Vorab!

Leider kommt im Internet bei meinem (inzwischen veralteten) FrontPage-Programm  längst nicht alles so, wie von mir in html angegeben. Farben kommen anders, als von mir geplant, Satzbreiten wollen nicht so wie von mir markiert, Bilder kommen manchmal an der falschen  Stelle, und - wenn  ich  Pech  habe  -  erscheint  statt  des  Bildes  gar  eine  Leerstelle.

Was tun? Wer kann helfen?

 

*

Wird laufend bearbeitet!

 

 

Ich bin ein Niwche: Die .

 

Foto:

Zeichnung: Karl-Heinz Döhring

 

"Die Seele, denke ich, hat keine Nationalität."

Juri Rytchëu (tschuktschischer Schriftsteller, 1930 bis 2008) in: Im Spiegel des Vergessens, 2007

 

Wenn wir für das eine Volk eine Zuneigung oder gegen das andere eine Abneigung hegen, so beruht das, ob wir uns dessen bewusst sind oder nicht, auf dem, was wir von dem jeweiligen Volk wissen oder zu wissen glauben. Das ist – seien wir ehrlich – oft sehr wenig, und manchmal ist dieses Wenige auch noch falsch.  

Ich habe für die Berliner Illustrierte FREIE WELT jahrelang die Sowjetunion bereist, um – am liebsten - über abwegige Themen zu berichten: über Hypnopädie und Suggestopädie, über Geschlechtsumwandlung und Seelenspionage, über Akzeleration und geschlechtsspezifisches Kinderspielzeug... Außerdem habe ich mit jeweils einem deutschen und einem Wissenschaftler aus dem weiten Sowjetland vielteilige Lehrgänge erarbeitet.* Ein sehr interessantes Arbeitsgebiet! Doch 1973, am letzten Abend meiner Reise nach Nowosibirsk – ich hatte viele Termine in Akademgorodok, der russischen Stadt der Wissenschaften – machte ich einen Abendspaziergang entlang des Ob. Und plötzlich wurde mir klar, dass ich zwar wieder viele Experten kennengelernt hatte, aber mit der einheimischen Bevölkerung kaum in Kontakt gekommen war.  

Da war in einem magischen Moment an einem großen sibirischen Fluss - Angesicht in Angesicht mit einem kleinen (grauen!) Eichhörnchen - die große FREIE WELT-Völkerschafts-Serie** geboren!  

Und nun reiste ich ab 1975 jahrzehntelang zu zahlreichen Völkern des Kaukasus, war bei vielen Völkern Sibiriens, war in Mittelasien, im hohen Norden, im Fernen Osten und immer wieder auch bei den Russen. 

Nach dem Zerfall der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken zog es mich – nach der wendegeschuldeten Einstellung der FREIEN WELT***, nun als Freie Reisejournalistin – weiterhin in die mir vertrauten Gefilde, bis ich eines Tages mehr über die westlichen Länder und Völker wissen wollte, die man mir als DDR-Bürgerin vorenthalten hatte.

Nach mehr als zwei Jahrzehnten ist nun mein Nachholebedarf erst einmal gedeckt, und ich habe das Bedürfnis, mich wieder meinen heißgeliebten Tschuktschen, Adygen, Niwchen, Kalmyken und Kumyken, Ewenen und Ewenken, Enzen und Nenzen... zuzuwenden.

Deshalb werde ich meiner Webseite www.reller-rezensionen.de (mit inzwischen weit mehr als fünfhundert Rezensionen), die seit 2002 im Netz ist, ab 2013 meinen journalistischen Völkerschafts-Fundus von fast einhundert Völkern an die Seite stellen – mit ausführlichen geographischen und ethnographischen Texten, mit Reportagen, Interviews, Sprichwörtern, Märchen, Gedichten, Literaturhinweisen, Zitaten aus längst gelesenen und neu erschienenen Büchern; so manches davon, teils erstmals ins Deutsche übersetzt, war bis jetzt – ebenfalls wendegeschuldet – unveröffentlicht geblieben. 

Sollten sich in meinem Material Fehler oder Ungenauigkeiten eingeschlichen haben, teilen Sie mir diese bitte am liebsten in meinem Gästebuch oder per E-Mail gisela@reller-rezensionen.de mit. Überhaupt würde ich mich über eine Resonanz meiner Nutzer freuen!

Gisela Reller 

    * Lernen Sie Rationelles Lesen" / "Lernen Sie lernen" / "Lernen Sie reden" / "Lernen Sie essen" / "Lernen Sie, nicht zu rauchen" / "Lernen Sie schlafen" / "Lernen Sie logisches Denken"...

 

  ** Im 1999 erschienenen Buch „Zwischen `Mosaik´ und `Einheit´. Zeitschriften in der DDR“ von Simone Barck, Martina Langermann, Siegfried Lokatis (Hrsg.), erschienen im Berliner Ch. Links Verlag, ist eine Tabelle veröffentlicht, aus der hervorgeht, dass die Völkerschaftsserie der FREIEN WELT von neun vorgegebenen Themenkreisen an zweiter Stelle in der Gunst der Leser stand – nach „Gespräche mit Experten zu aktuellen Themen“.

(Quelle: ZA Universität Köln, Studie 6318)

 

*** Christa Wolf zur Einstellung der Illustrierten FREIE WELT in ihrem Buch "Auf dem Weg nach Tabou, Texte 1990-1994", Seite 53/54: „Aber auf keinen Fall möchte ich den Eindruck erwecken, in dieser Halbstadt werde nicht mehr gelacht. Im Gegenteil! Erzählt mir doch neulich ein Kollege aus meinem Verlag (Helmut Reller) – der natürlich wie zwei Drittel der Belegschaft längst entlassen ist –, daß nun auch seine Frau (Gisela Reller), langjährige Redakteurin einer Illustrierten (FREIE WELT) mitsamt der ganzen Redaktion gerade gekündigt sei: Die Zeitschrift werde eingestellt. Warum wir da so lachen mußten? Als im Jahr vor der `Wende´ die zuständige ZK-Abteilung sich dieser Zeitschrift entledigen wollte, weil sie, auf Berichterstattung aus der Sowjetunion spezialisiert, sich als zu anfällig erwiesen hatte, gegenüber Gorbatschows Perestroika, da hatten der Widerstand der Redaktion und die Solidarität vieler anderer Journalisten das Blatt retten können. Nun aber, da die `Presselandschaft´ der ehemaligen DDR, der `fünf neuen Bundesländer´, oder, wie der Bundesfinanzminister realitätsgerecht sagt: `des Beitrittsgebiets´, unter die vier großen westdeutschen Zeitungskonzerne aufgeteilt ist, weht ein schärferer Wind. Da wird kalkuliert und, wenn nötig, emotionslos amputiert. Wie auch die Lyrik meines Verlages (Aufbau-Verlag), auf die er sich bisher viel zugute hielt: Sie rechnet sich nicht und mußte aus dem Verlagsprogramm gestrichen werden. Mann, sage ich. Das hätte sich aber die Zensur früher nicht erlauben dürfen! – "Das hätten wir uns von der auch nicht gefallen lassen", sagt eine Verlagsmitarbeiterin.

Wo sie recht hat, hat sie recht.“

Zeichnung: Karl-Heinz Döhring

Wenn Sie sich die folgenden Texte zu Gemüte geführt und Lust bekommen haben, Sachalin zu bereisen und auch die Niwchen kennenzulernen, sei Ihnen das Reisebüro ? empfohlen; denn – so lautet ein niwchisches Sprichwort -

Die größte Sehenswürdigkeit auf der Welt ist die Welt.

(Hier könnte Ihre Anzeige stehen!)

 

Die NIWCHEN… (Eigenbezeichnung:  ńivx = Mensch)

Sachalin war seit 1894 selbständiges Militärgouvernement, bestehend aus der Insel Sachalin und einigen benachbarten Inseln, mit 75,978 qkm Fläche und (1897) 28,166,(20,518 männlichen, 7648 weiblichen) Einwohnern (0,4 auf 1 qkm). Sitz der Verwaltung ist Alexandrowsk. Die Insel S. (bei den Japanern und den Aino der Kurilen Krafto, Karafuto, bei den Chinesen Tarrakaj) liegt im Ochotskischen Meere (s. Karte »Sibirien«), vor der Mündung des Amur, von der Küstenprovinz durch die nur 10 km breite Tataren- oder Newelskistraße, von Jeso durch die Lapérousestraße getrennt, zwischen 45°52´-54°22´ nördl. Br. und 141°49´-144°45´ östl. L., von N. nach S. 957 km lang, von O. nach W. zwischen 28 und 195 km breit und 75,365 qkm groß. Die Insel ist im allgemeinen gebirgig, nur im N., gegenüber dem Ästuarium des Amur, breiten sich von der einen Küste zur andern Ebenen aus. Die Hauptgebirgskette zieht sich an der Westküste mit 900 m mittlerer Höhe hin, erhebt sich bis gegen 1200 m im Lopatinskij, die östliche Kette ist im Pik Tiara nur 600 m hoch; zwischen beiden ist eine Niederung, von Tymi nach N. und Poronai nach S. durchströmt, eingeschlossen, die zur Terpjenijabai ausläuft. Die Aniwabai liegt zwischen den Kaps Aniwa und Notoro (Crillon). Die 2800 km lange Küste hat nur für Schiffe mittlerer Größe in der breiten Mündung des Tymi und in der Nabilschen Bucht guten Ackergrund. Geologisch gehört S. zur Tertiärformation; kristallinisches Gestein, Basalt und Kalkstein erscheinen nur an einigen Vorgebirgen. Kohle findet man an der Westküste bei Dui, im Innern am Flusse Kummanai und auch an der Ostküste, ergiebige Naphthaquellen im nördlichen Teile der Insel, namentlich an der Nabilischen Bucht. Die Urbevölkerung, etwa 4000 Köpfe, besteht aus Giljaken im N. und Aino südlich der Terpjenijabai, Orotschen und Tungusen, einigen hundert Chinesen und Koreanern und 300–400 Japanern. Die Russen gründeten hier zuerst 1857 den Posten Dui an der Westküste, aber erst 1880 begann eine systematische Kolonisation zuerst durch gemeine, dann auch durch politische Verbrecher. Man baut Kartoffeln, Weizen, auch etwas Gerste, Hafer und Roggen. Doch leiden die Ernten sogar Anfang August durch Nachtfröste. Es gibt 600 km gebahnter Fahrwege und 670 km Telegraphenleitung. Unter den verschiedenen Orten waren die wichtigsten Korsakowa und Dui. Der erste Europäer, der an die Küste von S. kam, war der Holländer Gerrit de Vries 1643, ohne aber die Inselnatur des Landes zu erkennen, was auch Lapérouse 1787 nur halb gelang. Eine vollständige Aufnahme der Insel machte der russische Kapitän Newelski 1849 bis 1852. Seit 1855 teilten sich Rußland und Japan[364] in den Besitz von S., bis 1875 Japan seine Ansprüche gegen Überlassung der Kurilen aufgab. Durch den russisch-japanischen Krieg kam aber die Südhälfte Sachalins wieder in japanischen Besitz. Um die Erforschung von S. machten sich verdient Krusenstern 1805, der schon genannte Newelski, Schrenck 1854–1856, Schmidt, Glehn, Brylkin 1860, Lopatin 1867, Dobrotvorsky 1870, Poljakow 1881–82, Krasnow 1892. Vgl. Poljakow, Reise nach der Insel S. in den Jahren 1881–1882 (deutsch, Berl. 1884); H. de Windt, The New Siberia (Lond. 1896); »Wegweiser auf der großen Sibirischen Eisenbahn« (deutsch von Lütschg, Petersb. u. Berl. 1901); Doroschewitsch, Die Verbrecherinsel S. (Berl. 1903); Hawes, Im äußersten Osten. Von Korea über Wladiwostok nach der Insel S. (deutsch, Berl. 1905); v. Zepelin, Die Insel S. Der Kriegsschauplatz in Ostasien (das. 1905); Funk e, Die Insel S. (Halle 1906).

