Vorab!

Leider kommt im Internet bei meinem (inzwischen veralteten) FrontPage-Programm  längst nicht alles so, wie von mir in html angegeben. Farben kommen anders, als von mir geplant, Satzbreiten wollen nicht so wie von mir markiert, Bilder kommen manchmal an der falschen  Stelle, und - wenn  ich  Pech  habe  -  erscheint  statt  des  Bildes  gar  eine  Leerstelle.

Was tun? Wer kann helfen?

 

*

Wird laufend bearbeitet!

 

 

Wir sind KARATSCHAIER: Mitglieder des Folkloreensembles "Elbrus".

 

 

 

Foto aus: Rellers Völkerschafts-Archiv

 

Zeichnung: Karl-Heinz Döhring

 

"Die Seele, denke ich, hat keine Nationalität."

Juri Rytchëu (tschuktschischer Schriftsteller, 1930 bis 2008) in: Im Spiegel des Vergessens, 2007

 

Wenn wir für das eine Volk eine Zuneigung oder gegen das andere eine Abneigung hegen, so beruht das, ob wir uns dessen bewusst sind oder nicht, auf dem, was wir von dem jeweiligen Volk wissen oder zu wissen glauben. Das ist – seien wir ehrlich – oft sehr wenig, und manchmal ist dieses Wenige auch noch falsch.  

Ich habe für die Berliner Illustrierte FREIE WELT jahrelang die Sowjetunion bereist, um – am liebsten - über abwegige Themen zu berichten: über Hypnopädie und Suggestopädie, über Geschlechtsumwandlung und Seelenspionage, über Akzeleration und geschlechtsspezifisches Kinderspielzeug... Außerdem habe ich mit jeweils einem deutschen und einem Wissenschaftler aus dem weiten Sowjetland vielteilige Lehrgänge erarbeitet.* Ein sehr interessantes Arbeitsgebiet! Doch 1973, am letzten Abend meiner Reise nach Nowosibirsk – ich hatte viele Termine in Akademgorodok, der russischen Stadt der Wissenschaften – machte ich einen Abendspaziergang entlang des Ob. Und plötzlich wurde mir klar, dass ich zwar wieder viele Experten kennengelernt hatte, aber mit der einheimischen Bevölkerung kaum in Kontakt gekommen war.  

Da war in einem magischen Moment an einem großen sibirischen Fluss - Angesicht in Angesicht mit einem kleinen (grauen!) Eichhörnchen - die große FREIE WELT-Völkerschafts-Serie** geboren!  

Und nun reiste ich ab 1975 jahrzehntelang zu zahlreichen Völkern des Kaukasus, war bei vielen Völkern Sibiriens, war in Mittelasien, im hohen Norden, im Fernen Osten und immer wieder auch bei den Russen. 

Nach dem Zerfall der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken zog es mich – nach der wendegeschuldeten Einstellung der FREIEN WELT***, nun als Freie Reisejournalistin – weiterhin in die mir vertrauten Gefilde, bis ich eines Tages mehr über die westlichen Länder und Völker wissen wollte, die man mir als DDR-Bürgerin vorenthalten hatte.

Nach mehr als zwei Jahrzehnten ist nun mein Nachholebedarf erst einmal gedeckt, und ich habe das Bedürfnis, mich wieder meinen heißgeliebten Tschuktschen, Adygen, Niwchen, Kalmyken und Kumyken, Ewenen und Ewenken, Enzen und Nenzen... zuzuwenden

Deshalb werde ich meiner Webseite www.reller-rezensionen.de (mit inzwischen weit mehr als fünfhundert Rezensionen), die seit 2002 im Netz ist, ab 2013 meinen journalistischen Völkerschafts-Fundus von fast einhundert Völkern an die Seite stellen – mit ausführlichen geographischen und ethnographischen Texten, mit Reportagen, Interviews, Sprichwörtern, Märchen, Gedichten, Literaturhinweisen, Zitaten aus längst gelesenen und neu erschienenen Büchern; so manches davon, teils erstmals ins Deutsche übersetzt, war bis jetzt – ebenfalls wendegeschuldet – unveröffentlicht geblieben. 

