der Groll eines Freundes - ewig.

Hat sich eine Ziege an Wein gelabt, bändelt sie sogar mit dem Wolf an.

Wenn sich eine alte Ziege im Wasser spiegelt, kommt sie sich wie eine junge Geiß vor.

Wer viel zuhört, spricht weniger.

Mit dem, was du auf der Zunge hast, überzeugst du nur, wenn es von Herzen kommt.

Still die Zunge - heil der Hals.  

Hast du keinen Ratgeber, berate dich mit Deiner Pelzmütze.

Ein Reicher trägt sogar die Schnürsenkel des Armen auf.

 

Interlinearübersetzung aus dem Russischen von Gertraud Ettrich; gesammelt und in Sprichwortform gebracht von Gisela Reller

 

Zitate: „Tscherkessen verstehen keinen Spaß. Kurz zuvor hatten wir von Kosaken die folgende Geschichte gehört. Ein Landstreicher ließ beim Verlassen eines Dorfes, in dem er gearbeitet hatte, einen eisernen Löffel mitgehen. Die Tscherkessen holten ihn ein, durchsuchten ihn und fanden den eisernen Löffel; sie schlitzten ihm mit dem Dolch den Bauch auf, steckten den Löffel tief in die Winde hinein, ritten seelenruhig davon und ließen ihn in der Steppe liegen, wo er halbtot von Kosaken aufgelesen wurde. Er erzählte es ihnen und starb auf dem Weg ins Dorf. Die Kosaken warnten uns des öfteren mit Nachdruck vor den Tscherkessen und erzählten lehrreiche Geschichten in der Art der angeführten - ich hatte keinen Grund, ihnen nicht zu glauben."

Maxim Gorki (russischer Schriftsteller 1868 bis 1936) in: Die alte Isergil, 1895

*

"Die Augen des Landpolizeiaufsehers blieben plötzlich an einer Stelle oberhalb meines Kopfes an der Wand haften. `Sie haben da ein schönes Gewehrchen´, sagte er leichthin, ohne mit dem Trommeln aufzuhören. `Wirklich, ein schönes Gewehrchen! Voriges Mal, als ich bei ihnen vorsprechen wollte und Sie nicht zu Hause antraf, habe ich es auch schon bewundert. Ein wundervolles Gewehrchen!´ - Ich drehte mich um und warf einen Blick auf das Gewehr. `Ja, es ist nicht übel´, bemerkte ich beifällig. `Es ist ein ganz altes Modell, ein Fabrikat von Gastin-Rennette, ich habe es erst im vorigen Jahr in eine Doppelflinte umarbeiten lassen. Sehen Sie sich mal die Läufe an.´- `Natürlich, natürlich... die Läufe habe ich ganz besonders bewundert. Ein Prachtexemplar! Einfach eine Kostbarkeit, kann man sagen!´ - Unsere Blicke kreuzten sich, und ich bemerkte, wie in den Mundwinkeln des Landpolizeiaufsehers ein leichtes, aber vielsagendes Lächeln zuckte. Ich stand auf, nahm das Gewehr von der Wand und trat damit vor ihn hin. - `Bei den Tscherkessen  gibt es den schönen Brauch, dem Gast das zu schenken, was sein Wohlgefallen erregt hat´, sagte ich liebenswürdig. `Wir sind Tscherkessen, Jewpsichi Afrikanowitsch, aber ich bitte Sie dennoch, dieses Gewehr als Erinnerung an mich entgegenzunehmen.´ - Anstandshalber sträubte sich der Landpolizeiaufseher. `Ich bitte Sie, so eine Kostbarkeit! Nein, nein, das ist ein zu großzügiger Brauch!´- Nun allzu lange brauchte ich ihn nicht zu überreden...`"

Alexander Kuprin (russischer Schriftdsteller, 1870 bis 1938) in:

Die schöne Olessja, 1898

*

"Die Wagenkolonne fuhr beim Tor vor, hinter dem sich der Wachtposten von Chruschtschows Leibgarde befand, die ihn rund um die Uhr schützte. Diese Unterabteilung zählte beinahe sechshundert Leute und bestand aus Chruschtschows ergebenen Kappel-Offizieren, aus Absolventen der Diversions-Schule `Großer Osten´ und aus Tscherkessen der vielgerühmten `wilden´ Division´."

Vladimir Sorokin (russischer Schriftsteller, geboren 1955) in:

Der himmelblaue Speck, 2002

*

„Heute sind die Tscherkessen über die Welt verstreut. Wie viele es sind, kann niemand sagen, die Schätzungen reichen von drei bis sieben Millionen. Nur noch siebenhunderttausend von ihnen leben in Russland, verteilt auf drei Republiken: Kabardino-Balkarien, Karatschajewo-Tscherkessien, Adygeja. Es ist ein Volk, das sich selbst im Museum oder im Internet besuchen muss, um die eigenen Wurzeln zu spüren.“

Barbara Lehmann in: Zeit ONLINE vom 9. Januar 2014

*

"Moralisch betrachtet, ist es natürlich furchtbar, dass Menschen, die hier einige hundert Jahre gelebt haben, gezwungen wurden, umzusiedeln. Aber Moral ist das eine, Politik ist das andere. Es ging darum, den Krieg zu beenden. Der Kaukasuskrieg dauerte 47 Jahre und war sehr blutig. Um ihn zu stoppen, bot man den Tscherkessen an, in die Ebenen umzusiedeln, und sich den Russen zu unterwerfen. Wer das nicht wollte, dem wurde gesagt: `Verlasst Russland.´ - Ich kann die Entrüstung einiger Tscherkessen über die Olympischen Spiele nicht verstehen. Natürlich wird die Volksgruppe im Programm berücksichtigt. Und tatsächlich wurde im Olympischen Park ein tscherkessisches Kulturzentrum errichtet. Dort werden während der Olympischen Spiele tscherkessische Folkloregegenstände zu sehen sein.“

Alla Gusseva, stellvertretende Direktorin des Museums in Sotschi, in: „Deutschlandfunk“ vom 3. Februar 2014

 

Als Reporterin der Illustrierten FREIE WELT bereisten wir 1987 das Autonome Gebiet der Karatschaier und Tscherkessen.

 

 

Nina Charitonowa, Betreuerin von der russischen Nachrichtenagentur APN, Textautorin Gisela Reller und Bildreporter Detlev Steinberg - wurden empfangen mit Brot und Airan

kurz vor der Stadt Karatschajewsk.

Foto aus: Rellers Völkerschafts-Archiv

 

Über die Karatschaier und Tscherkessen berichtete ich in der FREIEN WELT Nr. 8/1987 auf  22  Seiten.

 

Airan  -   Nationalgetränk   des   Frohsinns...  (LESEPROBE  aus:  FREIE  WELT Nr. 8/1987)

 

"Wann und wo immer wir uns im Land der Karatschaier und Tscherkessen als Gäste blicken lassen, man reicht uns eine Schale Airan. Man kann sie auf einen Zug leeren, denn so gründlich und anhaltend löscht kein weiteres Getränk im weiten Sowjetland  den Durst. Finde ich. Aber auch wenn man an dem dicklichen, weißen Getränk nur nippt, hat man seiner Gastpflicht schon Genüge getan.

Seit eh und je ist Airan das nationale Lieblingsgetränk der Karatschaier, das der Tscherkessen ist es mit der Zeit geworden. Wir haben - unabhängig von der Tageszeit - kein Mahl ohne Airan zu uns genommen. Man genießt ihn hier als vollwertige Mahlzeit mit heißem, aus Maismehl gebackenem Brot, er wird bei der Zubereitung von Fleischspeisen und Soßen verwendet, er dient als Gegengift bei Schlangenbissen, in Sanatorien trinken Genesungssuchende 15 bis 20 Gläser am Tag. Airan wird in Gedichten gerühmt, Legenden werden von ihm erzählt, hier ist eine Legende: Vor langer, langer Zeit sammelten die Karatschaier auf einer Hochgebirgswiese Heilpflanzen. Bei ihnen war auch das schönste Mädchen des Stammes. Sie sammelte ihre Früchte und Kräuter in einem Krug. Nachdem sie ihn zu Hause geleert hatte, füllte sie Milch hinein. Sauer geworden, war die Milch von solchem Wohlgeschmack, dass sich alle wunderten. Es stellte sich heraus, dass einige Berberitzen- und Sauerampferblätter im Krug verblieben waren. Des schönen Mädchens Stammesbrüder stellten dieses würzige Milchgetränk nun selbst her und nannten es nach dem Namen des Mädchens Airma. Die Zeit veränderte den Klang des Wortes, bis daraus Airan geworden war.

Airan wurde bis 1966  in jeder Familie Karatschajo-Tscherkessiens selbst `gebraut´, seit zwei Jahrzehnten kann man ihn im Geschäft kaufen: 28 Kopeken kostet eine fettreiche Literflasche, 16 Kopeken eine fettarme.

Ali-Ssurtan Gappojew, Direktor der `Städtischen Molkereibetriebe´ in Karatschajewsk, erzählt uns augenzwinkernd, dass ihn ab und an ein Alptraum heimsuche, einer, der skandalös darin gipfele, dass es einen ganzen Tag lang in den Geschäften keinen Airan zu kaufen gibt. Da wir uns schon einige Tage im Land der airanbesessenen Karatschaier und Tscherkessen aufhalten, schmunzeln wir sehr verhalten zurück.

Ich frage Ali-Ssurtan Gappojew, was es denn nun legendenfrei mit dem Nationalgetränk des Frohsinns, der Gesundheit und eines langen Lebens auf sich habe. `Airan´, antwortet er mir milch-fachmännisch, `besitzt als Nahrungsmittel für den Organismus lebensnotwendige Stoffe, die auf einige physiologische Funktionen Einfluss haben, zum Beispiel auf die Magen- und Darmtätigkeit, auf die Atmungsorgane, auf den Stoffwechsel überhaupt... Der Gäransatz für den Airan ist von komplizierter Zusammensetzung. Er besteht aus Milchsäure, Streptokokken, Milchsäurebakterien vom Typ des Joghurtbazillus und laktosevergärenden und nichtlaktosevergärenden Hefen. Im ausgereiften Airan sind 0,6 Prozent Alkohol, 0,24 Prozent Kohlensäure und bis zu 1,5 Prozent Milchsäure enthalten. Ich sage Ihnen das so ausführlich, weil ich mir wünsche, dass Ihre Leser über unseren Airan soviel wissen, wie über den aus Stutenmilch vergorenen weithin bekannten Kumys der Kalmyken.´

In den `Städtischen Molkereibetrieben´ sehen wir, dass Airan aus pasteurisierter Kuhmilch hergestellt wird. Die Vergärung läuft bei einer Temperatur von 35 Grad Celsius ab und dauert sieben bis acht Stunden. Das vergärte Produkt wird in Kühlkammern ausgereift und bis auf 8 Grad abgekühlt, wonach Airan - endlich - trinkfertig ist.

Die `Städtischen Molkereibetriebe´ stellen natürlich nicht nur Airan her, sondern auch Butter, Margarine, süße Sahne, Smetana, verschiedene Sorten Käse, auch Weißkäse, süßen Quark, gekörnten Quark... und alles: fett, halbfett und fettarm.

Man hat Kosthäppchen aller Produkte für uns hingestellt. Der Direktor bittet uns mit den Worten zu Tisch: ´Die Milch ist von Ihren Kühen.´ Von `unseren Kühen´? Ach, von denen, die sich 2 400 Meter über dem Meeresspiegel an alpinen Futtergräsern gütlich tun. Aus dieser luftig-duftenden Bergeshöhe, die wir gestern besucht haben, fließt also nicht nur die Milch durch die erste karatschajo-tscherkessische fünftausend Meter lange Unterberg-Milch-Leitung hierher, sondern auch mit der Nachrichtenübermittlung klappt es... Sechzig Prozent der karatschaiisch-tscherkessischen Milch kommt insgesamt von Bergweiden, von Kühen der karatschaiischen Rasse, die besonders anspruchslos und wenig kälteempfindlich ist. Dort herauf führte noch vor fünfzehn Jahren keine Straße. Heute gibt es auch dort Wasser, Elektrizität, Telefon und elektrische Melkanlagen. Von Anfang an dabei ist die  Melkerin  Chaja Kubanowa,  deren  Kühe heute durchschnittlich 3 600 Kilogramm Milch geben. Das sei, so sagt sie, was die Rasse und die Gebirgsbedingungen angelange, ein gutes Ergebnis. Zufrieden allerdings geben sich hier alle nie, eine Leistungssteigerung sei durchaus noch möglich.