Bevölkerung:

Fläche:

Geschichtliches:

 Am 1. August 1850 lief Kapitänleutnant Newelski. – sein Name ist heute fast vergessen – in die Amurmündung ein, nachdem er am 15. September 1849 seinem Chef Muraview im Hafen von Ajan durch das Sprachrohr von Bord des „Baikal“ zugerufen hatte: „Sachalin ist eine Insel! Der Eingang in den Amur-Liman von Norden und Süden für Seeschiffe möglich“. Als Zar Nikolaus I. gemeldet wurde, Leutnant Newelski habe an der Amurmündung die russische Flagge gehisst und von der Flussmündung Besitz ergriffen „im Namen des Zaren“, schrieb Nikolaus die für den Offizier ehrenden Worte: „Wo die russische Flagge einmal aufgepflanzt ist, soll sie nie wieder sinken!“

Staatsgefüge:

Verbannungsgebiet:

Hauptstadt:

Wirtschaft:

Tierfang (Zobel und Rentier) und Fischerei (Kabeljau, Heringe, Seezungen, Lachse) sind Haupterwerbsquellen der Bevölkerung. Die Fischerei verspricht eine große Zukunft.

Verkehr:  

Sprache/Schrift:

Das Niwchische wird von den Niwchen gesprochen, die in Russland an der Mündung des Amur und auf der Insel Sachalin leben. Niwchisch ist eine isolierte Sprache, also mit keiner anderen bekannten Sprache genetisch verwandt. Es wird jedoch mit anderen sibirischen Sprachen zur Gruppe der paläosibirischen Sprachen zusammengefasst. Die paläosibirischen Sprachen bilden keine genetische Einheit, sondern eine Gruppe altsibirischer Restsprachen, die schon vor dem Eindringen uralischer, turkischer und tungusischer Ethnien dort gesprochen wurden. Eine interessante Eigentümlichkeit des Niwchischen ist die Existenz verschiedener Serien von Zahlwörtern. So hat das Niwchische zum Beispiel für das Zahlwort „drei“ andere Bezeichnungen, abhängig davon, ob es sich um drei Menschen, drei Tiere, drei Boote oder drei Netze handelt. - Von den ethnischen Niwchen sprechen immer weniger ihre Muttersprache: 1926 zählte man 4 100 Niwchen, die alle ihre Muttersprache sprachen, 1959 waren es noch 76 Prozent, 1970 50 Prozent, 1979 48 Prozent, 1989 23 Prozent, 2002 nur noch 13 Prozent. Da von einem weiteren Rückgang der Sprecherzahlen auszugehen ist, ist das Niwchische eine vom baldigen Aussterben bedrohte Sprache. Allerdings werden für die Begriffe des traditionellen täglichen Lebens nach wie vor niwchische Bezeichnungen verwendet.

 

– 19 bekamen die Niwchen ein Alphabet,

Die Ausarbeitung eines Alphabets war jedoch nur ein erster Schritt. Viel schwieriger war zum Beispiel das Verfassen von Büchern. Es gab keine mit dem neuen Alphabet, geschweige denn mit einem älteren Alphabet vertrauen Autoren, die auch noch Erfahrung im Schreiben von Lehrbüchern gehabt hätten. Hinzu kamen die Schwierigkeiten mit der Auslieferung der Werke, oft versagte das Transportwesen. „Auch Missverständnisse spielten eine gewisse Rolle. So erhielt eine Region, in der Niwchen wohnten, eine Schiffsladung an Büchern in der Zigeunersprache.“ (Andreas Frings in: Sowjetische Schriftpolitik zwischen 1917 und 1941, Franz Steiner Verlag 2007) -

Literatursprache/Literatur:

Bildung:

Gesundheitswesen:

Klima:

Das Klima ist sehr rau, nur an der Süd- und Westküste wird es durch die von Japan kommenden Meeresströmungen gemildert. Im Winter herrschen heftige Stürme, im Sommer kalte. dicke Nebel.

Natur/Umwelt:

Pflanzen- und Tierwelt:

Vier Vegetationsformationen bedecken die Insel Sachalin: Der nordsibirischer Urwald (Tannen und Fichten), Tundren, Küstenwiesen und sogenannte Elanen oder Flussufervegetation, die aus Pappeln, Weiden, Erlen, Ulmen, Eichen, riesigen Wiesenkräutern, dem Weinstock im wilden Zustand besteht. Eine besondere Art Bambus bedeckt die ganze Westkette.  - Von wilden Tieren finden sich Bären, Füchse, Moschustiere, Seeottern, Renntiere und sehr zahlreich Zobel. Tiger überschreiten zuweilen die gefrorne Meerenge. Das verbreitetste Haustier ist der Hund, den man allgemein als Zugtier verwendet. Pferde und Rinder sind von den Russen und Japanern eingeführt worden. Vogelwelt ist der von Sibirien nahe verwandt.

 

 

Burunduk, das Streifenhörnchen, ist in Sibirien zu Hause. Bei den Niwchen gibt es das Märchen

 "Warum Burunduk gestreift ist"...

Zeichnung von R. Zieger aus: Rellers Völkerschafts-Archiv

 

 

„Die letzten 100 Grauwale vor Sachalin sind durch die Ölindustrie massiv bedroht. - Die russische Insel Sachalin, 45 Kilometer nördlich von Japan vor der pazifischen Küste Russlands gelegen, scheint für viele Ölfirmen eine der zukunftsträchtigsten Regionen für neue Öl- und Gasexplorationen zu sein. Bereits in den siebziger Jahren wurden erste Übereinkommen zwischen Japan und Russland geschlossen, um die vermuteten Vorkommen vor der Küste Sachalins auszubeuten. Aber erst in den neunziger Jahren, mit Auflösung der damaligen Sowjetunion, bildeten sich Joint Ventures zwischen westlichen Firmen und russischen Unternehmen. Die Aktivitäten im Offshore-Bereich haben weitreichende Auswirkungen vor allem auf eine Population von Grauwalen, die im Bereich der Öl- und Gasfelder ihre Nahrungsgründe haben.“

Greenpeace, 2003 (?)

 

Behausungen:

Ernährung:

Kleidung:

Folklore:

Feste/Bräuche:

Religion:

Ereignisse nach dem Zerfall der Sowjetunion, sofern sie nicht bereits oben aufgeführt sind:

Gazprom fand 2014 riesige Ölvorkommen – 464 Millionen Tonnen - auf der Insel Sachalin. Geplant ist, 2018 mit der Erschließung zu beginnen.

 

Kontakte zur Bundesrepublik Deutschland:

 

Interessant, zu wissen..., dass das Mineral Schungit nur in Karelien vorkommt. Schungit bildet eine weltweit einmalige Sonderform des Kohlenstoffs, ein sogenanntes Fulleren. Kohlenstoff-Fullerene kommen sonst nur im Kosmos vor, und daher vermutet man auch für den Schungit einen kosmischen

 

Ohne Heimat ist ein Mensch wie ein Seehund ohne Luft.

 Sprichwort der Niwchen

 

Als Journalistin der Illustrierten FREIE WELT – die als Russistin ihre Diplomarbeit über russische Sprichwörter geschrieben hat - habe ich auf allen meinen Reportagereisen in die Sowjetunion jahrzehntelang auch Sprichwörter der dort ansässigen Völker gesammelt - von den Völkern selbst,  von einschlägigen Wissenschaftlern und Ethnographen, aus Büchern ... - bei einem vierwöchigen Aufenthalt in Moskau saß ich Tag für Tag in der Leninbibliothek. So ist von mir erschienen: 

* Aus Tränen baut man keinen Turm, ein kaukasischer Spruchbeutel, Weisheiten der Adygen, Dagestaner und Osseten, Eulenspiegel Verlag Berlin in zwei Auflagen (1983 und 1985), von mir übersetzt und herausgegeben, illustriert von Wolfgang Würfel.