Sollten sich in meinem Material Fehler oder Ungenauigkeiten eingeschlichen haben, teilen Sie mir diese bitte am liebsten in meinem Gästebuch oder per E-Mail gisela@reller-rezensionen.de mit. Überhaupt würde ich mich über eine Resonanz meiner Nutzer freuen!

Gisela Reller 

    * Lernen Sie Rationelles Lesen" / "Lernen Sie lernen" / "Lernen Sie reden" / "Lernen Sie essen" / "Lernen Sie, nicht zu rauchen" / "Lernen Sie schlafen" / "Lernen Sie logisches Denken"...

 

  ** Im 1999 erschienenen Buch „Zwischen `Mosaik´ und `Einheit´. Zeitschriften in der DDR“ von Simone Barck, Martina Langermann, Siegfried Lokatis (Hrsg.), erschienen im Berliner Ch. Links Verlag, ist eine Tabelle veröffentlicht, aus der hervorgeht, dass die Völkerschaftsserie der FREIEN WELT von neun vorgegebenen Themenkreisen an zweiter Stelle in der Gunst der Leser stand – nach „Gespräche mit Experten zu aktuellen Themen“.

(Quelle: ZA Universität Köln, Studie 6318)

 

*** Christa Wolf zur Einstellung der Illustrierten FREIE WELT in ihrem Buch "Auf dem Weg nach Tabou, Texte 1990-1994", Seite 53/54: „Aber auf keinen Fall möchte ich den Eindruck erwecken, in dieser Halbstadt werde nicht mehr gelacht. Im Gegenteil! Erzählt mir doch neulich ein Kollege aus meinem Verlag (Helmut Reller) – der natürlich wie zwei Drittel der Belegschaft längst entlassen ist –, daß nun auch seine Frau (Gisela Reller), langjährige Redakteurin einer Illustrierten (FREIE WELT) mitsamt der ganzen Redaktion gerade gekündigt sei: Die Zeitschrift werde eingestellt. Warum wir da so lachen mußten? Als im Jahr vor der `Wende´ die zuständige ZK-Abteilung sich dieser Zeitschrift entledigen wollte, weil sie, auf Berichterstattung aus der Sowjetunion spezialisiert, sich als zu anfällig erwiesen hatte, gegenüber Gorbatschows Perestroika, da hatten der Widerstand der Redaktion und die Solidarität vieler anderer Journalisten das Blatt retten können. Nun aber, da die `Presselandschaft´ der ehemaligen DDR, der `fünf neuen Bundesländer´, oder, wie der Bundesfinanzminister realitätsgerecht sagt: `des Beitrittsgebiets´, unter die vier großen westdeutschen Zeitungskonzerne aufgeteilt ist, weht ein schärferer Wind. Da wird kalkuliert und, wenn nötig, emotionslos amputiert. Wie auch die Lyrik meines Verlages (Aufbau-Verlag), auf die er sich bisher viel zugute hielt: Sie rechnet sich nicht und mußte aus dem Verlagsprogramm gestrichen werden. Mann, sage ich. Das hätte sich aber die Zensur früher nicht erlauben dürfen! – "Das hätten wir uns von der auch nicht gefallen lassen", sagt eine Verlagsmitarbeiterin.

Wo sie recht hat, hat sie recht.“

 

Zeichnung: Karl-Heinz Döhring

 

„Der Kaukasus -  eine der schönsten und imposantesten Gebirgslandschaften auf dieser Welt. Man unterscheidet zwischen dem Großen und dem Kleinen Kaukasus und dem Talysch-Gebirge. Unerschlossene Gebiete und grandiose Naturlandschaften bieten sich dem Urlauber. Insbesondere Bergsteiger, Skifahrer und Individualisten wird der Kaukasus begeistern.“

 Kulturland  Osteuropa vom 5. Mai 2011

 

 

Wenn Sie sich die folgenden Texte zu Gemüte geführt und Lust bekommen haben, den Kaukasus zu bereisen und auch die KARATSCHAIER kennenzulernen, sei Ihnen ? Reisen empfohlen; denn – so lautet ein karatschaiisches Sprichwort -

 

 

Bei einer Reise habe den Mut, für eine Weile alles hinter dir zu lassen, ohne zu wissen, was vor dir liegt.