Ich beobachte auf der Weide Chaja Kubanowas liebevolles Einvernehmen mit der Schönen, der Ruhigen, der Grille, der Guten, der Puppe, der Schlampe... Jede ihrer Kühe hat einen, wie sie meint, passenden Namen. Ich Großstadtkind habe Mühe, mir nicht anmerken zu lassen, dass ich nicht den geringsten Unterschied zwischen der schwarz-weißen Schönen und der schwarz-weißen Schlampe entdecken kann..."

 

 

Tscherkessk - keine "todte" Stadt (LESEPROBE aus: FREIE WELT Nr. 8/1987)

 

"Heute habe ich das erste Freizeitstündchen, ich nutze es zu einem Stadtbummel durch Tscherkessk. Gelegen im Tal des Kuban, in einer Höhe von 600 Metern über dem Meeresspiegel ist Tscherkessk leider nicht - wie beispielsweise Karatschajewsk - ringsum mit malerischen Bergen geschmückt. Tscherkessk entstand aus der ehemaligen Kosakenstaniza Batalpaschinsk, gegründet im Jahre 1825. Erst über hundert Jahre später, 1931, wurde ihr das Stadtrecht zuerkannt. In seinem Buch `Der Kaukasus und seine Völker´ schreibt der Forschungsreisende von Erckert 1887 über Batalpaschinsk: `Es ist eine weitläufig angelegte Ortschaft... todt, staubig und schmutzig...´ Heute pulsiert in Tscherkessk (fast 100 000 Einwohner) städtisches Leben, sie ist eher laut als `todt´. Mir gefällt die Atmosphäre hier, ich sehe mit ein wenig neidischem Wohlgefallen, wie freundlich und zuvorkommend man sich gegenseitig verhält, auch das etwas laute Gebaren, wie man sich auf der Straße begrüßt, sich etwas zuruft, stört mich nicht, denn ich führe es auf das sprichwörtlich kaukasische Temperament zurück, für das vor allem die Tscherkessen geradezu berühmt sind.

Aus der ehemaligen `weitläufig angelegten Ortschaft´ ist das administrative, wirtschaftliche und kulturelle Zentrum des Autonomen Gebiets der Karatschaier und Tscherkessen geworden. Von vier Fachschulen weiß ich, von fünf Berufsschulen, von zwei Musikschulen, von einer künstlerischen Spezialschule, eine wissenschaftliche Gebietsbibliothek gibt es, ein Dramatisches Theater, in dem Stücke in karatschaiischer, tscherkessischer und russischer Sprache gespielt werden, eine Philharmonie und ein Heimatkundemuseum, dessen Direktorin dreistöckige Schokolade-Sahne-Kirsch-Torten bäckt, dass einem Sehen und Hören vergeht und erst recht das Abnehmen...

Apropos abnehmen.  Ich habe bis jetzt nirgendwo in Karatschajo-Tscherkessien Wohlbeleibte oder gar Dicke zu Gesicht bekommen. Ob auch das an den Wundereigenschaften des Airan liegt? Da komme ich an der Filiale des Polytechnischen Instituts Stawropol vorbei (in Karatschajewsk gibt es ein Pädagogisches Hochschulinstitut), lasse mir den Weg weisen zum Buchverlag und zum Schriftstellerverband (wo wir für morgen mit der Lyrikerin Chalimat Bairamukowa verabredet sind). Ja, Tscherkessk ist heute adrett und ansehnlich, aber die Stadt hat kaum Unverwechselbares. Ich habe immerzu das Gefühl, das Gebäude da schon gesehen zu haben, in dieser und auch in jener Straße schon gewesen zu sein. Auf dem Rückweg ins Hotel, zugegeben ein bisschen enttäuscht von der allzu üblichen Hochhausarchitektur, entdecke ich aber denn doch noch so etwas wie ein Plätzchen, das, würde ich hier wohnen, ein Lieblingsplätzchen werden könnte - den Park von Tscherkessk: Blumen über Blumen, sommerliche noch, herbstliche schon, viele immergrüne und Laub-Baumriesen, Bank an Bank, auf denen weit und breit ich die einzige Dösende bin, alle anderen Lesende sind. Ich sehe den Wasserspielen des künstlerisch-schönen Keramik-Springbrunnens zu und freue mich, dass ich seinen Schöpfer kenne, den russischen Künstler Alexander Gretschin, dessen Urgroßvater hier schon lebte, ein Kuban-Kosake. Der Park `Grüne Insel´ scheint mir eine (die einzige?) Sehenswürdigkeit von Tscherkessk zu sein."

Roderich von Erckert (1821 bis 1900), der Autor von „Der Kaukasus und seine Völker“, war Gardeoffizier und Mitglied der russischen Geographischen Gesellschaft. Er erforschte die Kultur und die Sprachen der Völker Russlands und des Kaukasus. Er schrieb zu dieser Thematik mehrere wissenschaftliche Arbeiten und Reiseberichte. Roderich Erckert  veröffentlichte  auch  mehrere  Karten, u. a. sechs Karten über ein Gebiet zwischen Warthe und Dnepr und gab somit einen Überblick über die polnischen Nationalitäten der einzelnen Landesteile Russlands. Später wandte sich Erckert den Völkern und Sprachen des Kaukasus zu, u. a. erkundete er die Georgische Heerstraße, die Tbilissi, die Hauptstadt Georgiens mit Wladikawkas, die Hauptstadt Nordossetiens, verbindet. Dieser uralte Karawanenweg galt als „Tor zum Orient“; denn sie war die populärste Verbindung des Nordkaukasus mit dem Orient. Die frühesten schriftlichen Überlieferungen zur  Existenz dieses Karawanenweges stammen von dem griechischen Geographen Strabon aus dem 1. Jahrhundert v. Chr. - Zuletzt widmete sich Erckert der im 19. Jahrhundert so populären Germanenforschung.

 

Ein Ossete in der Verbannung (LESEPROBE aus: FREIE WELT Nr. 8/1987)

 

"Als weiland der deutsche Ethnograph, Kartograph und Offizier in russischen Diensten Roderich von Erckert  (1821 bis 1900) schrieb, dass Tscherkessk, damals noch Batalpaschinsk geheißen, `todt, staubig und schmutzig´ sei, gab es hier und überhaupt in diesem zaristischen Randgebiet nur einige Bergwerke und Kohlengruben, ausgerüstet mit primitiver Technik, eine Wollspinnerei, einige Mühlen, Werkstätten des Handwerks und Schmieden. Heutigentags weiß man nicht gleich, in welchen der zahlreichen Betriebe man uns führen soll. Man entscheidet sich schließlich für die `Tscherkessische Produktionsvereinigung Chemie´ mit mehr als dreitausend Beschäftigten, Vertretern von einunddreißig Nationen und Völkerschaften. Von den vier in Karatschajo-Tscherkessien angestammten Völkern arbeiten hier 243 Tscherkessen, 197 Abasiner, 59 Karatschaier und 44 Nogaier. Direktor ist Sachar Zachilow - er ist Ossete. Warum gerade ein Ossete auf dem Direktorenstuhl? Sollte sich die nationale Struktur des Gebietes nicht auch in der Zusammensetzung der Leitungskader widerspiegeln? `Ja´, stimmt Sachar Zachilow sofort zu, `aber niemand will, dass es dabei nur um eine mechanische Verteilung von Sitzen und Ämtern geht. Und außerdem´, fragt er mich, `wissen Sie vielleicht nicht, dass auch wir Osseten hier so unangestammt gar nicht sind?´ Doch, ich weiß es inzwischen. Auf dem Weg zur Milchfarm hatte uns unser Begleiter schon auf das Dorf Kosta Chetagurowo aufmerksam gemacht. Der ossetische Dichter Kosta Chetagurow war für seine aufrührerischen Gedichte fast zehn Jahre seines Lebens verbannt gewesen. Und Karatschajo-Tscherkessien galt als öde und abgeschieden genug, um ihn von 1891 bis 1892 hierher zu verbannen. Von ihm stammt dieses Gedicht über die Bewohner Karatschajo-Tscherkessiens:

Den Reichtum schafft des Armen Fleiß und Schweiß, / doch wie viel Tränen ihm sein Los entringt! / Sein Schlafraum ist der Stall, sein Bett des Bodens Eis, / wo durch den Filz der Steine Härte dringt. / Raubt ihm sein Schicksal auch das Sonnenlicht/ und kennt sein Tag nur Unbill, Furcht und Not, / wenn ihn der Schlaf befällt, so stöhnt er nicht, /da auch im Traum sein Herz wie Sonne loht. //

Viele seiner Landsleute folgten Chetagurow damals, sie arbeiteten für einen Hungerlohn in der Grube `Elbrus´, wo Silber, Blei und Zink abgebaut wurde. Deren Nachfahren sehen Karatschajo-Tscherkessien heute als ihre Heimat an.

Farben - was wären wir ohne sie? Und was ohne Johann Wolfgang von Goethe, der über die Farbe sagt: `...das Auge bedarf ihrer, wie es des Lichts bedarf´. Im sonnenüberfluteten Karatschajo-Tscherkessien erscheint mir der Himmel dunkelblauer, die Almenwiesen sind sattgrüner, Schnee und Gletschereis der Bergesgipfel reinweißer. Vielleicht ist gerade deshalb in Karatschajo-Tscherkessien eines der größten Farbenwerke der Sowjetunion entstanden? `Vergleichbare Werke´, sagt Sachar Zachilow, `gibt es außerhalb unseres autonomen Gebiets nur noch in vier Orten der Sowjetunion.´ An dieser Stelle sei einmal an die Kleinheit Karatschajo-Tscherkessiens erinnert!

In der `Tscherkessischen Produktionsvereinigung Chemie´ werden jährlich Erzeugnisse im Werte von etwa 200 Millionen Rubel produziert. Sachar Zachilow erzählt uns, dass die heutige Produktionsvereinigung 1934 als kleiner Betrieb gegründet worden war, um die einheimische Bevölkerung mit Farben, Ölfirnis, Füllhaltertinte und Wagenschmiere zu versorgen. `1960 wurde der Betrieb reorganisiert, wurden Lacke und Farben, ab 1965 Emaillefarbe in die Produktion aufgenommen, es folgten Alkydlacke. Ab 1967 werden in der betriebseigenen Berufsschule Facharbeiter aus der einheimischen Bevölkerung ausgebildet, 1970 wird ein automatisierter Komplex zur Produktion von Karbidharzen in Betrieb genommen. 1971 die Produktion lithographierter Weißbleche zur Büchsenherstellung. Der in diesen Abteilungen völlig automatisierte Produktionsprozess erlaubt es, bis zu 48 Millionen lithographierte Blechbüchsen zu erzeugen. Die bedruckten Büchsen - man spart damit die Papieretiketten ein - werden inzwischen in Tscherkessk auch für die Farbwerke in Jaroslawl, Tscheljabinsk und Rostow hergestellt. Kurzum´, schließt Sachar Zachilow seinen Kurzvortrag über die Betriebsgeschichte, `es verlassen unser Werk heute etwa fünfzig verschiedene Erzeugnisse: in Türkis, Alaskaweiß, Reinweiß, Khaki, Blau, Elfenbeinfarben, Grau, Hellgrau, Cremefarben, Blaugrau, Rot, Orange, Sandfarben, Zartrosa, Himmelblau... Farben und Lacke aus Tscherkessk sind in der Autoindustrie ein Begriff, im Flugwesen, im Schiffbau; Traktoren tragen unsere Farben, Fahrräder, Kühlschränke. Innerhalb von 24 Stunden produziert das Werk zum Beispiel Farben für zehntausend Kühlschränke.