* Dein Freund ist dein Spiegel, ein Sprichwörter-Büchlein mit 111 Sprichwörtern der Adygen, Dagestaner Kalmyken, Karakalpaken, Karelier, Osseten, Tschuktschen und Tuwiner, von mir gesammelt und zusammengestellt, mit einer Vorbemerkung und ethnographischen Zwischentexten versehen, die Illustrationen stammen von Karl Fischer, die Gestaltung von Horst Wustrau, Herausgeber ist die Redaktion FREIE WELT, Berlin 1986.

 * Liebe auf Russisch, ein in Leder gebundenes Mini-Bändchen im Schuber mit Sprichwörtern zum Thema „Liebe“, Buchverlag Der Morgen, Berlin 1990, von mir (nach einer Interlinearübersetzung von Gertraud Ettrich) in Sprichwortform gebracht, herausgegeben und mit einem Nachwort versehen, illustriert von Annette Fritzsch.

Ich bin, wie man sieht, gut damit gefahren, es mit diesem turkmenischen Sprichwort zu halten: Hast du Verstand, folge ihm; hast du keinen, gibt`s ja noch die Sprichwörter.

 

Hier zwanzig niwchische  Sprichwörter:

 

(Bisher Unveröffentlicht)

 

Nach vorne schaue einmal, nach hinten fünfmal.  

Nach den Wert des Geldes frage einen Armen.

Der Weg in den Himmel führt am Tabaksbeutel vorbei.

Die Zunge in Bewegung zu setzen, heißt noch nicht, das Ruder zu führen.

Bevor du heiratest, setze dich auf einen Ameisenhaufen.

Über eine Arbeit, die des Abends vollbracht, wird des Morgens oft gelacht.

Jede Arbeit ist stachlig.

Die Augen des Reichen sind einer Vorratskammer gleich.

Das Ausholen ist niederschmetternder als der Schlag.

Ein guter Baum trägt keine schlechten Früchte.

Wer auch nur einen Tag gehungert hat, den frage vierzig Tage lang nicht um Rat.

Vieh zu Vieh.

Ohne schlimme Worte in Kauf zu nehmen, kann man die guten nicht vernehmen.

Was möglich auf dieser Welt verschiebe nicht auf jene Welt.

Schwer ist es, krank zu sein, schwerer, einen Kranken zu pflegen.

Das Auge ist der Spiegel des Herzens.

Ein Eifersüchtiger hat zwölf Augen.

Leid schärft den Verstand.

Nimm dein Handwerk nicht mit ins Grab.

Wer viel vom Tod redet, verliert den Geschmack am Leben.

 

 Gesammelt, aus dem Russischen übersetzt und in Sprichwortform gebracht von Gisela Reller

 

  

Als Reporterin der Illustrierten FREIE WELT bereiste ich ? Sachalin. In meinem Buch "Von der Wolga bis zum Pazifik", 236 Seiten, mit zahlreichen Fotos, 1990 im Verlag der Nation, Berlin, erschienen, habe ich über die Tuwiner, Kalmyken, NIWCHEN und Oroken geschrieben.

Buch Vorder- und Rückseite

 

 

 

LESEPROBE aus „Von der Wolga bis zum Pazifik“: Insel ohne Wonnemonat

 

Gestern schlug ich mich den ganzen Tag mit dem Klima auf Sachalin herum. Es ist schon schwer, von derlei Dingen zu schreiben, aber schließlich habe ich den Teufel doch beim Schwanz gepackt. Ich entwarf ein bild des Klimas, daß einem bei Lesen kalt wird.

Anton Tschechow 1890

 

„Sachalins Klima ist, als sich ein Jahrhundert später unser Team auf die Reise macht, nicht freundlicher geworden. Zahlreiche Zyklone hat die Bevölkerung hier jährlich durchzustehen, Taifune und Tsunamis zu fürchten; zahllose Überschwemmungen, Erdbeben, Vulkanausbrüche; Schneestürme und Lawinen suchen die Insel heim.

Zyklone – Wirbelstürme, die im Indischen Ozean ihren Ursprung haben - stürzen sich vor allem von Januar bis März auf Sachalin. 1970 zum Beispiel rasten vom 21. Januar bis 16, März zehn dieser Stürme, die Organstärke erreichten, über das vielgeplagte Land.

Taifune – ganzjährig entstehende regionale Wirbelstürme über dem Pazifik und dem angrenzenden Festland – treten besonders häufig zwischen Juli und November auf. Der verheerende Taifun `Phillis´ zum Beispiel forderte im August 1981 Menschenleben und verursachte Schäden von fünfhundert Millionen Rubeln.

Tsunamis – verursacht von seismischen Wellen, die durch Erdbeben und Vulkanausbrüche auf dem Meeresgrund entstehen – pflanzen sich als zerstörerische Wogen mit einer Wandergeschwindigkeit bis zu siebenhundert Kilometern in der Stunde fort, die Wellenlänge der Tsunamis kann bis zu dreihundert Kilometer betragen, beim Auflaufen auf die Küste erreichen die Wellen bis zu dreißig Meter Höhe. Im November 1952 verschluckte eine solche Welle Teile einer bewohnten Insel der Kurilenkette, der Insel Paramuschir. Acht Jahre danach erreichte eine gewaltige Tsunami-Welle, entstanden durch ein chilenisches Erdbeben, erneut die Kurilen. Diesmal traf die Woge die Menschen nicht unvorbereitet…

Noch häufiger muss Sachalin Überschwemmungen erdulden; die Überschwemmungen vom September 1970 zum Beispiel – man registrierte Windstärke 12 – gilt als eine der verheerendsten. Doch damit nicht genug, ist die Insel äußerst erdbebengefährdet: Im September 1971 wütete ein Erdbeben der Stärke 8 nach der Richter-Skala, im Juni 1977 eines der Stärke 6 bis 7, die Schäden waren beide Male beträchtlich.

Darüber hinaus gibt es im gesamten Gebiet Sachalin vierzig tätige Vulkane, neununddreißig davon auf den Kurilen, einen Schlammvulkan auf der Insel Sachalin. Der höchste Vulkan ist mit 2 339 Metern der Alaid. Im Juni 1972 erwachte er nach langem Schweigen, in diesem Jahrhundert das dritte Mal; die Aschewolken erreichten eine Höhe von acht und eine Breite von sechs Kilometern. Ebenfalls in den siebziger Jahren meldete sich auch der Schlammvulkan lautstark zu Wort.

Die Temperaturen sinken auf der Insel bis zu 50 Grad minus, die Strenge des Winters wird verstärkt durch lang anhaltende Schneestürme; so raste 1963 noch am 1. Juni ein solcher Sturm über das ganze Land. Die mächtigen Schneefälle führen oft zu Lawinen, die vom März 1986 zerstörten zahlreiche Verkehrs- und Energieverbindungen. Im kurzen, kühlen, regnerischen Sommer – so ist es nicht nur bei dem russischen Marineoffizier Adam Johann von Krusenstern (1770 bis 1846) nachzulesen – ist Sachalin fast immer eine ´Insel im Nebelmeer´. Wir sehen schon, einen feststehenden Wetter-Wonnemonat gibt es auf Sachalin nicht.

Der Name Sachalin kam durch ein Missverständnis zustande: 1710 war von Pekinger Missionaren eine Karte von Sachalin gezeichnet worden. Diese Karte wurde in Frankreich bekannt, weil sie 1737 in den Atlas des Geographen Jean-Baptiste Bourguignon d`Anville aufgenommen wurde. Und dieser Karte verdankt Sachalin seinen Namen. An der Westküste der Insel nämlich, direkt gegenüber der Mündung des Amur, gibt es auf jener Karte eine mongolische Inschrift der Missionare: `Saghalien angahata´, was deutsch `die Felsen des schwarzen Flusses´ heißt. Diese Bezeichnung bezog sich wahrscheinlich auf einen Felsen oder auf ein Kap an der Amurmündung, in Frankreich aber verstand man sie anders und bezog sie auf die Insel selbst. Daher der Name Sachalin, der später von Krusenstern auch für russische Karten verwendet wurde. Bei den Japanern nannte man Sachalin Karafuto oder Karaftan, was `die chinesische Insel´ bedeutet. Die angestammten Niwchen (die früher Giljaken hießen) nennen ihre Insel seit jeher Ychmif, etwa mit `Ort der Geburt´ zu übersetzen.

Die Raue, die Unwirtliche, die Insel Sachalin, liegt fern im Osten Russlands, rund zehntausend Kilometer von uns entfernt.

Wir machen uns im Monat Juni auf den Weg dorthin, da ist wenigstens eines sicher: Im Schnee werden mir nicht steckenbleiben. Seit April 1987 gibt es von Moskau aus Direktflüge, im Nonstopflug wird man mit einer IL 62 M in zehn Stunden von Moskau zur Insel- und Gebietshauptstadt Jushno-Sachalinsk gebracht. Wir waren nur bis Wladiwostok geflogen, weil wir dort noch zu arbeiten hatten. Den Katzensprung von Wladiwostok nach Sachalin wird die TU154 in einer Stunde und zehn Minuten bewältigen.

Noch viel mehr Naturkatastrophen im Kopf als hier aufgeführt, beginnt der Flug in Wladiwostok mit beunruhigend ausführlicher Erläuterung des Gebrauchs der Schwimmwesten, `weil´, so die Stewardess, `wir fast die ganze Zeit über Wasser fliegen´ und ja immerhin die Möglichkeit besteht, in dieses zu fallen. Doch wir landen nach 1 050 unkatastrophalen Flugkilometers wohlbehalten-trocken auf dem Jushno-Sachalinsker Flughafen.

[Übrigens: wir waren kaum von unserer Sachalin-Reise zurück, ]

(Text: Gisela Reller; Bild: Detlev Steinberg)

 

LESEPROBE aus „Von der Wolga bis zum Pazifik“: Insel der Heiligen

 

Die Bewohner versichern einstimmig, daß man auf Sachalin `auf keine Art´ leben kann… Gutwillig (können) hier nur Heilige leben.