 

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Die KARATSCHAIER… (Eigenbezeichnung: Karatschai)

Die zeitlich ersten Bewohner des heutigen Karatschai-Tscherkessiens waren die Karatschaier, dann kamen Tscherkessen (Adygen), Abasiner, Nogaier und schließlich, in der zweiten Hälfte des XIX. Jahrhunderts, auch russische Kosaken hinzu. Die Karatschaier haben sich als Ethnie im 13./14. Jahrhundert herausgebildet, sie zählen zu den Turkvölkern und sind mit den benachbarten Balkaren verwandt, von denen sie durch das Massiv des Elbrus (Kaukasus) räumlich getrennt sind.

Zitat: "Der Gebirgsrücken des Kaukasus ist der Rückgrat der kaukaischen Welt, das Knochengerüst für die Natur der Landschaft, der Nerv zum Fleisch und Blut der Bewohner."

Roderich von Erckert (1821-1900; deutscher Ethnograph, Kartograph und Offizier in russischen Diensten), Der Kaukasus und seine Völker, 1887

- Über die Abstammung der Karatschaier existieren verschiedene widersprüchliche Hypothesen. Wahrscheinlich sind die Karatschaier Nachkommen kumanischer und tatarischer Turkstämme. Der eigenen Tradition nach stammen sie jedoch von der Halbinsel Krim, bevor sie im 15. Jahrhundert in den Nordkaukasus abgedrängt wurden. Hier gerieten sie mit den Tscherkessen, später mit Kosaken um Weidegründe in Konflikt und zogen höher ins Bergland. Sie assimilierten Teile der ansässigen iranisch-alanischen und kaukasischsprachigen Bevölkerung.

"Am wahrscheinlichsten ist, dass ortsansäsige kaukasische Bergbewohner, die Kobanzy, die Vorfahren der Karatschaier sind, die allerdings ihre Sprache von türkischen Stämmen, insbesondere von den Kiptschaken, übernommen haben."

Marija Beitscharowa (Leiterin des Heimatkundemuseums in Tscherkessk), 1986

Karatschai-Tscherkessien - ein kaukasisches Hochgebirgsland - ist eine multinationale Republik. Hier leben nebeneinander Angehörige von etwa achtzig Nationalitäten. Zwei Glaubensbekenntnisse herrschen vor, nämlich das Christentum und der Islam. -  Karatschajo-Tscherkessien grenzt im Westen an die Region Krasnodar, im Norden an die Region Stawropol, im Osten an die Republik Kabardino-Balkarien, im Süden, entlang dem zentralen Gebirgskamm des Großen Kaukasus, an Abchasien und Georgien.

"Über die Abstammung der Karatschaier existieren verschiedene widersprüchliche Hypothesen. Am wahrscheinlichsten ist, dass ortsansässige kaukasische Bergbewohner, die Kobanzy, die Vorfahren der Karatschaier sind, die allerdings ihre Sprache von türkischen Stämmen, insbesondere von Kiptschaken, übernahmen."

Die Karatschaierin Marija Beitscharowa, Leiterin des Heimatkundemuseums von Tscherkessk, 1987

Bevölkerung: Nach der Volkszählung von 1926 zählten die Karatschaier 55 116 Angehörige; 1939  wurden  74 488  Karatschaier  gezählt; 1959  waren es 70 537 Karatschaier; 1970 gleich 106 831; 1979 gleich 125 792; 1989 gleich 150 332; 2002 gleich 192 182;  nach der letzten Volkszählung von 2010 gaben sich 218 403 Personen als Karatschaier aus. - Die Titularnationen bestehen aus zwei ethnisch nicht verwandten Völkern.