Beim Rundgang durch die großen Werkhallen mit den komplizierten automatisierten Anlagen (auch aus der DDR und aus Ungarn) und der neuesten Technologie fällt es schwer zu glauben, dass dieses Unternehmen aus einem kleinen ortsgeleiteten Betrieb gewachsen ist. Hält es auch einen Vergleich mit dem Weltniveau stand? `Noch nicht auf allen Gebieten´, antwortet Sachar Zachilow, `aber unser Parkettlack zum Beispiel übertrifft in seiner Qualität bereits die Erzeugnisse führender ausländischer Firmen. Und in Finnland, Italien, Österreich... erfreuen sich Emaillelacke aus Tscherkessk großer Nachfrage. Um die Selbstkosten für unsere Erzeugnisse zu senken, sind technische Neurausrüstungen und ist die Rekonstruktion einiger Abteilungen vorgesehen, und in Zukunft sollen alle Kollegen für die Schichtarbeit gewonnen werden.´

Im Werk erfreuen sich großer Nachfrage solche Dienstleistungseinrichtungen wie eine Zweigstelle der Sparkasse, eine Post, ein Frisiersalon, eine Sauna. Natürlich gibt es eine betriebseigene Poliklinik, ein Sommer- und ein Wintererholungsheim. `Wo es noch hapert´, sagt Sachar Zachilow , `ist der Wohnungsbau. Der muss im nächsten Jahrzehnt ganz groß geschrieben werden.´ Etwas außerhalb von Tscherkessk sehen wir schon einen gänzlich neuen Wohnbezirk im Bau.

Tscherkessk wurde 1804 als Militärstützpunkt an Russlands südlicher Grenze gegründet. 1825 erhielt die Festung den Status einer Kosaken-Staniza, die von 1931-1934 Batalpaschinsk hieß. 1934-1937 nannte man sie Sumilow zu Ehren des russischen Staatsmannes Daniil Sulimow. Nachdem dieser im Zuge der Stalinschen Säuberungen am 27. Juni 1937 verhaftet und am 27. November 1937 hingerichtet worden war, hieß die Stadt von 1937-1939 Jeschewo-Tscherkessk – nach dem Innenminister Nikolai Jeschow, der von 1936 bis 1938 Chef der sowjetischen Geheimpolizei NKWD war und als dieser verantwortlich für die Umsetzung  der  von  Stalin angeordneten  Säuberungen, die  etwa  750 000 Todesopfer forderte; Jeschow war der einzige ethnische Russe, der den Posten des Geheimdienstchefs während der Regierungszeit Stalins innehalte. Nur 1,50 Meter groß, wurde er später als der „blutrünstigste Zwerg“ bezeichnet. Nachdem auch der Mitverantwortliche für den Großen Terror während des Großen Terrors verurteilt und hingerichtet war, erhielt die Stadt 1939 ihren heutigen Namen Tscherkessk.

 

In Dombai und Teberda (LESEPROBE aus: FREIE WELT Nr. 8/1987)

 

"Einhundertvierzig Kilometer beträgt die Ausdehnung des Autonomen Gebiets Karatschajo-Tscherkessiens in Nord-Süd-Richtung, in Ost-West-Richtung sind es einhundertsechzig Kilometer. Alles ist hier so nah beieinander, dass wir von unseren Ausflügen stets abends in unser Tscherkessker Hotel zurückgekehrt sind. Heute aber sieht unser Programm eine Übernachtung außerhalb von Tscherkessk vor. Im Dombaital. Wer hat nicht schon dieses Fleckchen Erde preisen hören - vielleicht ohne zu ahnen, dass es zum Territorium der Karatschaier und Tscherkessen gehört. Wir fahren bei so dunkelblauem Himmel los, dass der Verdacht gerechtfertigt erscheint, Sachar Zachilow, der Direktor der `Tscherkessischen Produktionsvereinigung Chemie´, in der u. a. Farben hergestellt werden, habe ihn extra für uns anstreichen lassen. Die Fahrt mit dem Auto führt über die Heerstraße von Suchumi, erst am Kuban entlang, vorbei am Großen Stawropoler Kanal; von hier aus trägt der Fluss, dessen Lauf Menschenwille 1962 veränderte, seine Wasser in die Trockensteppen der Stawropoler Region. Nur etwa siebzig Kilometer sind es bis zum Dombaital; über den Kluchor-Pass erreicht die Heerstraße schließlich Abchasiens Hauptstadt Suchumi, 237 Kilometer lang ist sie insgesamt.

Am linken Ufer des Kuban bestaunen wir aber erst noch eine vom Autor aus nicht auszumachende Anzahl von Gewächshäusern und hören von unserem heutigen Begleiter, dass es eines der ganz großen Gewächshauskombinate ist. Man erntet hier in einer Saison etwa 40 000 Tonnen Tomaten, Gurken, Radieschen, Zwiebeln. Der größte Teil dieser Ernte wird vertragsgemäß für die Moskauer Bevölkerung angebaut.

Und  das  ehemalige zaristische  Randgebiet  hat  sogar  mit einem wahren Superlativ aufzuwarten: Auf dem 2 380 Meter hohen Berg Pastuchow hat die Akademie der Wissenschaften der UdSSR eine astrophysikalisches Observatorium errichtet, das über das weltgrößte Teleskop mit einem Spiegel von sechs Metern Durchmesser verfügt. Und Ende der siebziger Jahre nahm RATAN-600, das größte Radioteleskop der Welt, seine Tätigkeit auf; es hat einen Durchmesser von sechshundert Metern.

 

Das Hauptinstrument des  Selentschuk-Observatoriums, das 6-Meter-Spiegelteleskop BTA-6 war zum Zeitpunkt seiner Fertigstellung 1975 bis zum Beginn der 1990er Jahre das größte Fernrohr der Welt. Allerdings gab es mit dem 42 Tonnen schweren Spiegel aus Borsilikatglas einige Probleme. So musste dieser 1978 wegen eines Risses ausgetauscht werden. Heute steht das kaukasische Selentschuk-Observatorium nur noch an 17. Stelle in der Welt.  An die erste Stelle der Welt gelangte inzwischen das Teleskop in Arizona (USA) mit 11,8 Metern fast doppelt so groß - auf 3 267 Metern über dem Meeresspiegel. – Im Dezember 2013 schickte die ESA (European Space Agency) ihr modernstes Teleskop ins All, um eine Milliarde Sterne mit noch nie dagewesener Genauigkeit zu erfassen. Die Digitalkamera Gaia kann ein einzelnes Haar aus eintausend Kilometern Entfernung erkennen. Die Mission Gaia gilt als weltweit einzigartig: Eineinhalb Millionen Kilometer von der Erde entfernt wird der Forschungssatellit fünf Jahre lang die Position der Sternen-Milliarde vermessen. Entsprechend gigantisch nimmt sich die Datenmenge aus, die Gaia zur Erde übermitteln wird: Die Datenflut dürfte über die gesamte Missionsdauer auf eine Million Gigabyte anschwellen - das entspricht laut ESA der Datenmenge auf rund zweihunderttausend DVDs.

 

Die Heerstraße führt nun immer höher hinauf, spärlicher wird die Flora, verwitterter und steiniger werden die Berggipfel beiderseits des Weges. Durch die berühmte Kurstadt Teberda fahren wir heute nur hindurch, hier werden wir auf dem Rückweg verweilen. Als wir schon glauben, die Baumgrenze hinter uns zu haben, werden die Berge mit einem mal wieder grüner, die Bäume höher.

Von Teberda aus säumen ganze Wälder von Edeltannen unseren Weg. Aus vierzig bis fünfzig Meter Höhe schauen die schlanken, gut gewachsenen Baumriesen zu uns herab, bestimmt sind sie jahrhundertealt. Nach jeder Kurve ein neuer, unvergesslich schöner Anblick, bald schon mit bizarren, teils schneebedeckten Gipfeln. Und da - das Matterhorn, wie ich es von vielen Fotos kenne. Aber nein, dieser schneebedeckte Felsriese mit seiner scharfkantigen Spitze ist der Pike Ine, zu deutsch Nadelspitze - mit seinem Spitznamen hier aber doch nach der Bergspitze der Alpen "Kaukasisches Matterhorn" genannt.

Die etwa Fünfundzwanzig-Kilometer-Fahrt von Teberda bis Dombai empfinde ich als die schönste Wegstrecke in Karatschajewo-Tscherkessien - trotz bereits genossenem wunderschönen Elbrus-Anblick. Auf meiner Lieblingsstrecke scheint alles zum Anfassen nah, majestätisch, aber nicht erdrückend.

Die Siedlung Dombai liegt im Dombaital am Fuße des Großen Kaukasus in einer Höhe von 1 650 Metern über dem Meeresspiegel. Dieses kaukasische Gebiet hat ein besonders mildes Klima: Der Sommer ist warm, ohne erstickend heiß zu werden; der Herbst ist in der Regel sonnig, still und klar; der Winter ist mild, schneereich und außerordentlich sonnig; im März läuft man Ski im Badeanzug. Die Durchschnittstemperatur beträgt hier im Januar minus 5 Grad Celsius, im Juli plus 15 Grad, die durchschnittliche Jahrestemperatur plus 6,3 Grad, sie liegt um 3,5 Grad höher als im berühmten Schweizer Kurort Davos. Über einhundertfünfzig Tage im Jahr scheint die Sonne, auch da kann Davos nicht ganz mithalten.

Wir werden aus einem Haus aus viel Holz und wenig Stein untergebracht. Bis zum Tag zuvor haben sich hier sowjetische Kosmonauten mit ihren Familien erholt. Innen sind alle Räume holzgetäfelt, die umlaufende Terrasse hat ein wunderschön geschnitztes Holzgitter.

Aber was ist all das gegen den märchenhaften Anblick auf die Berge ringsum... Zwei Hotels - `Dombai´ und `Gornye werschiny´ mit Konzertraum, Filmsaal und Schwimmhalle - stören nicht den malerischen Anblick. Was für den Architekten spricht.

Dombai ist ist eine Siedlung städtischen Typs im Großen Kaukasus, die zusammen mit der zwanzig Kilometer nördlicher gelegenen Kleinstadt Teberda sowie zwei weiteren Ortschaften administrativ der Stadt Karatschajewsk im Zentrum der Republik Karatschai-Tscherkessk unterstellt ist. Dombai wurde Anfang der 1920er-Jahre mit der Gründung einer der ersten Herbergen in der Hochgebirgsregion des russischen Nordkaukasus angelegt und entwickelte sich zu Sowjetzeiten zu einem landesweit beliebten Höhenkurort, der 1965 den Status einer Siedlung städtischen Typs erhielt. - Die neueste Seilbahnstrecke, eine gut 1 600 Meter lange Gondelbahn, wurde Ende 2007 in Betrieb genommen und hat ihre höchste Bergstation in 3 200 Metern Höhe.

 

Das Dombaital ist wahrlich eine Urlaubsreise wert. Hier kommen Spaziergänger, wanderfreudige Touristen und klettermutige Alpinisten gleichermaßen auf ihre Kosten. Wir haben anderntags die Qual der Wahl. Wohin?

Zu den Dombai-Tschutschchur-Wasserfällen? Diese Wanderung dauert etwa fünf bis sechs Stunden. Da fährt man zuerst mit dem Sessellift, dann wandert man durch einen dichten Wald und über Almenwiesen zum Wasserfall; die Entfernung beträgt hin und zurück zwölf Kilometer.

Oder zum Dombai-Alibek-Gletscher? Diese Fußwanderung dauert etwa acht Stunden, die Entfernung beträgt hin und zurück zweiundzwanzig Kilometer. Der Weg führt durch Nadelwald bis zum Touristenlager `Alibek´. Danach wandert man einen mit Sträuchern gesäumten schmalen Pfad über Almenwiesen zum Alibek-Gletscher, dem größten und zugänglichsten Gletscher des Dombaigebietes. Er ist vom Grün der Wälder und Wiesen umgeben, die höher als der Gletscher gelegen sind. Malerisch ist auch der Alibek-Wasserfall.