Anton Tschechow, 1890

 

`“Wie immer fiebere ich dem Menschen entgegen, der uns vom Flughafen abholt, ist er doch derjenige, der uns während unseres Aufenthaltes bereuen wird und von dessen Engagement viel für uns abhängt. Diesmal ist es Iwan Beloussow, mittelgroß, schlank, um die Fünfzig, mit wettergebräuntem Gesicht und klaren hellen Augen, ein Russe, einer, der hier `gutwillig´ lebt. Ein Heiliger?

`Heilig´ mutet – zumindest auf den ersten Blick – höchstens sein üppiges weißes Haar an.

Der Flughafen von Jushno-Sachalinsk liegt etwa zehn Kilometer außerhalb der Stadt. Auf unserer Autofahrt zum Hotel wechseln schmucke Holzhäuser mit geradezu baufälligen Katen, näher zur Stadt kommen dann Steinhäuser ins Bild, die Straßen weiten sich zu Prospekten.

Wir lasen schon: Die Insel Sachalin erstreckt sich von Nord nach Süd über 948 Kilomter, auf ihrer Fläche von 76 400 Quadratkilometern fänden Dänemark und Belgien Platz; de größte Breite der Insel beträgt 160 Kilometer, durchschnittlich ist sie 100 Kilometer breit. `Unsere Insel hat die Gestalt eines Fisches´, sagt Iwan Beloussow, `sein Maul befindet sich im nördlichen Teil des kalten Ochotskischen Meeres, seine Rückenflosse zeigt etwa die Mitte der Insel an, sein Schwanz – nur achtzig Kilometer von Japan entfernt – wird von warmen südlichen Strömungen umspült. So mannigfaltig das Klima. So mannigfaltig die Natur. Wohl nirgendwo auf der Welt gedeihen in so enger Nachbarschaft Bambus, Eiche, wilder Wein, Fichte, Edeltanne, Lianen, die japanische Zierkirsche, nördlich-kümmerliche Lärchen und Rentiermoos.

Landschaftsbestimmend auf unserer Autofahrt zum Hotel die hier `Sopga´ genannten teils schroffen; teils mit hohen Lärchen und Fichten bewachsenen Bergkuppen. Bei blauem Himmel beträgt die 19-Uhr-Tempertur angenehme dreizehn Grad plus. `Es hat gerade erst begonnen, wärmer zu werden´, berichtet Iwan Beloussow, `noch türmen sich auf dem Ozean die Eisschollen, so dass wir in diesem Jahr mit dem Fischfang nicht planmäßig beginnen können.´

Juschno-Sachalinsk hat einhundertvierzigtausend Einwohner; insgesamt leben über siebenhundertneuntausend Menschen auf der Insel, Vertreter von etwa achtzig nationen und Völkerschaften, zweiundachtzig Prozent der Insulaner sind Russen. Da Jushno-Sachalinsk fast zwanzig Kilometer vom Meer entfernt liegt, haben wir kaum das Gefühl, auf einer Insel zu sein.

Vorbei am Bahnhof und am Stadtpark `Juri Gagarin´mit seiner Kindereisenbahn, biegen wir in die Hauptstraße ein, und sogleich erhaschen wir einen freundlichen Willkommensgruß des bronzenen Wladimir Iljitsch, der hier auf Sachalin seine Rechte kokett an die Hüfte schmiegt, der Bildhauer Wutschetitsch hat es so gewollt. Doch gleichgültig, wo Lenin wie in Bronze gegossen oder in Stein gehauen wurde, er ist der meistübersetzte Autor der Welt; 1986 führte er mit dreihundertfünfundzwanzig Übersetzungen vor Agatha Christie (zweihunderteinundneunzig) und Jules Verne (zweihundertvierundzwanzig).

Kurz darauf halten wir auch schon vor unserem Hotel `Jushno-Sachalinsk´, das erdbebensicher gebaut ist, wie uns Iwan Bloussow mit einem beruhigenden Lächeln versichert. Dann bittet er uns in zwei Stunden zu Tisch ins zehn Fußminuten entfernte Restaurant `Sachalin´. Im dreistöckigen Hotel sind die Teppiche hochgerollt, Möbel in allen Ecken zusammengerückt, überall riecht es nach Farbe: In zwei Wochen, so hören wir, wird hier ein internationales Symposium stattfinden zur Erforschung der Ursachen von Erdbeben und starken seismischen Meereswellen.

Als wir 1987 das Inselgebiet besuchen, ist es noch Sperrgebiet, und Ausländer sind deshalb eine Rarität. Ungastlich mag oft die Insel, die Menschen scheinen es nicht zu sein. Es dauert wohl eine Stunde, bis wir unser Zimmer betreten können, was hier nicht mit übertriebenem Bürokratismus zu tun hat, sondern mit den vielen neugierigen Fragen des (russischen) Hotelpersonals nach unserem Woher und Wohin.

Auf dem Restauranttisch im `Sachalin´ dann: Tintenfisch in Mayonnaise, Meereskohl in Tomatensoße, Suppe mit Fischklößchen, Kraken-Salat und in Teig gebackene Kamm-Muscheln. All das außerordentlich schmackhaft – bis auf die Krakenkost, die mich daran erinnert, dass mein Trabbi neue Reifen braucht. Das Restaurant ist berstend voll, für uns jedoch vorsorglich ein Tisch reserviert. Das Völkergemisch, das die Insel prägt, prägt auch die Atmosphäre dieses Restaurants. Augenfällig viele langnasige Kaukasier lassen es sich hier schmecken, auffällig wenige breitnasige Niwchen. Als ich Iwan Beloussow danach befrage, schaut er sich um und sagt schmunzelnd: `Die Sie für Niwchen halten, sind Koreaner, sechsunddreißigtausend gibt es auf Sachalin.´ Ich beginne langsam zu ahnen, dass ich die angestammten Ainu, Niwchen (früher. Giljaken) und Oroken auf der langgestreckten Insel wie Nadeln im Heuhaufen suchen haben werde.

Aber wie kommen die vielen Koreaner nach Sachalin? Das sei, so erläutert unser bewanderter Begleiter, ohne einen blick in die hiesige Geschichte nicht so ohne weites zu begreifen: 1904 erklärte Japan Russland den Krieg und gewann ihn. Das Ergebnis war der Vertrag von Portsmouth, nach dem 1905 die südliche Hälfte der Insel an Japan fiel. 1920 nutzte Pajan die Schwäche Sowjetrusslands aus, um auch Nordsachalin zu besetzen; die ganze Insel verwandelte sich in eine japanische Kolonie. Fünf Jahre dauerte die Kolonisierung Nordsachalins, erst 1925 wurde hier die legitime Sowjetmacht wiederhergestellt. Der südliche teil der Insel jedoch blieb in der Gewalt der Japaner. `Tausende von Koreanern arbeiteten auf Südsachalin als Fremdarbeiter´, beendet Iwan Beloussow seinen historischen Exkurs. Ìm September 1945, nach der Kapitulation Japans, das Hitlerdeutschland aktiv unterstützt hatte, siegte die historische Gerechtigkeit, der 2. Januar 1947 ist das Geburtsdatum des Gebietes Sachalin. Viele Koreaner vertrauten auf die Sowjetmacht und blieben hier.´

Ich nutze die Pause zwischen den fischen Gängen, um der Antwort auf die Frage ein Stück näherzukommen, ob und inwiefern Iwan Beloussow ein `Heiliger´ ist.

`Mit siebzehn Jahren´, erzählt er uns, `damals wurde mein Vater als Offizier nach Sachalin versetzt, kam ich mit meinen Eltern hierher. Für mich stand fest, dass ich, sowie ich volljährig sein würde, zurück in das Gebiet Kursk gehe, ich bin dort in dem kleinen Dorf Nishne-Bobino geboren worden. Ich hatte ganz und gar nicht die Absicht, hier längere Zeit zu leben.´

Das ist fast vier Jahrzehnte her…

1950 begann Iwan Beloussow als Zuschläger und Holzfäller zu arbeiten, absolvierte dann die Seefahrtsschule, später studierte er in Jushno-Sachalins an der Staatlichen Pädagogischen Hochschule. `Als Held´, sagt er, `habe ich mich nie gefühlt, obwohl, es ist nicht zu übersehen, dass sich die `echten Sachaliner´ - die hier Geborenen oder seit Jahrzehnten hier Ansässigen – den Festlandbewohnern gegenüber ein bisschen überlegen fühlen, sicherlich durch die Tatsache, welchen Unbilden der Natur man sich hier auszusetzen hat. Zu der Zeit, da Anton Tschechow die Insel freiwillig aufsuchte, gehörte allerdings wirklich Heldentum dazu.´

Als der russische Schriftsteller und Arzt Anton Tschechow nach dreimonatiger strapaziöser Reise die Strafkolonie Sachalin erreichte, um die unmenschlichen Zustände zaristischen Strafvollzugs kennenzulernen und darüber zu schreiben, hatte die Insel bereits eine zweihundertfünfzigjährige Entdeckungsgeschichte hinter sich.“

(Text: Gisela Reller; Bild: Detlev Steinberg)

 

LESEPROBE aus „Von der Wolga bis zum Pazifik“: Insel der Tränen

 

„Nach der dreimonatigen Reise blieb Anton Tschechow dann noch drei Monate und drei Tage auf der Insel, was er übrigens `meinen kurzen Aufenthalt auf der Insel´ nennt. Da wir nur noch acht Tage zur Verfügung haben [Wir haben vorher in Wladiwostok recherchiert.], kann ich nicht einmal den ersten Abend ohne handfeste journalistische Ausbeite verstreichen lassen. Und da sich Iwan Beloussow als Mitautor des umfänglichen Buches `Das Inselgebiet Sachalin (im Moskauer Verlag `Mysl´ erschienen) entpuppt, ist es um ihn und – wie Nina Charitonowa [unsere Reisebegleiterin aus Moskau] argwöhnt – um unsere Gemütlichkeit an dem so reichlich gedeckten Tisch geschehen.