"Der Nordkaukasus stellt, was Natur, Geschichte und besonders die ethnische Zusammensetzung der Bevölkerung anbelangt, eine außergewöhnlich interessante Region dar. Hier leben nur 6 Prozent der sowjetischen Bevölkerung, der Zahl der Nationalitäten und Völkerschaften nach aber findet man seinesgleichen im Lande nicht. Besonders bunt ist die nationale Zusammensetzung in den Gebirgsgegenden. Kurz nach der Errichtung der Sowjetmacht wurden hier autonome Republiken und Gebiete gebildet. Eine autonome Republik - das ist ein gleichberechtigter Sowjetstaat, der auf der Grundlage politischer Autonomie im Bestand einer Unionsrepublik in die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken eingegliedert ist. Jede dieser Republiken ist im Nationalitätensowjet des Obersten Sowjets der UdSSR direkt durch 11 Abgeordnete vertreten, jedes autonome Gebiet durch 5, unabhängig von seiner Einwohnerzahl."

Aus: Sowjetliteratur 1/1972

Karatschaier leben heute vor allem in der zu Russland gehörenden Republik Karatschai-Tscherkessien und in der Region Stawropol. Hauptort ihres Siedlungsgebietes ist heute die Stadt Karatschajewsk.

Als Dorf Georgijewskoje gegründet, wurde das heutige Karatschajewsk 1926 nach dem Parteifunktionär und Politiker Anastas Mikojan in Mikojan-Schachar umbenannt. Mikojan war ein sowjetischer Politiker armenischer Herkunft, der unter Stalin und Chruschtschow mehrere Ministerposten innehatte. Unter der Ära Breshnews war er von 1964 bis 1965 als Vorsitzender des Präsidiums des Obersten Sowjets Staatsoberhaupt der Sowjetunion. (Sein Bruder war der Flugzeugkonstrukteur Artjom Mikojan.) 1929 wurde der Stadt unter dem Namen Mikojan-Schachar  das Stadtrecht verliehen. 1944 erfolgte die erneute Umbenennung in Kluchori (nach dem Kluchoripass über den Kaukasushauptkamm) bei gleichzeitigem Anschluss der Stadt und des umliegenden Gebietes an die Georgische SSR im Zusammenhang mit der Auflösung der Autonomen Republik und der Deportation der karatschaiischen Bevölkerung. 1957 erfolgte die Rückgabe an die Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik und die Stadt bekam nach dem Volk der Karatschaier ihren heutigen Namen. - In der zu Karatschajewsk gehörigen Siedlung Ordschonikidsewski befindet sich das Gedenkmuseum der Verteidiger der Kaukasuspässe, welches den Großen Vaterländischen Krieg thematisiert.

- Auf dem Gebiet der Karatschaier und Tscherkessen sind seit dem 14. Jahrhundert auch Abasiner und seit dem 17. Jahrhundert auch Nogaier ansässig, heute machen die Abasiner sieben Prozent der Bevölkerung aus, die Nogaier drei Prozent.

Fläche:  Die Fläche der Karatschaiisch-Tscherkessischen Republik beträgt 14 277 Quadratkilometer. Der größte Teil (rund 80 Prozent) liegt im Gebirge.

"Daher finden sich immer häufiger nordkaukasische Kulturvereine oder tscherkessische Vereine in Deutschland. Ihr Anliegen ist es, ihre Kultur und Sprache an die eigenen Kinder, aber auch ihrer neuen Heimat zu vermitteln. Tscherkessen wurden in der Diaspora und in all den Ländern, in denen sie Schutz, Aufnahme und eine neue Heimat gefunden haben, schnell loyale Bürger, ohne dabei ihre Herkunft zu vergessen."

Cem Özdemir, Bundesvorsitzender der Partei Bündnis 90/Die Grünen, 2013

Nach einem Jahr Pause haben die Tscherkessen (Adygejer) 2013 erneut am“ Karneval der Kulturen“ in

"Karatschai-Tscherkessien ist ein schöner Abschnitt nicht eben höchster, aber schwer zugänglicher Berggipfel. Hier entspringen dem zentralen Gebirgskamm des Großen Kaukasus die Flüsse Kuban, Selentschuk, Teberda… Zahllose Wasserfälle und Bäche rinnen von den Gletschern in die malerischen Täler hinunter. Hier sind antike Siedlungsstätten, Dolmen und die frühesten christlichen Kirchen des Landes erhalten geblieben. Bis heute kommen hier rätselhafte Naturerscheinungen vor. Hier befindet sich die bekannte Archys-Sternwarte, die am internationalen Programm `Suche nach außerirdischer Intelligenz´(SETI) beteiligt war."