Oder zum Dombai-Mussas-Atschitara? Dauer der Fußwanderung fünf bis sechs Stunden. Aus Dombai fährt man mit dem Sessellift bis in 2 500 Meter Höhe. Und nach nur zwei Kilometern Fußwanderung erreicht man den Berg Mussa-Atschitara. Dieser Gipfel ist   d e r   Ort für einen Rundblick auf die tiefen Flusstäler und den Großen Kaukasus

Oder zum Dombai-Kluchor-Pass? Da muss man erst einmal 25 Kilometer mit dem Bus bis zur `Nordherberge´ fahren. Die Straße führt durch eine enge Schlucht entlang des reißenden Bergflusses Gonatschchir, der mitunter sogar unter den steilen, von ihm ausgewaschenen Felsabhängen verschwindet. Der Weg führt vorbei an Denkmälern und Obelisken, die zu Ehren der hier während der Schlacht um den Kaukasus 1942 bis 1943 gefallenen sowjetischen Soldaten aufgestellt wurden. An der `Nordherberge´ beginnt die Fußwanderung auf dem steilen Pfad über Almenwiesen bis zum Kluchorsee, der sich in einem tiefen Felsloch gebildet hat. Am Südhang liegt ein Gletscher, dessen Bäche über die Felsvorsprünge in den See hineinfließen. Vom See führt der Weg weiter bis zu dem in 2 782 Meter Höhe gelegenen Kluchorpass.

Ja, unsere Köchin Antonina Popitjewa kann nicht nur mit Käse gefüllte Fladen backen, sie kennt auch ihr über alles geliebtes Dombaital...

Als sie hört, dass wir nur wenige Stunden `Urlaub´ machen können, rät sie uns, mit dem Sessellift 2 500 Meter hoch zu fahren (umsteigen in 1 800 Meter Höhe) und dort den herrlichen Blick über den westlichen Kaukasus zu genießen. Mit uns tun das hier auch einige Touristen - sie allerdings in Bikini oder Badehose. Übrigens ist eine dritte Sessellift-Linie im Bau, für Bergskiläufer, sie führt 3 000 Meter hoch. Im Bau ist auch ein weiteres Hotel, mit 18 Stockwerken für 630 Gäste. Hoffentlich gelingt es auch in Zukunft, das Dombaital so schön ruhig zu erhalten, wie es heute ist."   

Vom Kaspischen bis zum Schwarzen Meer erstreckt sich der über  1800 Kilometer lange Kaukasus, dessen Kamm die Grenze zwischen Europa und Asien bildet. Das Dombai-Tal überrascht mit einer üppigen, fast subtropisch anmutenden Vegetation und sattgrünen Wäldern, die bis unmittelbar an die Gletscherränder heranreichen. Nirgendwo sonst in Europa sind solche Gegensätze so eng beieinander! Tageswanderungen führen entlang tosender Flüsse, durch ein Meer an Blumenwiesen bis hinauf zu glasklaren Bergseen mit Blick auf die vereisten Gipfelketten. Im benachbarten   Baksan-Tal wandert man im Schatten des 5 642 Meter hohen Vulkans Elbrus. Krönung einer Tour im Baksan-Tal ist die Fahrt mit dem Kabinenlift hinauf zum Rand des Elbrus-Gletschers auf 3 500 Meter, wo bei gutem Wetter das blendende Weiß der Elbrus-Kuppeln und der tiefblaue Himmel einen einzigartigen Kontrast bilden.

 

 Mit `Gottesgabe´, abgeleitet von dem tatarischen Wort `terberdy´, übersetzen die einen den Namen des Kurorts Teberda, die anderen meinen, es heiße `Hügelland´. Wie auch immer - Teberda ist hügelig-schön, mit den hohen Berggipfeln ringsum - den dicht bewaldeten Hängen des Kel-Baschin und dem kleinen Chatipara. Bei der Einfahrt in den Ort zeichnen sich vor unseren nun schon an malerisch-karatschaiisch-tscherkessischer Schönheit gewöhnten Augen die wunderschönen Umrisse des Schaitan-Baschin ab, des Teufelsberges. Die Landschaft um Teberda ist ein bekanntes Zentrum des alpinen Sports, die Stadt selbst ein hervorragender Höhenluftkurort, und im Teberdaer Gebiet befindet sich das staatliche Naturschutzgebiet mit dem weithin bekannten Naturmuseum.

Im da noch namenlosen Teberda wurde 1882 für die an Tuberkulose leidende Gattin der Gouverneurs von Batalpaschinsk (heute Tscherkessk) die erste Datsche errichtet: in einem Kiefernwäldchen, auf der einen Seite rauschten die Wasser des Flusses Teberda, auf der anderen kräuselten sich die Wellen des Sees Kara-kjol. Die Ärzte hatten der Kranken nur noch einige Monate zugemessen, sie erfreute sich aber hier noch mehr als zwanzig Jahre ihres Lebens. Von da an war der Ruhm des nun schon Teberda geheißenen Ortes als Höhenluftkurort besiegelt. Vor der Revolution von 1917 wurden hier dann noch siebenundvierzig Grundstücke errichtet, von Leuten, die sich harte Pachtbedingungen leisten konnten.

Ein Jahrzehnt nach der Revolution war Maxim Gorki derjenige, der auf die gesundheitlichen Vorzüge Teberdas aufmerksam machte und vorschlug, hier ein Erholungsheim für Wissenschaftler einzurichten. Danach wurden Erholungsheime auch für Arbeiter erbaut, vorrangig für Kraftfahrer und Werktätige der Zementindustrie.

Während des zweiten Weltkrieges wurden von der Krim evakuierte Sanatorien mit all ihren Kindern und Tuberkulosekranken nach Teberda evakuiert. Als die Faschisten Teberda vorübergehend besetzt hatten, sonderten sie die Kranken und das Personal jüdischer Herkunft sofort aus und erschossen es. Außerdem wurden mehr als einhundertsiebzig tuberkulosekranke Kinder, ungeachtet ihrer Nationalität, in von den Deutschen eilig errichteten Gaskammern am Oberlauf des Gonatschir ermordet. Die Dokumente über diese Gräueltaten wurden 1945 von dem Assistenten des sowjetischen Hauptanklägers beim Nürnberger Prozess, L. N. Smirnow, und dem russischen Schriftsteller Alexej Tolstoi sichergestellt. Von vielen unvorstellbaren Schandtaten der Faschisten kann man in Karatschajo-Tscherkessien hören. So hatte eine russische Ärztin - nur ihr Vorname Rivetta ist überliefert - versucht, kranke Kinder in Fuhrwerken zu evakuieren. Sie wurde von den Deutschen entdeckt, alle Kinder wurden erschossen, die Ärztin folterte man zu Tode.

Nach dem Krieg wurde Teberda dem Leben wiedergegeben. Heute gibt es hier sechs Tuberkulose-Sanatorien. Wir besuchen das Sanatorium `Alibek´ und sprechen mit dem Leiter der Kurortverwaltung Ademjan Gorik. `Unsere Einrichtungen sind mit moderner Heil- und Diagnosetechnik ausgerüstet. Aber neben Medikamenten spielen die Naturfaktoren eine große Rolle. Solche heilenden Naturfaktoren sind, um nur einige zu nennen: die intensive Luftzirkulation, weil von den Gletschern ständig kalte Luftmassen ins Tal wehen, der verminderte Luftdruck, eine niedrige Luftfeuchtigkeit, der Föhn, eine erhöhte Ultraviolett-Einstrahlung, ein hoher Ionisationsgrad der Luft, die außerordentlich saubere Gebirgsluft, selten vorkommende Nebelbildung. All diese Faktoren stellen einen natürlichen Inhalationsapparat dar; unsere Genesungserfolge liegen bei neunzig Prozent.´

Als wir das Sanatorium verlassen, wird gerade an jeden Patienten das fünfte Airan-Glas des Tages ausgeschenkt...

Die höchste Erhebung des Kaukasus auf karatschaiisch-tscherkessischem Gebiet ist der Dombai-Ulgen, was übersetzt `getöteter Wisent´ heißt. Wer nicht nur Wisente, sondern auch Bären, Kaukasische Steinböcke, Bergziegen, Gämsen, Luchse, Greifvögel... zu Gesicht bekommen will, muss das Naturkundemuseum Teberda besuchen, wo sich die Tiere hinter Gittern zeigen. Vom 83 400 Hektar großen Staatlichen Naturschutzpark kann er sich lediglich vom Direktor Dshapar Salpagarow berichten lassen, dass es sich hier zum Beispiel 137 Arten von Wirbeltieren und 150 Vogelarten wohl gehen lassen, zu sehen bekommen wir sie während der kurzen Zeit unseres Aufenthaltes nicht. Auch nur wenige der im Reservat wachsenden 1 175 Blütenpflanzen - wovon 186 Arten nur im Kaukasus vorkommen - können wir mit eigenen Augen bewundern. Wir müssen uns vom Direktor von den fleischfarbenen Orchideen, den weißen Anemonen, dem blauen Enzian... vorschwärmen lassen; denn für uns heißt es - es wird schon dunkel - nach Tscherkessk zurückzuschwärmen..."

Teberda entstand 1868 als karatschaiische Siedlung. Zu Beginn 20. Jahrhunderts wurden von reichen Russen die ersten privaten Landhäuser gebaut, deren erstes 1925 in ein Tuberkulosezentrum umgewandelt wurde. In den Folgejahren entstanden immer mehr Sanatorien, das Dorf wurde nach und nach zum berühmten Kurort, der 1929 unter dem heutigen Namen Teberda, benannt nach dem  Fluss Teberda, den Status einer Siedlung städtischen Typs erhielt. Diese Entwicklung setzte sich nach dem zweiten Weltkrieg fort, womit Teberda zum wichtigsten touristischen Zentrum der Sowjetunion im Zentralteil des Kaukasus wurde. Südlich der Stadt erstreckt sich das etwa 85 000 Hektar große Biosphärenreservat, das seit 1994 Träger des Europäischen Diploms für geschützte Gebiete ist.  - In Teberda gibt es ein Museum zur Geschichte der Ortes und des Tourismus und Bergsports in diesem Gebiet, sowie ein Mineralogisches Museum.

 

Bei Großmutter Ssapra (LESEPROBE aus: FREIE WELT Nr. 8/1987)

 

"Goßmutter Ssapra - wie sie in ihrem Dorf Utschkeken alle nennen - hat zwei ihrer Nachbarinnen zum Handarbeitsstündchen eingeladen. Obwohl wir ungeladen sind, müssen wir uns erst einmal kräftig an allem laben, was die Küche hergibt, wenigstens von allem ein `Syjly ßjujekle´, ein `Ehrenbissen´, darf nicht abgeschlagen werden. Was es in Utschkeken aber auch für einen vorzüglichen Honig gibt! Bald schon verwandeln wir das geplante Spinn- und Strickstündchen in ein Plauderstündchen über alt-karatschaiische Bräuche. So erfahre ich, dass früher - früher, das ist immer vor der Revolution und oft auch noch Jahrzehnte danach - die Braut, der Bräutigam, die Eltern und die Verwandten der Braut, erstaunlich, aber wahr, nicht an der Hochzeit teilnehmen, das war ungeschriebenes Bescheidenheitsgesetz. Und: So war es bei den Karatschaiern Sitte, dass nach dem Tod des Vaters der jüngste Sohn - wenn er sich durch besondere Fähigkeiten auszeichnete - die Leitung der Wirtschaft übernehmen durfte. Und: So gab es bei den Karatschaiern - meint Großmutter Ssapra - keine Willkür in der Familie, denn der Familienrat, der `jujjur onou´, dem alle männlichen Familienmitglieder und das Haupt der weiblichen Hälfte des Hauses, die `jujjur bijtsche´, angehörten, konnte Entscheidungen rückgängig machen. Und: So wurde die alte, hinfällige Mutter - wenn der Vater schon tot war - stets vom jüngsten Sohn aufgenommen. Und: So durfte die Ehefrau ihr ganzes Leben lang kein einziges Wort mit den Eltern ihres Mannes sprechen. Und: So gab es den Brauch, der Braut zuerst eine `Wollkämmerin´, also ein Mädchen, und erst dann einen `Hirten´, also einen Knaben zu wünschen. War allerdings auch das zweite Kind ein Mädchen, bekam es den Namen `Boldu´, was übersetzt etwa `Es ist genug´ heißt.

 

           

 

Großmutter Ssapra verwandelt Schafwolle innerhalb von sechs Stunden in einen Schnitterhut.