Die ersten, die auf dem Großen Ozean stießen und Sachalin den Namen `Land der Giljaken´ gaben, so erzählt uns Iwan Beloussow, waren im Jahre 1640 russische Kosaken unter Führung Iwan Moskwitins. Zu jener Zeit lebte die wenig zahlreiche angestammte Bevölkerung über die ganze Insel verstreut. Damals bestanden weder in Europa noch in Asien reale Vorstellungen über Sachalin und die Amurmündung. Sogar in Japan hatte man nur vage Vorstellungen vom benachbarten Sachalin – wie übrigens von anderen nördlichen Inseln auch. Dazumal war es den Japanern bei Todesstrafe oder ewiger Vertreibung aus der Heimat verboten, andere Länder aufzusuchen; diese Selbstisolierung Japans dauerte bis 1868.

Nach der Entdeckung Sachalins durch russische Kosaken wurde von der Bevölkerung schon bald der Jassak, eine Naturalsteuer, eingetrieben. In den Jahren 1655 und 1656 zum Beispiel nahmen Amur-Kosaken im `Land der Giljaken´ den Einheimischen 4 827 Zobelfelle und – zugleich auch – den Eid auf den Zaren ab. Dadurch war Sachalin Mitte des 17. Jahrhunderts faktisch an Russland angeschlossen.

Später stießen immer wieder Seeleute und Forschungsreisende bis Sachalin vor. Über alles gäbe es Interessantes und Abenteuerliches zu berichten. Mir aber hat es, wie Anton Tschechow auch, besonders Gennadi Newelskoi angetan, der kühne russische Seeoffizier und Erforscher des Fernen Ostens, der 1848 herausfand, dass Sachalin, bis dahin als Halbinsel angesehen, eine Insel ist; sogar Krusenstern, dem wir die erste Karte verdanken, auf der Sachalin insgesamt eingetragen ist, nahm an, Sachalin sei durch eine Landenge mit dem Festland verbunden.

`Newelskoi´, schreibt Anton Tschechow, `war ein energischer Mann von feurigem Temperament, gebildet, selbstlos, human, bis ins Mark von seiner Idee erfüllt und ihr fanatisch ergeben… An der Ostküste und auf Sachalin machte er im Laufe von nur fünf Jahren eine glänzende Karriere, verlor aber die Tochter, die vor Hunger starb, und seine Frau alterte und büßte ihre Gesundheit ein.´

Gennadi Newelskoi war der erste, und deshalb gerade bin ich ihm besonders zugetan, der sich um ein freundlich-freundschaftliches Verhältnis zu den Eingeborenen bemühte. Im Interesse der angestammten Bevölkerung schreckte er sogar vor einer Eigenmächtigkeit, die ihn fast seine `Karriere´- um mit Tschechow zu sprechen – gekostet hätte, nicht zurück: Ohne die Genehmigung des Zaren händigte er vielen ausländischen Kapitänen ein mit seiner Unterschrift versehenes Dokument aus, in dem es unter anderem hieß: `Im Namen der russischen Regierung wird durch selbiges Papier allen ausländischen Schiffen kundgetan, dass die Küste des Tatarensundes und das ganze am Amur gelegene Gebiet bis an die koreanische Grenze mit der Insel Sachalin russische Besitzungen darstellen, daß hieselbst keinerlei willkürliche Verfügungen ebenso wie auch keinerlei Kränkungen der hier lebenden Stämme zugelassen werden können.´

Nur allzu oft wurden  - zu damaliger Zeit, versteht sich – Denkmäler nur Männern gesetzt. Ich glaube, auch Frau Newelskaja hat Nachruhm verdient. Auch sie, die bei ihrer Ankunft auf Sachalin neunzehnjährige Jekaterina Iwanowna, behandelte die Einheimischen `schlicht und mit einer solchen Aufmerksamkeit, daß dies sogar den ungehobelten Wilden auffiel´, berichtet Leutnant Boschnjak, Newelskois engster Mitstreiter. Und weiter schreibt Boschnjak, dass er nie ein Wort der Klage oder des Vorwurfs von Frau Newelskaja gehört habe, im Gegenteil, sie trug mit ruhigem stolzen Bewusstsein jenes bittere, aber edle Los, das ihr durch die Ehe mit ihrem Mann zuteil geworden war. `Den Winter verbrachte sie meist allein, da die Männer in dienstlichem Auftrag unterwegs waren, im Zimmern mit fünf Grad Wärme. Als 1852 die Schiffe mit Proviant aus Kamtschatka ausblieben, befanden sich alle in einer mehr als verzweifelten Lage. Für die Säuglinge gab es keine Milch mehr, für die Kranken keine frische Nahrung, und mehrere Menschen starben an Skortbut. Frau Newelskaja stellte ihre einzige Kuh der Allgemeinheit zur Verfügung, und alles Frische kam der Allgemeinheit zugute.´ Und auch Newelskoi selbst erwähnt in seinen Aufzeichnungen das gute Verhältnis seiner Frau zu den Giljaken: `Jekaterina Iwanowna´, schreibt er, `ließ sie im einzigen Zimmer…, das uns als Salon, Empfangszimmer und Speisezimmer diente, im Kreise auf dem Fußboden Platz nehmen und setzte ihnen eine große Tasse Grütze oder Tee vor. Sie, denen diese Art der Bewirtung gut gefiel, tippten der Hausfrau alle Augenblicke auf die Schulter und hießen sie bald Tamtschi (Tabak), bald Tee holen.´

Als Gennadi Newelskoi 1953 den Militärposten Murawjewski (heute Korsakow) gründete, begegneten die Ainu – die südlichen Eingeborenen – den russischen Seeleuten ausgesprochen freundlich. Sie verbeugten sich vor ihnen und winkten mit Weidenzweigen, die am Ende wie Pinsel gespalten waren – ein Zeichen besonderer Gastfreundschaft. Aus Erfahrung wussten sie, dass

Er führte eine Deklaration des Zaren mit sich, in der es unter anderem hieß: "Die Insel Sachalin ist als Verlängerung des unteren Amur-Bassins als zu Rußland zugehörig anzusehen. Bereits Anfang des Jahrhunderts haben unsere udischen Tungusen (die Oroken) diese Insel besiedelt... Auch somit ist das Territorium der Insel Sachalin immer ein untrennbarer Bestandteil Rußlands gewesen.´

1869 erklärte die Zarenregierung diesen `untrennbaren Bestandteil Rußlands´ offiziell zur Sträflingsinsel. .

Auf die unmenschlichen Verhältnisse im zaristischen Strafvollzug im allgemeinen und auf die schrecklichen Zustände auf Sachalin im besonderen war Anton Tschechow durch seinen Bruder Michail, der sich as Jurastudent mit dem Kriminalrecht und dem zaristischen Gerichtswesen beschäftigte, aufmerksam geworden. Als er sich 1890 dreißig Jahre alt, auf den langen Weg machte war er bereits krank. Trotz seiner Tuberkulose schonte er sich keine Minute, um sein Ziel, die Zustände auf Sachalin wahrheitsgetreu darzustellen, zu erreichen. Nach seinem Aufenthalt `in der Hölle´ schrieb er den dokumentarisch-literarischen Reisebericht `Die Insel Sachalin´. Zutiefst bewegend erzählt Anton Tschechow von dem los der Sträflinge – teils wegen schwerer Verbrechen, oft aber auch nur wegen geringfügiger Vergehen oder falscher Anschuldigungen – zur Zwangsarbeit in der Verbannung – der Katorga – verurteilt. Viele waren Tag und Nacht mit Ketten an Händen und Füßen gefesselt oder an Karren geschmiedet, mussten schwerste körperliche Arbeit leisten bei Straßenbau und Holztransport verrichten, wurden völlig unzureichend ernährt, hausten unter unvorstellbaren hygienischen Bedingungen und wurden grausam ausgepeitscht. `Ich wohnte´, schreibt Tschechow, `einer Auspeitschung bei, nach der ich drei, vier Nächte von dem Henker und der widerlichen Strafbank träumte.´

Neben seinem Engagement für die Sträflinge beeindruckte mich vor allem, mit wie viel Unvoreingenommenheit und Anteilnahme Anton Tschechow über die einheimische Bevölkerung schreibt.

Der seinerzeit sehr bekannte Journalist Doroschewitsch kam sieben Jahre nach Tschechow auf die Insel. `Bis jetzt´, schrieb er, `gibt es für mich kein Verbrechen, das es rechtfertigt, mit Sachaliner Zwangsarbeit bestraft zu werden.´ Zar Nikolaus II. war da ganz anderer Meinung. Etwa aber 1900 verbannte er hierher wegen `Staatsverbrechen´ sogar politische Gefangene. Nach Informationen des Journalisten Sentschenko, der als erster Leben und Tätigkeit der politischen Gefangenen auf der Insel untersuchte, waren bis 1906 dreißigtausend `aktive Streiter gegen die Zarenwillkür´ Strafgefangene auf Sachalin. [Damals wusste ich nicht, dass es auch zu Stalins Zeiten auf Sachalin Lager gab: Von August 1948 bis November 1954 bestand in Ocha im Nordteil Sachalins ein Gefangenenlager mit bis zu 15 900 Personen, die unter anderem beim Bau von erdölverarbeitenden Betrieben und Pipelines eingesetzt wurden und von Mai 1950 bis April 1953 existierte ein Gefangenenlager mit bis zu 14 200 Inhaftierten im Zentralteil der Insel.]

Streiks der Gefangenen, Soldatenmeutereien und das Niederbrennen fast aller Gefängnisbauten im Oktober 1905 führten dazu, dass sich die Zarenregierung 1906 gezwungen sah, das Gesetz über die Abschaffung der Zwangsarbeit aufzunehmen.