Stimme Russlands vom 28.07.2009

Der Elbrus – die höchste Erhebung des Kaukasus und Europas überhaupt – befindet sich in der Republik Karatschajewo-Tscherkessk - im Siedlungsraum der Tscherkessen; er ist der Tscherkessen „heiliger Berg“.

Der Elbrus – etwa einhundert Kilometer westlich der kabardino-balkarischen Hauptstadt Naltschik gelegen - ist mit einer Höhe von 5 642 Metern der höchste Berg des Kaukasus (und Russlands). Die Grenze zwischen den Kaukasusrepubliken Kabardino-Balkarien und Karatschai-Tscherkessien verläuft über den Westgipfel des Elbrus, wobei der größte Teil des Bergmassivs in Kabardino-Balkarien liegt. Der Berg mit dem Doppelgipfel (Westgipfel 5 642 Meter, Ostgipfel 5 621 Meter) ist ein gegenwärtig inaktiver, stark vergletscherte Vulkan. Die Entfernung zwischen beiden Gipfeln beträgt 1 500 Meter. In der Antike war der Berg bekannt  als Strobilus, in der Mythologie als das Gefängnis des Prometheus, nachdem er den Menschen das Feuer gebracht hatte. – Da der Elbrus als Heiliger Berg gesehen wurde, galt seine Besteigung lange Zeit als tabu. Die Erstbesteigung des Ostgipfels erfolgte am 22. Juli 1829 durch den karatschaiischen Hirten und Träger Kilar Chatschirow. – Deutsche Gebirgsjäger der 1. und 4. Gebirgsdivision überschritten am 14. August 1942 den 4 000 Meter hohen Pass Khotiutau und acht Mann erreichten sogar den Westgipfel des Elbrus. Die Nachricht von der Besteigung des höchsten Berges des Kaukasus soll bei Hitler einen Wutausbruchausgelöst haben. Laut Albert Speers Erinnerungen schimpfte er über den „idiotischen Ehrgeiz, einen idiotischen Gipfel zu besteigen“, wo er doch befohlen hatte, alle Kräfte auf die Eroberung von Suchumi am Schwarzen Meer zu konzentrieren.

Geschichtliches: Die Vorfahren der Tscherkessen und Karatschaier sind schon seit alters auf ihrem heutigen Territorium ansässig - davon zeugen archäologische Funde aus der Steinzeit. Das Territorium der Karatschaier und Tscherkessen gehörte seit Ende des 1. Jahrtausends vor Christi zum Staat der Alanen. - Vom 14. bis 17. Jahrhundert war eine Massenübersiedlung der Abasiner aus Abchasien erfolgt. Seit dem 17. Jahrhundert hatten sich Nogaier angesiedelt. - Im 16. bis zum 18. Jahrhundert wurde ein Teil dieses Gebiets vom Khanat der Krim beherrscht. 1552/1555 und 1557 schickten die Einheimischen Abgesandte nach Russland, um Schutz für sich zu erbitten. Seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, gemäß dem russisch-türkischen Friedensvertrag von Adrianopel von 1829, gehört das Territorium des heutigen Karatschai-Tscherkessiens zu Russland. Nach hartnäckigem Widerstand des Nationalhelden Imam Schamil, der 1839 die kaukasischen Völker vereinigt hatte, war russischen Truppen die Unterwerfung der Region gelungen. - Am 12. Januar 1922 wurde das Autonome Gebiet der Karatschaier und Tscherkessen innerhalb der Südöstlichen Region formiert; am 26. April 1926 wurde das Gebiet in das Karatschaische Autonome Gebiet, den Tscherkessischen Nationalbezirk und zwei Rayons aufgeteilt. 

Zitat: "Das Osmanische Reich zeigte sich nicht weniger begehrlich, die sehr kontrastreichen, von majestätischen Gebirgszügen und tiefen, fruchtbaren Tälern durchschnittenen Landschaften zwischen dem Schwarzen und dem Kaspischen Meer zu besitzen als die Herrscher Persiens und die russischen Zaren. Letztere eroberten den Kaukasus schließlich in endlosen Kriegszügen."