Fotos: Detlev Steinberg

 

Im Institut für Ethnographie, Sprache, Literatur und Geschichte hatte uns der karatschaiische Wissenschaftler Dr. Ibragim Schamanow erzählt, dass viele Sitten und Bräuche nur mit Gesetzeskraft abgeschafft werden konnten. Zuwiderhandlungen ahndete das Gesetz ab 1928 mit empfindlichen Strafen: zum Beispiel Brautraub und zwangsweise Eheschließung mit Minderjährigen mit bis zu drei Jahren Gefängnis; Eheschließung mit Personen, die die Geschlechtsreife noch nicht erreicht hatten, mit bis zu acht Jahren Gefängnis; Zahlung und Annahme von Brautgeld mit einem Jahr Freiheitsentzug und Geldstrafe oder Zwangsarbeit. Vielweiberei - die Karatschaier sind sunnitische Muslime - brachte Zwangsarbeit bis zu einem Jahr ein. `Am wichtigsten aber war´, so Dr. Schamanow, `die Aufklärung der Bevölkerung, vor allem der Frauen. Zu ihrer ersten Gebietskonferenz 1921 kamen noch alle Frauen in Begleitung ihrer Männer und Brüder, 1928, zur Konferenz der Gebirglerinnen des Nordkaukasus, fuhren sowohl die Karatschaierinnen als auch die Tscherkessinnen bereits allein. Das Brautgeld zum Beispiel macht uns - in veränderte Form - heute noch zu schaffen. So ist noch immer ein Geschenkaustausch zwischen den Eltern üblich, und es ist auch noch Brauch, dass die Eltern des Bräutigams dreihundert bis tausend Rubel an die Eltern der Braut zahlen. Die Zeremonie des Brautgeldes ist - wenn auch in veränderter Form - sehr zählebig.´

`Großmutter Ssapra´, frage ich, `wie viel Brautgeld hat man  für Sie gezahlt?´ - `Ich war ein teures Mädchen: Ich kostete eine Kuh, ein Kälbchen und vier Hammel.´"

 

 

Tscherkessinnen werden Mütter von Leningrader Waisenkindern (LESEPROBE aus: FREIE WELT Nr. 8/1987)

 

"Die Leningrader Blockade - sie traf 2,8 Millionen Menschen, alles Zivilisten. Eine von ihnen war Jekaterina. 1941 - als die Faschisten am 8. September mit ihrem Durchbruch nach Schlüsselburg, heute Petrokrepost, Leningrad vom Festland abschnitten - war sie elf Jahre alt. Ihr Vater war an der Front, die Mutter arbeitete in der Leningrader Rüstungsindustrie.

Heute ist Jekaterina Gukowa 57 Jahre alt, mit einem Tscherkessen verheiratet, sie haben sechs Kinder. Ihr Schicksal ist eines von vielen Leningrader Kindern, von Kindern, die durch die Evakuierung aus Leningrad gerettet werden konnten. Jekaterinas Vater war da schon, 1942, an der Front gefallen, die Mutter in Leningrad verhungert. `Hunger und Kälte und überall Tote´, das ist Jekaterina Gukowas Erinnerung an die entsetzlichen Blockadetage. Über dreihundert von 872 Tagen hat sie miterlebt. `Ich weiß nicht, wie viel Brot wir damals bekamen, aber es war nur ein winzig kleiner Kanten.´

Wir wissen: Die Ration für einen Arbeiter betrug knapp dreihundert Gramm Brot am Tag, alle anderen Einwohner erhielten nicht einmal einhundertfünfzig Gramm. Hunger und Kälte rafften 641 803 Menschen dahin, viele starben vor Erschöpfung auf der Straße. Auch Jekaterinas Mutter auf ihrem zehn Kilometer langen Fußweg von der Arbeit nach Hause.

 

 

Leningrader suchen auf der Sadowaja-Straße im grimmigen Kriegswinter 1942/43 nach Wasser.

Foto aus: Rellers Völkerschafts-Archiv

 

Am 21. Dezember 1941 endlich war der Ladogasee zugefroren. Diese `Straße des Lebens´ ermöglichte es, Lebensmittel in die Stadt zu bringen und Menschen aus der Stadt zu evakuieren. 1,2 Millionen Einwohner wurden über die `Straße des Lebens´ - unter Artilleriebeschuss und Bombenhagel - aus der Stadt gebracht, darunter 414 146 Kinder, vor allem die Waisen. Jekaterina weiß nicht, was aus ihrer Schwester geworden ist, auch von ihrem Bruder hat sie nie mehr etwas gehört. `Mich jedenfalls las man auf der Straße auf, ohnmächtig, nahe dem Hungertode.´ Achtundneunzig Waisenheime gab es damals in Leningrad, Jekaterina hatte den Weg in ihr Heim an jenem Tag nicht mehr geschafft. `Als ich zu mir kam, befand ich mich auf einem Lastkraftwagen, der über Eis fuhr. Wir waren etwa fünfzig Kinder, darunter viele kleine. Ich wollte mich um sie kümmern, aber ich hatte keine Kraft. Ich weiß nur noch, dass wir später auf Pferdefuhrwerke umgeladen wurden und viele Tage unterwegs waren. Wohin wir fuhren, wusste ich nicht.´

Die Kinder Leningrads wurden größtenteils in das Gebiet Jaroslawl, in die mittelasiatischen Republiken, in den Ural und nach Sibirien gebracht. Bis auf den heutigen Tag erinnert sich Jekaterina Gukowa an den Augenblick wo sie, schon im Kaukasus, eine Rast einlegten. `Ich habe später erfahren, dass es am Ufer des Bolschoi Selentschuk war. Einige Frauen, die hier in der Nähe auf dem Feld arbeiteten, kamen angelaufen, betrachteten uns und weinten. Sie wussten ja, was in Leningrad Schreckliches vor sich ging. Eine der Frauen kam auf mich zu, nahm mich an die Hand. Obwohl sie etwas zu mir in einer Sprache sagte, die ich nicht verstand, war ich gleich bereit, mit ihr zu gehen. Sie hatte so gute Augen, ganz große, ganz schwarze. Ich habe es niemals bereuen müssen, dass ich mich damals so vertrauensvoll von Fatima Achdurachmanowa an die Hand nehmen ließ.´ Der Mann der Tscherkessin Fatima war damals an der Front, sie hatte einen zweijährigen Sohn. `Fatima Achdurachmanowa war eine arme Bäuerin, sie besaß nicht einmal eine Kuh. Trotzdem habe ich von da an niemals mehr Hunger leiden müssen, sie bekam ihren zwei Jahre alten Sohn und mich immer satt.´

Zu einem Vater kam Jekaterina Gukowa auf diese Weise nicht, Fatimas Mann starb an der Front. Auch ihr neues Brüderchen war Jekaterina nicht lange vergönnt, es starb, drei Jahre alt, an Tuberkulose.

Aber Fatima Abdurachmanowa hatte nun eine Tochter, bekam einen Schwiegersohn und sechs Enkelkinder, `die sehr an ihr hängen. Mutter Fatima´, sagt Jekaterina, `ist jetzt fünfundachtzig Jahre alt und sehr krank, ich gehe täglich zu ihr.´

Jekaterina Gukowa war zwanzig Jahre alt, als sie einen tscherkessischen Schafhirten heiratete, sie selbst ist Kolchosbäuerin. Zwei Töchter der Gurkows sind Verkäuferinnen, eine ist Konditorin; zwei Söhne sind Kraftfahrer, und Murat geht in die 8. Klasse. Hat sie Leningrad inzwischen mal besucht? `Ja, einmal. Aber meine Heimat ist hier.´ - Jekaterina Gukowa war damals nicht die einzige, die von mitleidigen Tscherkessinnen adoptiert wurde. Fünf weitere russische Mädchen und drei russische Jungen fanden in Karatschai-Tscherkessien eine neue Heimat.´"

 

 

Von schwarzen und weißen Schafen (LESEPROBE aus: FREIE WELT Nr. 8/1987)

 

"Karatschajo-Tscherkessiens landwirtschaftliche Nutzfläche ist etwa zur Hälfte Weidefläche. Überall trifft man hier Rinder, geradezu auf Schritt und Tritt Schafe. Auf schwarze und weiße. Die schwarzen Schafe sind sozusagen die Alteingesessenen. Aus ihrer schwarzen Wolle werden seit alters Filzstiefel und Burkas, die gewaltigen gewalkten Filzumhänge hergestellt, unter denen sich die Hirten bei Wind und Wetter warm und geborgen fühlen können. Aber ein schwarzes Schaf zu sein, tut auf Dauer nirgendwo gut, auch nicht in Karatschajo-Tscherkessien. Und so mühten sich die Wissenschaftler, allen voran Professor Dr. Semjonow vom Allunions-Forschungsinstitut für Schaf- und Ziegenzucht, und die Schafhirten, allen voran Chyissa Ishajew, seit Jahrzehnten aus schwarz weiß zu machen. Vor drei Jahren endlich bestand die neue Rasse die staatliche Prüfung und erhielt auch gleich den wohlklingenden Namen `Berg-Korridel´. Streichelt man ein solches Schaf, hat man das Gefühl, in ein molliges Mohair-Wollknäuel zu greifen. Da wir aber nicht nur zugreifen, sondern auch begreifen wollten, was hier züchterisch vor sich gegangen ist, machen wir 2 800 Meter hoch in den Bergen den in ganz Karatschajo-Tscherkessien namhaften Oberhirten Ishajew vom Kolchos `Oktjabr´ ausfindig.

Chyissa Ishajew war schon Hirt, als in ganz Karatschajo-Tscherkessien nur grobwollige Schafe der Karatschai-Rasse gezüchtet wurden, weil man glaubte, nur sie könnten sich den harten Bedingungen einer Viehhaltung auf Hochgebirgsweiden anpassen. Eine Verordnung des Rates der Volkskommissare verordnete dann am 7. März 1936 ein Umdenken: Feinwollige Schafe sollten - bei gleichbleibendem Klima - gezüchtet werden. Zwar waren Karatschajo-Tscherkessiens Schafe schon 1960 zu 73 Prozent feinwollig, brachten aber eine zu niedrige Fleisch- und Wollproduktivität und waren gegenüber den harten klimatischen Bedingungen zu wehleidig. Chyissa Ishajew erklärt uns nun geradezu mit Schafsgeduld, was man alles für Liebesbeziehungen zwischen den Mutterschafen der Karatschai-Rasse und wer weiß was für nordkaukasischen und Lincoln-Böcken ausprobieren musste, bis als Frucht dieser Schafsliebe das Berg-Korridel geboren war. Mit der Liebe von Schaf zu Schaf ist es übrigens seit 1980 vorbei, nachdem fast der gesamte Zibbenbestand künstlich besamt wird. Ich bitte Chyissa Ishajew, uns die Vorzüge eines Berg-Korridels zu beschreiben, damit wir es auch mit den richtigen Augen betrachten können. `Unsere Berg-Korridel verfügen über eine kräftige Konstitution´, antwortet er, `ein gutes Erscheinungsbild, ein hohes Lebendgewicht, sind frühreif und erreichen eine hohe Wollproduktivität. Ihre Wolle wird bis zu achtzehn Zentimeter lang, ist kräftig, seidig und verfügt über einen Lüsterglanz und eine angenehm grobe Kräuselung. Das Vlies ist von weißer Farbe, hat eine Stapel-Zopf-Struktur, eine mittlere Dichte und eine gleichmäßige Faserlänge.´ In den besten Rasseherden - natürlich ist Chyissa Ishajews eine davon - beträgt der Schurertrag an gewaschener Wolle fast vier Kilogramm, und die Fruchtbarkeit der Zibben etwa 150 Lämmer pro 100 Mutterschafe. Inzwischen verkauft Karatschajo-Tscherkessien bereits Rasse-Bocklämmer nach Armenien, Aserbaidschan, Tschetscheno-Inguschien, Kasachstan, Gorno-Altai, in die Ukraine.