Ich schaue mich im Restaurant um, blicke in die von Unterhaltung und Tanz – nicht vom Alkohol – angeregten Gesichter meiner Zeitgenossen. Wohl kaum einer von uns kann sich ein einziges Menschen alter später auch nur annähernd vorstellen, wie viel Leid und tränen dieses Stückchen Erde sah, heute von den meisten hier als Heimat geliebt – auch von Iwan Beloussow, der nicht Holzfäller blieb, nicht Matrose, nicht Lehrer, sondern auf der ehemaligen Katorga-Insel ein Dichter wurde, einer der den Fernen Osten in einem Gedicht besingt:

 

Braucht uns erst gar nicht den Süden zu rühmen - / all sein Komfort ist uns durchaus bekannt. / Wer hat gesagt, / dies hier sei `kein Klima´? / Klima entsteht auch durch Menschenhand. //“

(Nachgedichtet von Johann Warkentin)

 

LESEPROBE aus „Von der Wolga bis zum Pazifik“: Insel teurer Häuser

 

Seiner

 

 

 

 

 

LESEPROBE aus „Von der Wolga bis zum Pazifik“: Insel der Barmherzigkeit

 

Über den Charakter der Giljaken äußern sich die Autoren verschieden, aber alle sind sich darin einig, daß dieses Volk nicht kampflustig ist, keine Streitigkeiten und Schlägereien liebt und sich gut mit seinen Nachbarn verträgt. Gegenüber neuangekommenen Menschen waren sie immer misstrauisch, sie fürchteten für ihre Zukunft, aber sie begegneten ihnen jedes Mal liebenswürdig, ohne den kleinsten Protest, sie logen höchstens, wenn sie Sachalin in den düstersten Farben schilderten, um damit die Ausländer von der Insel fernzuhalten.

Anton Tschechow 1890

 

Aus Nekrassowka zurückgekehrt, überlege ich mir, wie die Niwchen denn `eigentlich so sind…´ Ja, wie sind sie? Noch immer misstrauisch Neuangekommenen gegenüber, noch immer liebenswürdig, gar nicht kampflustig und äußerst verträglich. Versuche ich, die Niwchen zu charakterisieren, so drängt sich mir immer wieder ein Wort auf, das Wort Barmherzigkeit. `Barmherzigkeit´, ein für die meisten Menschen altmodischer, unpopulärer, ja von unserem Leben aufgegebener Begriff. Etwas, das nur mehr der Vergangenheit angehört. `Barmherzige Schwester´, `barmherziger Bruder´- selbst das Wörterbuch gibt diese Begriffe als ´veraltet´ an´, schreibt Daniil Granin. Das tun unserer Wörterbücher nun zwar nicht, dafür zählt jedoch das „Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache“ das Wort `Barmherzigkeit´ zur gehobenen Stilebene. Für die Niwchen, jedenfalls für die, die wir im Dörfchen Nekrassowka kennenlernen, ist diese Charaktereigenschaft weder veraltet noch dichterisch, sondern alltägliches Umgehen von Mensch zu Mensch, von Mensch zur Kreatur, zur Ernährerin Natur. Viele Märchen und Sagen der Niwchen spiegeln eine Epoche wider, in der Naturkatastrophen das Antlitz Sachalins schroff veränderten. Wie sollten es sich die Niwchen anders erklären, als durch die Taten guter und böser Geister, wenn sich die Umrisse der Berge und Küsten veränderten, warme Seen entstanden, von Felsen eingefasste Buchten sich unerträglich erhitzten? So schwer es die Menschen damals auch hatten und sie vieles ihnen auch unerklärlich schien, ihr Vertrauen in die Ernährerin Natur war fest und unerschütterlich.

Kein Niwche ist mir vorstellbar, der mitleidlos an etwas Hilfsbedürftigem vorbeigeht, sei es nun ein Mensch oder ein Tier. Und hätten Millionen Menschen auf der Welt von den wenigen tausend Niwchen nur zu lernen, statt Gleichgültigkeit und Herzlosigkeit wieder Mitgefühl allem Lebenden gegenüber zur Norm zu machen.

1982 habe ich in Leningrad Professor Dmitri Lichatschow, einen der prominentesten sowjetischen Wissenschaftler, kennengelernt. Er ist seit fünfzig Jahren am Institut für Russische Literatur in Moskau tätig, davon zweiunddreißig Jahre lang als Leiter des Sektors Altrussische Literatur. Mich interessierten damals seine Gedanken über den russischen Nationalcharakter. In meinem Notizbuch finde ich über dieses Thema hinaus seine Sätze: `Nationale Eigenschaften sind eine unleugbare Tatsache. Das Vorhandensein eines Nationalcharakters, die nationale Individualität negieren, hieße die Menschenwelt sehr einförmig und reizlos darstellen´ Und: `Die Stärke eines Volkes ist nicht unbedingt an seiner zahlenmäßigen Stärke abzulesen. Nicht die Anzahl der Angehörigen des jeweiligen Volkes entscheidet, sondern die Standhaftigkeit seiner nationalen Traditionen.´

Wie ausgeprägt sind sie bei den Niwchen von heute?

Wladimir Sangi, der erste Schriftsteller der Niwchen, empfängt uns bei einer späteren Reise nach Moskau im blauen Taiman, einer Art Hauskittel aus Fischhaut, am Grütel ein mit niwchischen Ornamenten besticktes Beutelchen, einen Cerdolik, angefertigt noch von der Großmutter. In solchen Beutelchen bewahr(t)en die Niwchen Steinchen auf, die von Generation zu Generation an den jeweiligen Stammhalter weitergereicht werden, Wladimir hat zwei solcher gelb-durchsichtigen Steinchen, beide etwa vierhundert Jahre alt. Ich will meinen Augen und Ohren nicht trauen, als er mir eines davon als Geschenk überreicht. Ich entschließe mich erst, diese für mich unfassbare Gabe anzunehmen, nachdem mir Wladimir Sange diese Geschichte erzählt hat: ´Bei den Niwchen ist es Tradition, einem verehrten Gast einen Schlittenhund zu schenken. Als eines Tages Tschingis Aitmatow bei mir zu Besuch weilte, wusste ich nicht, was ich ihm schenken sollte, denn ich habe doch in Moskau keine Schlittenhunde. Da fiel mir ein, dem kyrgysischen Schriftsteller eine wahre niwchische Geschichte zu schenken. Tschingis Aitmatow schrieb daraufhin die Novelle `Scheckiger Hund, der am Meer entlangläuft´ (Tschingis Aitmatow übrigens hat dieser Geschichte, 1980 im Berliner Verlag Volk und Welt erschienen, eine Widmung vorangestellt, eine Widmung für Wladimir Sangi.)

Den zweiten Stein wird eines Tages Poswein erhalten, der elfjährige Sohn, der heute schon, so sein stolzer Vater, allein auf Bärenjagd gehen könnte. Sie Tochter Aniva, sie heißt nach einem Meerbusen auf Sachalin, ist dreizehn Jahre alt. Über sein Leben erzählt mir der Dreiundfünfzigjährige

 

 

LESEPROBE aus „Von der Wolga bis zum Pazifik“: Insel der Enkel

 

Bis zum Jahre 1888 war den Personen, die die Bauernrechte erhalten hatten, das Verlassen Sachalins verboten. Dieses Verbot, das den Sachalinern jede Hoffnung auf ein besseres Leben nahm, flößte den Menschen Haß gegen Sachalin ein und konnte als Strafmaßnahme nur die Zahl der Fluchten, Verbrechen und Selbstmorde erhöhen… das Verbleiben auf Lebenszeit in den Kolonien und deren Aufblühen hängen nicht von Verboten oder Befehlen an, sondern von dem Vorhandensein von Bedingungen, die , wenn nicht den Verbannten selbst, so doch deren Kindern und Enkeln ein ruhiges und gesichertes Leben garantieren.

Anton Tschechow, 1890

 

„Die Menschen, die heute auf Sachalin leben, könnten die von Tschechow zitierten Kinder und Enkel sein. Und sie alle sind – ob sie wollen oder nicht – mit der Umgestaltung konfrontiert. Wobei mir Ùmgestaltung für die russische Vokabel `Perestroika´ nicht ganz ausreichend zu sein scheint. Schlägt man ein x-beliebiges russisch-deutsches Wörterbuch auf, so ist´s bei Perestroika mit Umgestaltung allein nicht getan. Es kann drüber hinaus heißen: Umbau, Rekonstruktion, Reorganisation, ideologische Umstellung…

Nur Umgestaltung? Nein, da ist eine Menge mehr an Flair…

(…)

Es ist wohl an die zehn Jahre her, als ich für mich entdeckte, dass die Namen vieler sowjetischer Völker übersetzt in unsere Sprache `Mensch´ bedeuten. Nenze, Ainu, Niwche zum Beispiel heißt übersetzt Mensch, und Tschuktsche  heißt übersetzt aus paläoasiatischer Sprache gar `wahrer Mensch´. Einige sowjetische Völker heißen schon Jahrhunderte so, einige wählten die Bezeichnung `Mensch´ nach der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution. So wichtig war und ist den kleinen und kleinsten Völkern ihr Menschsein, ihre Menschlichkeit, ihre Menschenwürde.

(…)

Stets machen wir einen Abschiedsbummel durch die uns meist liebgewordene Stadt, bevor wir wieder zurück in die Heimat fliegen. So auch in Jushno-Sachalinsk, wo wir zum Abschluss unseres Aufenthaltes noch ins Theater gehen wollen.

(…)

Jushno-Sachalinsk hat, wie schon erwähnt, ein Puppentheater, außerdem ein Schauspielhaus, in dem gerade das Orenburger Dramatische Theater `Maxim Gorki´gastiert. Das Sachaliner Ensemble `Anton Tschechow ´ist in den Norden Sachalins gereist, spielt dort vorrangig vor Erdölarbeitern. Da solche Tourneen und Gastspiele durchaus üblich sind in der Sowjetunion, kommt bestimmt auch in den kleinsten Ort irgendwann einmal ein Theaterensemble, was dann für die Einwohner ein großes Ereignis ist.