Christian Neef in: Der Kaukasus, Rußlands offene Wunde, 1997

Die Jahre 1926-1943 waren für die Karatschaier "das goldenes Zeitalter der nationalen Staatlichkeit". - 1943 erlitten die Karatschaier das Schicksal der kollektiven Deportation nach Kasachstan und Zentralasien. Das Autonome Gebiet Karatschai wurde aufgelöst und sein Territorium aufgeteilt.

Neben anderen Völkern wurden vier nordkaukasische Völker – die Balkaren, Inguschen, Karatschaier und Tschetschenen – während des zweiten Weltkriegs nach Kasachstan und Kirgisien zwangsumgesiedelt. Die Sowjetregierung rechtfertigte diese Operation mit der Begründung, dass diese vier Völker, während der kurzen Okkupationszeit von Teilen des Nordkaukasus durch die Deutsche Wehrmacht, mit den feindlichen Besatzern kollaboriert hätten und versucht hätten, die Sowjetmacht durch "Bandenaktivitäten" beziehungsweise "terroristische Akte" zu destabilisieren. Nach der Deportation wurden die Balkaren, Inguschen, Tschetschenen und Karatschaier in sogenannten "Spezialsiedlungen" in Kasachstan und Kirgisien neu angesiedelt. Bis zu ihrer Rehabilitation, die durch die Geheimrede von Nikita Chruschtschow auf dem XX. Parteitag der KPdSU (Kommunistischen Partei der Sowjetunion) eingeleitet wurde, lebten und arbeiteten sie unter strengen Auflagen als "Spezialumsiedler" im Exil.

Nach der Geheimrede Nikita Chrustschows 1956 durften die verbannten Karatschaier in ihre Heimat zurückkehren.

Staatsgefüge: 1922 wurde das Tscherkessische Autonome Gebiet eingerichtet, das nach mehreren Veränderungen 1957 mit dem ehemaligen Karatschaiischen Autonomen Gebiet zum Karatschaiisch-Tscherkessischen Autonomen Gebiet zusammengelegt wurde - obwohl Karatschaier und Tscherkessen weder ethnisch noch sprachlich miteinander verwandt sind.

Zitat: „Karatschajewo-Tscherkessien ist wie die Nachbarrepublik Kabardino-Balkarien ein Kunstprodukt der sowjetischen Nationalitätenpolitik. Stalin pferchte jeweils zwei Völker zusammen, die sprachlich, ethnisch und kulturell miteinander nichts gemein hatten. Besser hätte Moskau auch verwandte Ethnien, Kabardiner und Tscherkessen sowie die turksprachigen Balkaren und Karatschaier, in einer Autonomie zusammenfassen können. Die UdSSR ließ sich indes von der Maxime `Divide et impera´ leiten und schuf wissentlich Konfliktherde. Zwistigkeiten untereinander, so das Kalkül, würden die widerborstigen Bergler binden und die Zentralmacht schonen. Die Strategie ging auf. In beiden Republiken ist das Verhältnis der Titularnationen von Misstrauen und unterschwelligem Hass geprägt. In Kabardino-Balkarien klagen die Balkaren, in Politik und Wirtschaft benachteiligt zu werden, in Karatschai-Tscherkessien sind es die Karatschaier, die sich diskriminiert fühlen.“

Klaus Helge-Donath in: taz.de vom 12. Oktober 2004

Verbannungsgebiet: In Karatschai-Tscherkessk gibt es das Dorf Kosta Chetagurow. Der ossetische Dichter war für seine aufrührerischen Gedichte, besonders wegen seiner Kritik an der zaristischen russischen Regierung, zweimal verbannt worden (1891–1896, 1899–1902), einmal nach Karatschai-Tscherkessk, wo er  an Tuberkulose erkrankte. Die letzte Verbannung beeinträchtigte Chetagurows Gesundheit so sehr, dass er seine literarische Arbeit nicht mehr fortsetzen konnte. 1905 zog er zu seiner Schwester nach Georgiewsko-Ossetinskoje (heute Kosta-Chetagurowo in Karatschai-Tscherkessien).