`Gibt es auch noch Probleme?´ frage ich. `Ja´, antwortet Chyissa Ishajew, `nach wie vor mit der Futterversorgung. Es müssen unbedingt mehr bewässerte Böden für die Futtergewinnung genutzt und der Anbau von Futterkulturen auf berieselten Flächen erhöht werden. In unserem Kolchos ist der Ertrag nach der Schaffung eines Berieselungssystems bei mehrjährigen Gräsern und Silokulturen von 0,5 Tonnen pro Hektar auf 12,8 Tonnen pro Hektar gestiegen. Wichtig ist, den Bedingungen des Gebietes entsprechend, Möglichkeiten zur Ertragssteigerung zu finden. Für unsere Region hat sich der Bewässerungsackerbau als richtig erwiesen.´

Da man in Karatschajo-Tscherkessien aber auch heute noch auf Herden schwarzer Schafe trifft, interessiert mich, warum sie noch geduldet werden. `Nach wie vor´, sagt Chyissa Ishajew, ´wird ihre Wolle zu Filz verarbeitet und ihr Fleisch ist schmackhafter, was sich auch im Preis ausdrückt. Das Fleisch vom weißen Schaf kostet 2 Rubel 5 Kopeken das Kilogramm Lebendgewicht, das Fleisch vom schwarzen 3 Rubel 8 Kopeken.

Bliebe zu sagen, dass auch ein schwarzes Schaf sein Gutes haben kann."

 

 

Von zählebigen alten Bräuchen (LESEPROBE aus: FREIE WELT Nr. 8/1987)

 

"Bis in unsere Tage bevorzugen die Karatschaier das Leben in den Bergen, die Tscherkessen halten es mehr mit der Ebene und der Vorgebirgszone. Sie sind, wie Juri Gegyguschw, Erster Sekretär des Rayonparteikomitees von Chabesk es formuliert, ´der Erde näher´. Achtzigtausend Hektar Land werden im Chabesker Rayon bestellt, vor allem mit Getreide, Sonnenblumen, Kartoffeln, Gemüse, auch mit Obst und mit Zuckerrüben. Überhaupt begegnet man den süßen Rüben überall im Land; denn in Adyn Chalk befindet sich die größte Zuckerfabrik des Nordkaukasus.´ Gegenwärtig werden sechstausend Tonnen der unansehnlichen Süßen hier täglich verarbeitet - um die modernen Anlagen voll auszunutzen im Vier-Schicht-Betrieb rund um die Uhr. Eine der dreihundertzwanzig Zuckerarbeiter, Swetlana Kaja, dazu: `Schichtarbeit war besonders für uns Frauen eine große Umstellung. Schließlich warten daheim noch Haus und Hof auf uns, die Kinder, eigenes Vieh. Schichtarbeit ist nur zu bewältigen, wenn man vielen alten Sitten und Bräuchen den Rücken kehrt, wenn auch der Mann im Haus mit anpackt.´

Nun sind wir in Chabesk zu Gast in der tscherkessischen Familie Bobow. Ali Bobow hatten wir schon im Kulturhaus kennengelernt, wo er zusammen mit anderen Kollegen für ausgezeichnete Arbeit ausgezeichnet wurde. Er ist, seit 1953 übrigens, Kraftfahrer. Maßstab für die Einschätzung der Arbeit ist die Transportleistung in einem bestimmten Zeitraum und die Wagenpflege. Auch in Chabesk ist es neuer schöner Brauch - wir haben darüber schon bei den Abasinern berichtet -, zur Urkunde und klingenden Münze Gesang und Tanz dazuzugeben; man hatte extra das Tanzensemble `Elbrus´ verpflichtet. Die Familie Bobow hat vier erwachsene Kinder - ein Sohn ist Chefagronom, einer Bauarbeiter, eine Tochter ist Köchin, eine Kassiererin - und neun Enkelkinder. Alle Ehepartner sind tscherkessischer Nationalität. Ali Bobow dazu: ´Wir hätten auch Schwiegersöhne und Schwiegertöchter anderer Nationalität akzeptiert.´

Lussa Bobowa ist Kolchosbäuerin, ihre Liebe - auf dem Feld - gehört den Zuckerrüben. Die erste Zuckerfabrik der Welt entstand übrigens 1801 im damaligen Kunern (Schlesien), angefeindet vor allem von den Rohrzuckerkonkurrenten. Davon weiß Lussa Bobowa nichts - für sie ist Zucker längst kein Genussmittel mehr, sondern ein Nahrungsmittel.

Auf dem für uns reich gedeckten Tisch nur notwendiges Zubehör. Wie steht es denn bei dem Bobows mit der Haushalthilfe des Mannes? Lussa Bobowa: ´Das ist etwas, wo bei uns noch alles beim alten geblieben ist, da mache ich alles allein. Aber bei meinen Töchtern Sarema und Najuna, da müssen die Männer tüchtig ran. Meine Schwiegersöhne kennen sich perfekt aus, auch in Küche und Kinderzimmer.´ Auch die Söhne? `Auch die Söhne, obwohl sie das bei uns zu Hause nicht kennengelernt haben.´

Bei den Eltern Bobow ist es bis auf den heutigen Tag im Jahre 1985 zum Beispiel so, dass weder die Enkelkinder mit am Tisch essen dürfen, noch die Töchter und Schwiegertöchter, deren eine Verkäuferin, die andere - ein Lehrerin ist..."

 

 

Seit 1908 gab es Airan in Moskau (LESEPROBE aus: FREIE WELT Nr. 8/1987)

 

"Zwanzig Jahre alt war die tatkräftige Russin Irina Sacharowa, als sie sich auf den Weg machte, um den Karatschaiern und Tscherkessen das Geheimnis der Airanherstellung zu entlocken. Sie hatte 1906 eine Molkereifachschule absolviert und wurde 1907 von der Gesamtrussischen Ärztegesellschaft zu dieser Aktion auserwählt. Aber keiner der sonst so überaus freundlich und aufgeschlossenen Bewohner Karatschajo-Tscherkessiens war bereit, das Rezept des Nationalgetränks außer Landes zu geben. Irina Sacharowa musste unverrichteterdinge abreisen. Unterwegs wurde sie von fünf schwarz maskierten Berittenen eingeholt und gewaltsam entführt. Auftraggeber dieser `Entführung der Braut´ war der tscherkessische Fürst Bek Mirsa Baitscharow, der sich in die schöne Russin verliebt hatte. Natürlich kam es zu einer Gerichtsverhandlung. Irina verzieh dem Angeklagten und bat als Gegenleistung um, na worum schon?, um das Rezept zur Airanherstellung. Ab 1908 wurde das karatschaiisch-tscherkessische Nationalgetränk des Frohsinns, der Gesundheit und eines langen Lebens überall in Moskau zum Verkauf angeboten.

Heute scheint es in Moskau wieder in Vergessenheit geraten zu sein. Ober verbirgt es sich - sollte sich mein Gaumen nicht täuschen - etwas abgewandelt hinter einer der Kefirsorten?"

 

 

Als Journalistin der Illustrierten FREIE WELT  habe ich auf allen meinen Reportagereisen in die Sowjetunion jahrzehntelang nicht nur Sprichwörter der dort ansässigen Völker gesammelt, sondern auch Märchen, Lyrik, Rätsel... – von den Völkern selbst, von einschlägigen Wissenschaftlern und Ethnographen, aus Büchern ... - bei einem vierwöchigen Aufenthalt in Moskau saß ich Tag für Tag in der Leninbibliothek.

 

 

Das tscherkessische Märchen Der Bär als Amme

 

*

Vor grauen Zeiten lebte ein Alter mit seiner Alten. Im ganzen Aul* fand man keinen, der ärmer war als sie. Niemals hatten sie warme Kleidung zum Anziehen, zu keiner Stunde konnten sie sich satt essen. Doch das war es nicht, worüber die beiden klagten. Dass sie kein Kind bekamen, dass kein ausgelassenes, sorgenfreies Kinderlachen unter ihrem Dach erschallte, das war es, was ihnen Kummer bereitete... Eines Tages jedoch wurde ihren Herzen wärmer, die Frau hatte einem Jungen das Leben geschenkt. Gesund war er. Schön war er und fröhlich. Und wie ein Sonnenstrahl, so erhellte er seinen Eltern den Lebensabend. Einen Sohn hatten sie nun, wie aber sollten sie ihn kleiden, was ihm zu essen geben? "Hüllen wir ihn in Lumpen, werden die Leute uns und den Kleinen verspotten", sprach der Alte zu seiner Frau. "Lass uns zu Dritt in den Wald ziehen, vielleicht finden wir dort das, was wir zum Leben brauchen."

Im tiefen, schlummernden Wald, dort, wo niemals zuvor eines Menschen Fuß gegangen war, bauten sie sich eine kleine Hütte. Einmal ging der Alte tiefer ins Dickicht hinein, um nach Beute zu suchen. Die Alte aber blieb mit dem Kleinen vor der Hütte in der Sonne sitzen, wiegte ihn in ihren Armen und sag ihm ein trauriges Lied vor. Dann legte sie das Bündel auf der Schwelle nieder, um im Haus für einen Moment nach dem Rechten zu sehen. In diesem Augenblick kam aus dem Gebüsch ein großer, alter Bär getappt, griff sich das winzige Menschenbündel und schleppte es mit sich ins Dunkel des Waldes. Ach, die Alte brachte sich fast um vor Entsetzen. Sie weinte und schrie - nichts half, ihr Kind blieb verschwunden. Gegen Abend kehrte ihr Mann nach Hause zurück. Dort aber herrschte unbeschreiblicher Kummer - dem ärgsten Feind würde man solches nicht wünschen. Zu zweit trugen sie ihren Gram, zu zweit beschlossen sie: "Niemals werden wir von hier fortgehen. Hier, wo wir unser einziges Kind verloren haben, hier soll uns auch der Tod zu sich nehmen."

Der Bär hatte in der Zwischenzeit das Menschenbaby in seine Höhle geschleppt und fing an, sich zu sorgen, als wäre es ein Bärenjunges. Er fütterte den Kleinen mit Waldnüssen, mit Beeren und mit Honig. Zum Schlafen kuschelte er sich ihn an seine weiche, wollige, warme, breite Bärenbrust.

Als der Junge herangewachsen war, brachte der Bär ihn auf eine Lichtung, wählte dort eine junge, kräftige Eiche aus und befahl: "Na los, versuch´s mal, zieh sie mit samt ihren Wurzen heraus!" Mit beiden Armen umfing der Junge den Stamm. Einmal und noch einmal versuchte er´s. Die Eiche beugte sich, herausziehen jedoch konnte er sie nicht. "Offensichtlich ist´s noch zu früh damit", brummte der Bär. Wieder waren Jahre vergangen, und wieder brachte der Bär den Jungen auf die Waldlichtung, damit dieser die Eiche aus der Erde ziehe. Die Eiche aber war indessen ebenfalls gewachsen und noch kräftiger geworden. Und auch dieses Mal mühte er sich umsonst, die Eiche blieb im Boden. "Zu früh, Bruderherz, immer noch zu früh", brummte der Bär wieder. Eines schönen Tages nun war aus dem kleinen Jungen ein kräftiger, geschickter und ansehnlicher Jüngling geworden. Zum dritten Mal führte der Bär ihn auf die Lichtung. Hoch auf gerichtet stand da eine mächtige Eiche. Weit streckte sie ihre dicken Äste von sich. Doch auch der Menschensohn spürte große Kraft. Mit beiden Armen umschlang er den mächtigen Baumstamm, und als wäre es ein Grashalm zog er die mächtige Eiche mitsamt ihren Wurzeln aus der Erde. "Jetzt, mein Sohn, kann ich dir verraten, wer du bist! Vor vielen Jahren streifte ich einmal durch den Wald und erblickte plötzlich eine winzige, armselige Hütte. Auf ihrer Schwelle saß eine Frau mit einem Baby im Arm und sang ihm ein trauriges Wiegenlied. Sie klagte, dass sie nichts hätte, womit sie ihr Kleines füttern könne. Lange hörte ich zu, und mich erfüllte Mitleid mit der Mutter und dem Kind. Als nun die Frau für einen Moment das Kind aus den Augen ließ, ergriff ich es mitsamt dem Steckkissen und lief mit ihm fort. Das Kind, dieser kleine Junge von damals, bist du! Ich habe dich aufgezogen, habe dich unterrichtet und dich stark und mächtig werden lassen. Kehre nun zu Mutter und Vater zurück, sei ihnen Hilfe und Schutz. Geh und erlerne die Bräuche und Sitten der Menschen, doch denke immer daran: "Das Böse zieht stets Böses nach sich. Das Gute aber sät stets neue guten Taten!" Dank sagte der Jüngling dem Bären für dessen Fürsorge und Lehre und kehrte zu seinen Menscheneltern zurück. Zusammen machten sie sich auf den Weg in den heimatlichen Aul. Schön wurde ihr Leben. Kein Leid mehr fand Platz unter ihrem Dach, wohl aber jeder, der Hilfe brauchte und an ihre Pforte klopfte.