 

 

 

 

 

 

 

Rezensionen und Literaturhinweise (Auswahl) zu den NIWCHEN

 

 

Rezension in meiner Webseite www.reller-rezensionen.de

 

* KATEGORIE REISELITERATUR/BILDBÄNDE: Edeltraud Maier-Lutz, Flußkreuzfahrten in Rußland, Unterweg auf Wolga, Don, Jenissej und Lena, Tresch

 

Literaturhinweise (Auswahl)

 

Andreas Frings, Sowjetische Schriftpolitik zwischen 1917 und 1941, Eine handlungstheoretische Analyse, Franz Steiner Verlag, 2007. In diesem Buch geht es um die frühe Sowjetunion und ihre nationalen Alphabete. Selbst die großen Sprachgruppen, die bereits vor 1917 verschriftet waren (etwa die Turksprachen) wurden in den 1920er Jahren zunächst latinisiert und Ende der 1930er Jahre dem kyrillischen Alphabet angeglichen. Warum wechselte Moskau von tradierten Alphabeten zum lateinischen Alphabet und warum ging man nur kurze Zeit später zum kyrillischen Alphabet über?

* Die Sonnentochter und andere Märchen der Tundra, darin die niwchischen Märchen "Der Mann, der die Herren des Meeres erzürnte" und "Der Bär und das Eichhörnchen", Die von Margarete Spady übersetzten Märchen wurden von Lieselotte Fleck nacherzählt, Zeichnungen: N. G. Basmanowa, Verlag Kultur und Fortschritt, Berlin 1954.

 

Von 1953 bis 1956 habe ich im Berliner Verlag Kultur und Fortschritt Verlagsbuchhändlerin gelernt. Als 1954 "Die Sonnentochter und andere Märchen der Tundra" erschien, erfuhr ich das erste Mal von Völkern wie   Eskimos, Ewenen, Ewenken, Itelmenen [Kamtschadalen], Jakuten, Jukagiren, Keten, Korjaken, Mansen, Nanaier, Nenzen, Nganassanen, Niwchen,  Oroken,  Saamen [Lappen], Selkupen, Tschuktschen, Udehen. Ich war fasziniert! Es sollte dann noch fast ein Vierteljahrhundert vergehen, bis ich die Lebensorte dieser Völker als Journalistin der Illustrierten FREIE WELT selbst bereiste.                                                                                                                                                                         Gisela Reller

* Märchen der Nordvölker, Die Herrin des Feuers, Verlag Progreß, Moskau 1974 (in deutscher Sprache).

Darin auch Märchen der Niwchen.

 

* Märchen der Völker des Nordens, Der Rabe Kutcha, Verlag Malysch, Moskau 1976 (in deutscher Sprache).

Von den fernen Küsten der eisigen Meere des Nordens, aus den Weiten der Tundra, aus der Taigawildnis und von den Ufern der riesigen sibirischen Ströme kommen diese niwchischen Märchen, deren Helden Tiere sind.

 

* Märchen aus dem hohen Norden der Sowjetunion, Die Kranichfeder, Für Kinder nacherzählt von N. Gesse und S. Sadunaiskaja, Mit Illustrationen von Manfred Butzmann, 4. Auflage, Der Kinderbuchverlag, Berlin 1983.

Jäger und Rentierzüchter sind die Helden dieser Märchen. Sie fahren mit dem Schneesturm um die Wette, ringen mit eisernen Ungeheuern, messen ihre Kräfte mit Waldriesen und verehren die Herrin des Feuers. Vielfältig spiegelt sich das Leben der Völker aus dem hohen Norden in seiner reichen Folklore, auch das der Niwchen.

 

 

 

 

 

1. Streifenornament

 

 

 

 

 

Bibliographie zu Gisela Reller

 

Bücher als Autorin:

 

Länderbücher:

 

*  Zwischen Weißem Meer und Baikalsee, Bei den Burjaten, Adygen und Kareliern,  Verlag Neues Leben, Berlin 1981, mit Fotos von Heinz Krüger und Zeichnungen von Karl-Heinz Döhring.

 

* Diesseits und jenseits des Polarkreises, bei den Südosseten, Karakalpaken, Tschuktschen und asiatischen Eskimos, Verlag Neues Leben, Berlin 1985, mit Fotos von Heinz Krüger und Detlev Steinberg und Zeichnungen von Karl-Heinz Döhring.

 

* Von der Wolga bis zum Pazifik, bei Tuwinern, Kalmyken, Niwchen und Oroken, Verlag der Nation, Berlin 1990, 236 Seiten mit Fotos von Detlev Steinberg und Zeichnungen von Karl-Heinz Döhring.

 

Biographie:

 

* Pater Maksimylian Kolbe, Guardian von Niepokalanów und Auschwitzhäftling Nr. 16 670, Union Verlag, Berlin 1984, 2. Auflage.

 

 

... als Herausgeberin:

 

Sprichwörterbücher:

 

* Aus Tränen baut man keinen Turm, ein kaukasischer Spruchbeutel, Weisheiten der Adygen, Dagestaner und Osseten, Eulenspiegel Verlag Berlin in zwei Auflagen (1983 und 1985), von mir übersetzt und herausgegeben, illustriert von Wolfgang Würfel.

* Dein Freund ist dein Spiegel, ein Sprichwörter-Büchlein mit 111 Sprichwörtern der Adygen, Dagestaner Kalmyken, Karakalpaken, Karelier, Osseten, Tschuktschen und Tuwiner, von mir gesammelt und zusammengestellt, mit einer Vorbemerkung und ethnographischen Zwischentexten versehen, die Illustrationen stammen von Karl Fischer, die Gestaltung von Horst Wustrau, Herausgeber ist die Redaktion FREIE WELT, Berlin 1986.

 * Liebe auf Russisch, ein in Leder gebundenes Mini-Bändchen im Schuber mit Sprichwörtern zum Thema „Liebe“, Buchverlag Der Morgen, Berlin 1990, von mir (nach einer Interlinearübersetzung von Gertraud Ettrich) in Sprichwortform gebracht, herausgegeben und mit einem Nachwort versehen, illustriert von Annette Fritzsch.

Aphorismenbuch:

* 666 und sex mal Liebe, Auserlesenes, 2. Auflage, Mitteldeutscher Verlag Halle/Leipzig, 200 Seiten mit Vignetten und Illustrationen von Egbert Herfurth.

 

... als Mitautorin:

 

Kinderbücher:

 

* Warum? Weshalb? Wieso?, Ein Frage-und-Antwort-Buch für Kinder, Band 1 bis 5, Herausgegeben von Carola Hendel, reich illustriert, Verlag Junge Welt, Berlin 1981 -1989.

 

Sachbuch:

 

* Die Stunde Null, Tatsachenberichte über tapfere Menschen in den letzten Tagen des zweiten Weltkrieges, Hrsg. Ursula Höntsch, Verlag der Nation 1966.

 

 

... als Verantwortliche Redakteurin:

 

* Leben mit der Erinnerung, Jüdische Geschichte in Prenzlauer Berg, Edition  Hentrich, Berlin 1997, mit zahlreichen Illustrationen.

 

* HANDSCHLAG, Vierteljahreszeitung für deutsche Minderheiten im Ausland, Herausgegeben vom Kuratorium zur kulturellen Unterstützung deutscher Minderheiten im Ausland e. V., Berlin 1991 - 1993.

 

 

2. Streifenornament

 

 

 

 

 

Pressezitate (Auswahl) zu Gisela Rellers Buchveröffentlichungen:

Dieter Wende in der „Wochenpost“ Nr. 15/1985:

„Es ist schon eigenartig, wenn man in der Wüste Kysyl-Kum von einem Kamelzüchter gefragt wird: `Kennen Sie Gisela Reller?´ Es ist schwer, dieser Autorin in entlegenen sowjetischen Regionen zuvorzukommen. Diesmal nun legt sie mit ihrem Buch Von der Wolga bis zum Pazifik Berichte aus Kalmykien, Tuwa und von der Insel Sachalin vor. Liebevolle und sehr detailgetreue Berichte auch vom Schicksal kleiner Völker. Die ethnografisch erfahrene Journalistin serviert Besonderes. Ihre Erzählungen vermitteln auch Hintergründe über die Verfehlungen bei der Lösung des Nationalitätenproblems.“

B(erliner) Z(eitung) am Abend vom 24. September 1981:

"Gisela Reller, Mitarbeiterin der Ilustrierten FREIE WELT, hat autonome Republiken und gebiete kleiner sowjetischer Nationalitäten bereist: die der Burjaten, Adygen und Karelier. Was sie dort ... erlebte und was Heinz Krüger fotografierte, ergíbt den informativen, soeben erschienenen Band Zwischen Weißem Meer und Baikalsee."

Sowjetliteratur (Moskau)Nr. 9/1982:

 "(...) Das ist eine lebendige, lockere Erzählung über das Gesehene und Erlebte, verflochten mit dem reichhaltigen, aber sehr geschickt und unaufdringlich dargebotenen Tatsachenmaterial. (...) Allerdings verstehe ich sehr gut, wie viel Gisela Reller vor jeder ihrer Reisen nachgelesen hat und wie viel Zeit nach der Rückkehr die Bearbeitung des gesammelten Materials erforderte. Zugleich ist es ihr aber gelungen, die Frische des ersten `Blickes´ zu bewahren und dem Leser packend das Gesehene und Erlebte mitzuteilen. (...) Es ist ziemlich lehrreich - ich verwende bewusst dieses Wort: Vieles, was wir im eigenen Lande als selbstverständlich aufnehmen, woran wir uns ja gewöhnt haben und was sich unserer Aufmerksamkeit oft entzieht, eröffnet sich für einen Ausländer, sei es auch als Reisender, der wiederholt in unserem Lande weilt, sozusagen in neuen Aspekten, in neuen Farben und besitzt einen besonderen Wert. (...) Mir gefällt ganz besonders, wie gekonnt sich die Autorin an literarischen Quellen, an die Folklore wendet, wie sie in den Text ihres Buches Gedichte russischer Klassiker und auch wenig bekannter nationaler Autoren, Zitate aus literarischen Werken, Märchen, Anekdoten, selbst Witze einfügt. Ein treffender während der Reise gehörter Witz oder Trinkspruch verleihen dem Text eine besondere Würze. (...) Doch das Wichtigste im Buch Zwischen Weißem Meer und Baikalsee sind die Menschen, mit denen Gisela Reller auf ihren Reisen zusammenkam. Unterschiedlich im Alter und Beruf, verschieden ihrem Charakter und Bildungsgrad nach sind diese Menschen, aber über sie alle vermag die Autorin kurz und treffend mit Interesse und Sympathie zu berichten. (...)"