 

* Aul = kaukasisches Bergdorf

Deutsch von Gabriele Kleiner; gesammelt und redigiert von Gisela Reller

 

er

 

Illustration zu dem tscherkessischen Märchen "Der Bär als Amme".

Illustration von S. D. Soldatow aus: Rellers Völkerschafts-Archiv

 

"Die Tscherkessen sind viel zu unbändig, um sich der Pflicht und dem Brauch unterzuordnen."

 

Osmanbey, Sohn des Wesirs Magomed-Pascha (türkischer Offizier), 18. Jahrhundert

 

 

Rezensionen und Literaturhinweise (Auswahl) zu den TSCHERKESSEN:

 

 

Rezension in meiner Webseite www.reller-rezensionen.de

 

* KATEGORIE BELLETRISTIK: Steffi Chotiwari-Jünger, Die Literaturen der Völker Kaukasiens, Neue Übersetzungen und deutschsprachige Bibliographie, Reichert Verlag, Wiesbaden 2003.

"Sowohl in ihrer Einleitung als auch in ihrem Vorwort berichtet Frau Chotiwari-Jünger von den enormen Schwierigkeiten, um die neuen Texte aufzutreiben: `In vielen Fällen mußten in Kaukasien Vertreter der verschiedenen Ethnien oder Wissenschaftler gefunden werden, die selbstlos Texte und Übersetzungen `ihrer´ Literatur zur Verfügung stellten oder mit mir zusammen erarbeiteten, und das in einer Zeit, da die Menschen unter schwierigen materiellen Bedingungen leben. (...) Man könnte an dieser Stelle wohl fast zu jeder Übersetzung eine interessante und unwiederholbare Geschichte erzählen, wie das Werk entstand (Suche, Bekanntschaft, Ort, Auswahl, Übersetzung, Nachdichtung, Umstände, Sprache...). In einem Fall ging es sogar so weit, daß ein Grenzpolizist einer kaukasischen Republik, auf meine verschiedenen kaukasischen Visa starrend (nach dem 11. September 2001), mich seinen Kollegen gegenüber als mögliche `Agentin 007´ betitelte und für alle Fälle erst einmal alle Bücher und Materialien konfiszieren wollte.´

In: www.reller-rezensionen.de

 

Literaturhinweise (Auswahl)

 

 * Monika Buttler, Die Kaukasus-Kost der Hundertjährigen, Rezepte für ein langes Leben, Urania Verlag, Berlin 1999.

Die Bewohner des Kaukasus leben nicht nur lange, sondern erhalten sich auch bis ins hohe Alter ihre Lebensfreude und eine beneidenswerte Gesundheit. Die Ernährung spielt dabei eine entscheidende Rolle. Der ausführliche Rezeptteil des Büchleins kulminiert in einem Farbteil mit einem opulent fotografierten Freundschaftsessen und einem erotischen Menü für zwei Personen, das aus einem Mango-Kefir-Drink, Spargelsuppe, einem Selleriecocktail, Wolfsbarsch mit Safran-Sauche und Reis, Feigen in Granatapfel-Sauce und einem Kardamom-Kaffee besteht...

 

Roderich von Erckert, Der Kaukasus und seine Völker, Mit Textabbildungen, etc., Verlag von Paul Frohberg, Leipzig, 1887.

Aus der Einführung: "Ein zweijähriger Aufenthalt auf dem Kaukasus in höherer militärischer Stellung, gab durch dienstliche und private zu wissenschaftlichem Zweck unternommene ausgedehnte Reisen die Möglichkeit und Gelegenheit, Land und Leute in verschiedenen Gegenden und Gruppen zu erforschen und für vieles eine Anschauung zu gewinnen, was ausserhalb der gewöhnlichen Reiserouten liegt. Wenn die Schilderung freilich ein zusammenhängendes, umfassendes Ganzes bilden kann, so darf sie vielleicht den Anspruch erheben, einigen Werth darin zu besitzen, dass sie auf an Ort und Stelle gesammelten persönlichen Angaben und Eindrücken beruht, dass mit eigenen Augen geschaut, mit eigenem Ohr gehört wurde. (...) Anstrengung, Zeit und materielle Opfer, selbst Gefahr bei lokalen Schwierigkeiten wurden nicht gescheut, - in erster Linie aber anthropologische und ethnographische Forschungen angestellt, um möglichst alle noch wenige bekannte oder in vielem unbekannte Völker und Volksstämme auf dem Kamm des Gebirges und dessen Nordabhängen zu besuchen."

 

* Jörg Schöner/Alexander Kusnezow, Im Kaukasus, Der Einführungstext wurde von Hans-Joachim Thier aus dem Russischen übersetzt, Die Aufnahmen sind das Ergebnis vieler Wanderungen durch den Kaukasus, die der Fotograf gemeinsam mit Dr. A. Schulze unternahm, F. A. Brockhaus Verlag Leipzig 1981, 2. Auflage.

Aus der Vorbemerkung: "In diesem Bildband erzählen mein Freund Jörg Schöner und ich vom Kazkasus, richtiger gesagt, ich erzähle, und er zeigt den Kaukasus in seinen Fotos. Zunächst mache ich einige allgemeine Angaben über dieses Bergland, danach berichte ich über meine Reise durch einzelne Gebiete des Kaukasus - durch Dombai, das Elbrusgebiet, Dagestan und durch abgelegene Gegenden Georgiens - durch Swanetien und Chewsuretien. Auch Tbilissi, die Hauptstadt Georgiens, werden wir aufsuchen."

 

* Manfred Quiring, Der vergessene Völkermord, Sotschi und die Tragödie der Tscherkessen, Mit einem Vorwort von Cem Özdemir, Ch. Links Verlag, Berlin 2013.

Aus dem Vorwort: "Die Tscherkessen, die sich selbst `adyge´ nennen, wollen auch in Deutschland nicht nur durch ihre beeindruckenden Folkloretänze wahrgenommen werden, sondern auch als eine bedrohte, alte Kultur, die nur überleben kann, wenn sie unterstützt wird und die Verbindung zur Urheimat im Kaukasus nicht abreißt. - damit dies auch für die Zukunft gelingt, müssen Tscherkessen sich gemeinsam mit andern für den Erhalt der einzigartigen Natur des Kaukasus einsetzen, gerade im Vorfeld und während der Olympischen Spiele 2014 in Russland. Wer einmal, wo wie ich mit meinem Vater vor einigen Jahren, die Berge des Kaukasus erlebt hat und durch unberührte Wälder wandern durfte, wird verstehen, warum die Tscherkessen Angst davor haben, dass Geldgier und mafiöse Strukturen im heutigen Russland ihre Heimat bedrohen. - Da die Tscherkessen heute über viele Länder der Welt verteilt sind und sie somit keine gemeinsame Sprache mehr verbindet, wird ihre Kultur oft auf die berühmten Tänze und die legendären tscherkessischen Hochzeiten reduziert. Es ist daher eine ansprchsvolle Aufgabe, die Adygejer dem Vergessen zu entreißen und ihre gesamte Geschichte und Kultur international bekannt zu machen. Dieses Buch hilft dabei, und ich hoffe, dass es nicht nur unter Tscherkessen viele Leser findet."

 

 

Bibliographie zu Gisela Reller

 

Bücher als Autorin:

 

Länderbücher:

 

* Zwischen Weißem Meer und Baikalsee, Bei den Burjaten, Adygen und Kareliern,  Verlag Neues Leben, Berlin 1981, mit Fotos von Heinz Krüger und Zeichnungen von Karl-Heinz Döhring.

 

* Diesseits und jenseits des Polarkreises, bei den Südosseten, Karakalpaken, Tschuktschen und asiatischen Eskimos, Verlag Neues Leben, Berlin 1985, mit Fotos von Heinz Krüger und Detlev Steinberg und Zeichnungen von Karl-Heinz Döhring.

 

* Von der Wolga bis zum Pazifik, bei Tuwinern, Kalmyken, Niwchen und Oroken, Verlag der Nation, Berlin 1990, 236 Seiten mit Fotos von Detlev Steinberg und Zeichnungen von Karl-Heinz Döhring.

 

Biographie:

 

* Pater Maksimylian Kolbe, Guardian von Niepokalanów und Auschwitzhäftling Nr. 16 670, Union Verlag, Berlin 1984, 2. Auflage.

 

 

... als Herausgeberin:

 

Sprichwörterbücher:

 

* Aus Tränen baut man keinen Turm, ein kaukasischer Spruchbeutel, Weisheiten der Adygen, Dagestaner und Osseten, Eulenspiegel Verlag Berlin in zwei Auflagen (1983 und 1985), von mir übersetzt und herausgegeben, illustriert von Wolfgang Würfel.

* Dein Freund ist dein Spiegel, ein Sprichwörter-Büchlein mit 111 Sprichwörtern der Adygen, Dagestaner Kalmyken, Karakalpaken, Karelier, Osseten, Tschuktschen und Tuwiner, von mir gesammelt und zusammengestellt, mit einer Vorbemerkung und ethnographischen Zwischentexten versehen, die Illustrationen stammen von Karl Fischer, die Gestaltung von Horst Wustrau, Herausgeber ist die Redaktion FREIE WELT, Berlin 1986.

 * Liebe auf Russisch, ein in Leder gebundenes Mini-Bändchen im Schuber mit Sprichwörtern zum Thema „Liebe“, Buchverlag Der Morgen, Berlin 1990, von mir (nach einer Interlinearübersetzung von Gertraud Ettrich) in Sprichwortform gebracht, herausgegeben und mit einem Nachwort versehen, illustriert von Annette Fritzsch.

Aphorismenbuch:

* 666 und sex mal Liebe, Auserlesenes, 2. Auflage, Mitteldeutscher Verlag Halle/Leipzig, 200 Seiten mit Vignetten und Illustrationen von Egbert Herfurth.

 

... als Mitautorin:

 

Kinderbücher:

 

* Warum? Weshalb? Wieso?, Ein Frage-und-Antwort-Buch für Kinder, Band 1 bis 5, Herausgegeben von Carola Hendel, reich illustriert, Verlag Junge Welt, Berlin 1981 -1989.

 

Sachbuch:

 

* Die Stunde Null, Tatsachenberichte über tapfere Menschen in den letzten Tagen des zweiten Weltkrieges, Hrsg. Ursula Höntsch, Verlag der Nation 1966.

 

* Kuratorium zur kulturellen Unterstützung deutscher Minderheiten im Ausland e. V., Herausgegeben von Leonhard Kossuth unter Mitarbeit von Gotthard Neumann, Nora Verlag 2008.

 

 

... als Verantwortliche Redakteurin:

 

* Leben mit der Erinnerung, Jüdische Geschichte in Prenzlauer Berg, Edition  Hentrich, Berlin 1997, mit zahlreichen Illustrationen.

 

* HANDSCHLAG, Vierteljahreszeitung für deutsche Minderheiten im Ausland, Herausgegeben vom Kuratorium zur kulturellen Unterstützung deutscher Minderheiten im Ausland e. V., Berlin 1991 - 1993.

 

 

 

 

Die erste Ausgabe von HANDSCHLAG liegt vor. Von links: Dr. Gotthard Neumann, Leonhard Kossuth (Präsident), Horst Wustrau

(Gestalter von HANDSCHLAG), Gisela Reller, Dr. Erika Voigt

(Mitarbeiter des Kuratoriums zur kulturellen Unterstützung deutscher Minderheiten im Ausland e. V.).