Neue Zeit vom 18. April 1983:

„In ihrer biographischen Skizze über den polnischen Pater Maksymilian Kolbe schreibt Gisela Reller (2. Auflage 1983) mit Sachkenntnis und Engagement über das Leben und Sterben dieses außergewöhnlichen Paters, der für den Familienvater Franciszek Gajowniczek freiwillig in den Hungerbunker von Auschwitz ging.“

Der Morgen vom 7. Februar 1984:

„`Reize lieber einen Bären als einen Mann aus den Bergen´. Durch die Sprüche des Kaukasischen Spruchbeutels weht der raue Wind des Kaukasus. Der Spruchbeutel erzählt auch von Mentalitäten, Eigensinnigkeiten und Bräuchen der Adygen, Osseten und Dagestaner. Die Achtung vor den Alten, die schwere Stellung der Frau, das lebensnotwendige Verhältnis zu den Tieren. Gisela Reller hat klug ausgewählt.“

1985 auf dem Solidaritätsbasar auf dem Berliner Alexanderplatz: Gisela Reller (vorne links) verkauft ihren „Kaukasischen Spruchbeutel“ und 1986 das extra für den Solidaritätsbasar von ihr herausgegebene Sprichwörterbuch „Dein Freund ist Dein Spiegel“.

Foto: Alfred Paszkowiak

 Neues Deutschland vom 15./16. März 1986:

"Vor allem der an Geschichte, Bräuchen, Nationalliteratur und Volkskunst interessierte Leser wird manches bisher `Ungehörte´ finden. Er erfährt, warum im Kaukasus noch heute viele Frauen ein Leben lang Schwarz tragen und was es mit dem `Ossetenbräu´ auf sich hat, weshalb noch 1978 in Nukus ein Eisenbahnzug Aufsehen erregte und dass vor Jahrhunderten um den Aralsee fruchtbares Kulturland war, dass die Tschuktschen vier Begriff für `Freundschaft´, aber kein Wort für Krieg besitzen und was ein Parteisekretär in Anadyr als notwendigen Komfort, was als entbehrlichen Luxus ansieht. Großes Lob verdient der Verlag für die großzügige Ausstattung von Diesseits und jenseits des Polarkreises.“

 

 Gisela Reller während einer ihrer über achthundert Buchlesungen

in der Zeit von 1981 bis 1991.

 

Berliner Zeitung vom 2./3. Januar 1988:

„Gisela Reller hat klassisch-deutsche und DDR-Literatur auf Liebeserfahrungen durchforscht und ist in ihrem Buch 666 und sex mal Liebe 666 und sex mal fündig geworden. Sexisch illustriert, hat der Mitteldeutsche Verlag Halle alles zu einem hübschen Bändchen zusammengefügt.“

Neue Berliner Illustrierte (NBI) Nr. 7/88:

„Zu dem wohl jeden bewegenden Thema finden sich auf 198 Seiten 666 und sex mal Liebe mannigfache Gedanken von Literaten, die heute unter uns leben, sowie von Persönlichkeiten, die sich vor mehreren Jahrhunderten dazu äußerten.“

Das Magazin Nr. 5/88.

"`Man gewöhnt sich daran, die Frauen in solche zu unterscheiden, die schon bewusstlos sind, und solche, die erst dazu gemacht werden müssen. Jene stehen höher und gebieten dem Gedenken. Diese sind interessanter und dienen der Lust. Dort ist die Liebe Andacht und Opfer, hier Sieg und Beute.´ Den Aphorismus von Karl Kraus entnahmen wir dem Band 666 und sex mal Liebe, herausgegeben von Gisela Reller und illustriert von Egbert Herfurth."

 

Schutzumschlag zum „Buch 666 und sex mal Liebe“ .

Zeichnung: Egbert Herfurth

 

FÜR DICH, Nr. 34/89:

 

"Dem beliebten Büchlein 666 und sex mal Liebe entnahmen wir die philosophischen und frechen Sprüche für unser Poster, das Sie auf dem Berliner Solidaritätsbasar kaufen können. Gisela Reller hat die literarischen Äußerungen zum Thema Liebe gesammelt, Egbert Herfurth hat sie trefflich illustriert."

Messe-Börsenblatt, Frühjahr 1989:

"Die Autorin – langjährige erfolgreiche Reporterin der FREIEN WELT - ist bekannt geworden durch ihre Bücher Zwischen Weißem Meer und Baikalsee und Diesseits und jenseits des Polarkreises. Diesmal schreibt die intime Kennerin der Sowjetunion in ihrem Buch Von der Wolga bis zum Pazifik über die Kalmyken, Tuwiner und die Bewohner von Sachalin, also wieder über Nationalitäten und Völkerschaften. Ihre Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft wird uns in fesselnden Erlebnisberichten nahegebracht."

Im Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel schrieb ich in der Ausgabe 49 vom 7. Dezember 1982 unter der Überschrift „Was für ein Gefühl, wenn Zuhörer Schlange stehen“:

„Zu den diesjährigen Tagen des sowjetischen Buches habe ich mit dem Buch Zwischen Weißem Meer und Baikalsee mehr als zwanzig Lesungen bestritten. (…) Ich las vor einem Kreis von vier Personen (in Klosterfelde) und vor 75 Mitgliedern einer DSF-Gruppe in Finow; meine jüngsten Zuhörer waren Blumberger Schüler einer 4. Klasse, meine älteste Zuhörerin (im Schwedter Alten- und Pflegeheim) fast 80 Jahre alt. Ich las z.B. im Walzwerk Finow, im Halbleiterwerk Frankfurt/Oder, im Petrolchemischen Kombinat Schwedt; vor KIM-Eiersortierern in Mehrow, vor LPG-Bauern in Hermersdorf, Obersdorf und Bollersdorf; vor zukünftigen Offizieren in Zschopau; vor Forstlehrlingen in Waldfrieden; vor Lehrlingen für Getreidewirtschaft in Kamenz, vor Schülern einer 7., 8. und 10 Klasse in Bernau, Schönow und Berlin; vor Pädagogen in Berlin, Wandlitz, Eberswalde. - Ich weiß nicht, was mir mehr Spaß gemacht hat, für eine 10. Klasse eine Geographiestunde über die Sowjetunion einmal ganz anders zu gestalten oder Lehrern zu beweisen, dass nicht einmal sie alles über die Sowjetunion wissen – was bei meiner Thematik – `Die kleinen sowjetischen Völkerschaften!´ – gar nicht schwer zu machen ist. Wer schon kennt sich aus mit Awaren und Adsharen, Ewenken und Ewenen, Oroken und Orotschen, mit Alëuten, Tabassaranern, Korjaken, Itelmenen, Kareliern… Vielleicht habe ich es leichter, Zugang zu finden als mancher Autor, der `nur´ sein Buch oder Manuskript im Reisegepäck hat. Ich nämlich schleppe zum `Anfüttern´ stets ein vollgepacktes Köfferchen mit, darin von der Tschuktschenhalbinsel ein echter Walrosselfenbein-Stoßzahn, Karelische Birke, burjatischer Halbedelstein, jakutische Rentierfellbilder, eskimoische Kettenanhänger aus Robbenfell, einen adygeischen Dolch, eine karakalpakische Tjubetejka, der Zahn eines Grauwals, den wir als FREIE WELT-Reporter mit harpuniert haben… - Schön, wenn alles das ganz aufmerksam betrachtet und behutsam befühlt wird und dadurch aufschließt für die nächste Leseprobe. Schön auch, wenn man schichtmüde Männer nach der Veranstaltung sagen hört: `Mensch, die Sowjetunion ist ja interessanter, als ich gedacht habe.´ Oder: `Die haben ja in den fünfundsechzig Jahren mit den `wilden´ Tschuktschen ein richtiges Wunder vollbracht.´ Besonders schön, wenn es gelingt, das `Sowjetische Wunder´ auch denjenigen nahezubringen, die zunächst nur aus Kollektivgeist mit ihrer Brigade mitgegangen sind. Und: Was für ein Gefühl, nach der Lesung Menschen Schlange stehen zu sehen, um sich für das einzige Bibliotheksbuch vormerken zu lassen. (Schade, wenn man Kauflustigen sagen muss, dass das Buch bereits vergriffen ist.) – Dank sei allen gesagt, die sich um das zustande kommen von Buchlesungen mühen – den Gewerkschaftsbibliothekaren der Betriebe, den Stadt- und Kreisbibliothekaren, den Buchhändlern, die oft aufgeregter sind als der Autor, in Sorge, `dass auch ja alles klappt´. – Für mich hat es `geklappt´, wenn ich Informationen und Unterhaltung gegeben habe und Anregungen für mein nächstes Buch mitnehmen konnte.“

 

Die Rechtschreibung der Texte wurde behutsam der letzten Rechtschreibreform angepasst.

Die NIWCHEN wurden am 20.12.2014 ins Netz gestellt. Die letzte Bearbeitung erfolgte am 20.01.2016.

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Zeichnung: Karl-Heinz Döhring