Foto aus: Rellers Völkerschafts-Archiv

 

 

 

 

Pressezitate (Auswahl)

 zu Gisela Rellers Buchveröffentlichungen:

Dieter Wende in der „Wochenpost“ Nr. 15/1985:

„Es ist schon eigenartig, wenn man in der Wüste Kysyl-Kum von einem Kamelzüchter gefragt wird: `Kennen Sie Gisela Reller?´ Es ist schwer, dieser Autorin in entlegenen sowjetischen Regionen zuvorzukommen. Diesmal nun legt sie mit ihrem Buch Von der Wolga bis zum Pazifik Berichte aus Kalmykien, Tuwa und von der Insel Sachalin vor. Liebevolle und sehr detailgetreue Berichte auch vom Schicksal kleiner Völker. Die ethnografisch erfahrene Journalistin serviert Besonderes. Ihre Erzählungen vermitteln auch Hintergründe über die Verfehlungen bei der Lösung des Nationalitätenproblems.“

B(erliner) Z(eitung) am Abend vom 24. September 1981:

"Gisela Reller, Mitarbeiterin der Ilustrierten FREIE WELT, hat autonome Republiken und gebiete kleiner sowjetischer Nationalitäten bereist: die der Burjaten, Adygen und Karelier. Was sie dort ... erlebte und was Heinz Krüger fotografierte, ergíbt den informativen, soeben erschienenen Band Zwischen Weißem Meer und Baikalsee."

Sowjetliteratur (Moskau)Nr. 9/1982:

 "(...) Das ist eine lebendige, lockere Erzählung über das Gesehene und Erlebte, verflochten mit dem reichhaltigen, aber sehr geschickt und unaufdringlich dargebotenen Tatsachenmaterial. (...) Allerdings verstehe ich sehr gut, wie viel Gisela Reller vor jeder ihrer Reisen nachgelesen hat und wie viel Zeit nach der Rückkehr die Bearbeitung des gesammelten Materials erforderte. Zugleich ist es ihr aber gelungen, die Frische des ersten `Blickes´ zu bewahren und dem Leser packend das Gesehene und Erlebte mitzuteilen. (...) Es ist ziemlich lehrreich - ich verwende bewusst dieses Wort: Vieles, was wir im eigenen Lande als selbstverständlich aufnehmen, woran wir uns ja gewöhnt haben und was sich unserer Aufmerksamkeit oft entzieht, eröffnet sich für einen Ausländer, sei es auch als Reisender, der wiederholt in unserem Lande weilt, sozusagen in neuen Aspekten, in neuen Farben und besitzt einen besonderen Wert. (...) Mir gefällt ganz besonders, wie gekonnt sich die Autorin an literarischen Quellen, an die Folklore wendet, wie sie in den Text ihres Buches Gedichte russischer Klassiker und auch wenig bekannter nationaler Autoren, Zitate aus literarischen Werken, Märchen, Anekdoten, selbst Witze einfügt. Ein treffender während der Reise gehörter Witz oder Trinkspruch verleihen dem Text eine besondere Würze. (...) Doch das Wichtigste im Buch Zwischen Weißem Meer und Baikalsee sind die Menschen, mit denen Gisela Reller auf ihren Reisen zusammenkam. Unterschiedlich im Alter und Beruf, verschieden ihrem Charakter und Bildungsgrad nach sind diese Menschen, aber über sie alle vermag die Autorin kurz und treffend mit Interesse und Sympathie zu berichten. (...)"

Neue Zeit vom 18. April 1983:

„In ihrer biographischen Skizze über den polnischen Pater Maksymilian Kolbe schreibt Gisela Reller (2. Auflage 1983) mit Sachkenntnis und Engagement über das Leben und Sterben dieses außergewöhnlichen Paters, der für den Familienvater Franciszek Gajowniczek freiwillig in den Hungerbunker von Auschwitz ging.“

Der Morgen vom 7. Februar 1984:

„`Reize lieber einen Bären als einen Mann aus den Bergen´. Durch die Sprüche des Kaukasischen Spruchbeutels weht der raue Wind des Kaukasus. Der Spruchbeutel erzählt auch von Mentalitäten, Eigensinnigkeiten und Bräuchen der Adygen, Osseten und Dagestaner. Die Achtung vor den Alten, die schwere Stellung der Frau, das lebensnotwendige Verhältnis zu den Tieren. Gisela Reller hat klug ausgewählt.“

1985 auf dem Solidaritätsbasar auf dem Berliner Alexanderplatz: Gisela Reller (vorne links) verkauft ihren „Kaukasischen Spruchbeutel“ und 1986 das extra für den Solidaritätsbasar von ihr herausgegebene Sprichwörterbuch „Dein Freund ist Dein Spiegel“.

Foto: Alfred Paszkowiak

 Neues Deutschland vom 15./16. März 1986:

"Vor allem der an Geschichte, Bräuchen, Nationalliteratur und Volkskunst interessierte Leser wird manches bisher `Ungehörte´ finden. Er erfährt, warum im Kaukasus noch heute viele Frauen ein Leben lang Schwarz tragen und was es mit dem `Ossetenbräu´ auf sich hat, weshalb noch 1978 in Nukus ein Eisenbahnzug Aufsehen erregte und dass vor Jahrhunderten um den Aralsee fruchtbares Kulturland war, dass die Tschuktschen vier Begriff für `Freundschaft´, aber kein Wort für Krieg besitzen und was ein Parteisekretär in Anadyr als notwendigen Komfort, was als entbehrlichen Luxus ansieht. Großes Lob verdient der Verlag für die großzügige Ausstattung von Diesseits und jenseits des Polarkreises.“

 

 Gisela Reller während einer ihrer über achthundert Buchlesungen in der Zeit von 1981 bis 1991.

Foto aus: Rellers Völkerschafts-Archiv

 

Berliner Zeitung vom 2./3. Januar 1988:

„Gisela Reller hat klassisch-deutsche und DDR-Literatur auf Liebeserfahrungen durchforscht und ist in ihrem Buch 666 und sex mal Liebe 666 und sex mal fündig geworden. Sexisch illustriert, hat der Mitteldeutsche Verlag Halle alles zu einem hübschen Bändchen zusammengefügt.“

Neue Berliner Illustrierte (NBI) Nr. 7/88:

„Zu dem wohl jeden bewegenden Thema finden sich auf 198 Seiten 666 und sex mal Liebe mannigfache Gedanken von Literaten, die heute unter uns leben, sowie von Persönlichkeiten, die sich vor mehreren Jahrhunderten dazu äußerten.“

Das Magazin Nr. 5/88.

"`Man gewöhnt sich daran, die Frauen in solche zu unterscheiden, die schon bewusstlos sind, und solche, die erst dazu gemacht werden müssen. Jene stehen höher und gebieten dem Gedenken. Diese sind interessanter und dienen der Lust. Dort ist die Liebe Andacht und Opfer, hier Sieg und Beute.´ Den Aphorismus von Karl Kraus entnahmen wir dem Band 666 und sex mal Liebe, herausgegeben von Gisela Reller und illustriert von Egbert Herfurth."

 

Schutzumschlag zum „Buch 666 und sex mal Liebe“ .

Zeichnung: Egbert Herfurth

 

FÜR DICH, Nr. 34/89:

 

"Dem beliebten Büchlein 666 und sex mal Liebe entnahmen wir die philosophischen und frechen Sprüche für unser Poster, das Sie auf dem Berliner Solidaritätsbasar kaufen können. Gisela Reller hat die literarischen Äußerungen zum Thema Liebe gesammelt, Egbert Herfurth hat sie trefflich illustriert."

Messe-Börsenblatt, Frühjahr 1989:

"Die Autorin – langjährige erfolgreiche Reporterin der FREIEN WELT - ist bekannt geworden durch ihre Bücher Zwischen Weißem Meer und Baikalsee und Diesseits und jenseits des Polarkreises. Diesmal schreibt die intime Kennerin der Sowjetunion in ihrem Buch Von der Wolga bis zum Pazifik über die Kalmyken, Tuwiner und die Bewohner von Sachalin, also wieder über Nationalitäten und Völkerschaften. Ihre Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft wird uns in fesselnden Erlebnisberichten nahegebracht."

Im Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel schrieb ich in der Ausgabe 49 vom 7. Dezember 1982 unter der Überschrift „Was für ein Gefühl, wenn Zuhörer Schlange stehen“:

„Zu den diesjährigen Tagen des sowjetischen Buches habe ich mit dem Buch Zwischen Weißem Meer und Baikalsee mehr als zwanzig Lesungen bestritten. (…) Ich las vor einem Kreis von vier Personen (in Klosterfelde) und vor 75 Mitgliedern einer DSF-Gruppe in Finow; meine jüngsten Zuhörer waren Blumberger Schüler einer 4. Klasse, meine älteste Zuhörerin (im Schwedter Alten- und Pflegeheim) fast 80 Jahre alt. Ich las z.B. im Walzwerk Finow, im Halbleiterwerk Frankfurt/Oder, im Petrolchemischen Kombinat Schwedt; vor KIM-Eiersortierern in Mehrow, vor LPG-Bauern in Hermersdorf, Obersdorf und Bollersdorf; vor zukünftigen Offizieren in Zschopau; vor Forstlehrlingen in Waldfrieden; vor Lehrlingen für Getreidewirtschaft in Kamenz, vor Schülern einer 7., 8. und 10 Klasse in Bernau, Schönow und Berlin; vor Pädagogen in Berlin, Wandlitz, Eberswalde. - Ich weiß nicht, was mir mehr Spaß gemacht hat, für eine 10. Klasse eine Geographiestunde über die Sowjetunion einmal ganz anders zu gestalten oder Lehrern zu beweisen, dass nicht einmal sie alles über die Sowjetunion wissen – was bei meiner Thematik – `Die kleinen sowjetischen Völkerschaften!´ – gar nicht schwer zu machen ist. Wer schon kennt sich aus mit Awaren und Adsharen, Ewenken und Ewenen, Oroken und Orotschen, mit Alëuten, Tabassaranern, Korjaken, Itelmenen, Kareliern… Vielleicht habe ich es leichter, Zugang zu finden als mancher Autor, der `nur´ sein Buch oder Manuskript im Reisegepäck hat. Ich nämlich schleppe zum `Anfüttern´ stets ein vollgepacktes Köfferchen mit, darin von der Tschuktschenhalbinsel ein echter Walrosselfenbein-Stoßzahn, Karelische Birke, burjatischer Halbedelstein, jakutische Rentierfellbilder, eskimoische Kettenanhänger aus Robbenfell, einen adygeischen Dolch, eine karakalpakische Tjubetejka, der Zahn eines Grauwals, den wir als FREIE WELT-Reporter mit harpuniert haben… - Schön, wenn alles das ganz aufmerksam betrachtet und behutsam befühlt wird und dadurch aufschließt für die nächste Leseprobe. Schön auch, wenn man schichtmüde Männer nach der Veranstaltung sagen hört: `Mensch, die Sowjetunion ist ja interessanter, als ich gedacht habe.´ Oder: `Die haben ja in den fünfundsechzig Jahren mit den `wilden´ Tschuktschen ein richtiges Wunder vollbracht.´ Besonders schön, wenn es gelingt, das `Sowjetische Wunder´ auch denjenigen nahezubringen, die zunächst nur aus Kollektivgeist mit ihrer Brigade mitgegangen sind. Und: Was für ein Gefühl, nach der Lesung Menschen Schlange stehen zu sehen, um sich für das einzige Bibliotheksbuch vormerken zu lassen. (Schade, wenn man Kauflustigen sagen muss, dass das Buch bereits vergriffen ist.) – Dank sei allen gesagt, die sich um das zustande kommen von Buchlesungen mühen – den Gewerkschaftsbibliothekaren der Betriebe, den Stadt- und Kreisbibliothekaren, den Buchhändlern, die oft aufgeregter sind als der Autor, in Sorge, `dass auch ja alles klappt´. – Für mich hat es `geklappt´, wenn ich Informationen und Unterhaltung gegeben habe und Anregungen für mein nächstes Buch mitnehmen konnte.“

Die Rechtschreibung der Texte wurde behutsam der letzten

Rechtschreibreform angepasst.

Die TSCHERKESSEN wurden am 14.05.2014 ins Netz gestellt.

Die Weiterverwertung der hier veröffentlichten Texte, Übersetzungen, Nachdichtungen, Fotos, Zeichnungen, Illustrationen... ist nur mit Verweis auf die Internetadresse www.reller-rezensionen.de gestattet - und mit korrekter Namensangabe des jeweils genannten geistigen Urhebers.

Zeichnung: Karl-Heinz Döhring