 

Hauptstadt: Die einzige Großstadt der Karatschaiisch-Tscherkessischen Republik ist Tscherkessk - die Hauptstadt der Republik. Die Stadt ist heute vornehmlich Verwaltungsstadt, industriell bedeutend sind die Elektroindustrie, die Lederwaren- und die Nahrungsmittelproduktion. Tscherkessk wird hauptsächlich von Russen bewohnt.  Tscherkessk wurde 1825 als Kosakensiedlung Batalpaschinskaja gegründet. Seit 1888 wurde sie zu einem Verwaltungszentrum des Gebiets Kuban erhoben. Es war der Mittelpunkt der kulturellen und Handelsbeziehungen zwischen den Kubaner Kosaken und den Bergbewohnern. Heute ist Tscherkessk eine moderne Stadt mit allem, was dazu gehört: Hochhäusern, Parks, Stadien, Theatern, Museen. Das Stadtbild wird von einigen heißen Springbrunnen in Vororten ergänzt, die von unterirdischen Quellen gespeist werden. Dieses Wasser hat ausgeprägte Heileigenschaften. Hinter der Stadt tut sich das majestätische Panorama des Hochgebirges auf. An der Zahl der sonnigen Tage, von denen es jährlich über dreihundert gibt, steht Tscherkessk keiner nordkaukasischen Ortschaft nach. -  Karatschajewsk ist eine Kleinstadt in der südrussischen Republik Karatschai-Tscherkessiens mit 21 483 Einwohnern (2010). Sie liegt auf einer Höhe von 850 Metern über dem Meeresspiegel. - Die zweitwichtigste Stadt der Republik, Karatschajewsk, liegt hinter dem Felskamm, im Talkessel an dem Zusammenfluss des Kuban und der Teberda. Karatschajewsk ist jung (es wurde 1926 gegründet) und ist nicht groß, dafür schön gestaltet und in das Amphitheater der Bergkämme eingebettet, die an drei Seiten aufragen. Eine in Karatschajewsk beginnende Straße verläuft durch das Tal des Flüßchens Teberda und endet bald vor dem bekannten Kurort Teberda (übersetzt bedeutet der Name „Gottes Gabe“).

 

 

In Karatschajewsk (Foto von 1981) steht am Ortseingang die Skulptur einer Gebirglerin, die als Zeichen

der Gastfreundschaft eine Schale Airan darreicht.

Foto: Detlev Steinberg

 

Wirtschaft: In der Republik sind die Industrie und die Landwirtschaft gleich stark. Ihr Gebiet lässt sich in zwei Abschnitte einteilen. Im Norden sind vorwiegend die Chemie, der Maschinenbau und die Konsumgüterindustrie angesiedelt. Typischer für den Süden sind die Holzverarbeitungsindustrie sowie die Viehzucht. Von großer Bedeutung für die Region sind Fremdenverkehr und Alpinsport. Weitbekannt sind die Erholungsorte Dombai, Teberda, Archys. Archys ist geradezu berühmt für sein ausgezeichnetes Mineralwasser.

„Bundeskanzler Helmut Kohl und KPdSU-Generalsekretär Michail Gorbatschow sind im kleinen Ort Archys bei Stawropol Kaukasus - und das Wunder geschieht: Gorbatschow gibt den Weg zur deutschen Einheit frei. Archys liegt 1 800 Meter hoch in einem Gebirgstal zwischen abchasischem Kaukasus und westlichem Elbrus. Der damalige Regierungssprecher Hans Klein schildert diese historischen Stunden in seinem Buch `Es begann im Kaukasus´ (Ullstein Verlag): `Die Datscha, wo in den nächsten 18 Stunden die Entscheidung über Deutschland fallen soll, liegt außerhalb Archys. Die Datscha mit dem poetischen, dem russischen Hang zum liebevollen Diminutiv entsprechenden Namen ,Gornaya Ritschka' (Bergflüsschen) ist ein wuchtiges dreiteiliges Haus aus ockerfarbenen Steinen mit rotem Ziegeldach.´ Und: `An diesem Abend, also unmittelbar vor Beginn der entscheidenden Verhandlungsrunde, müsste sich die Spannung eigentlich dem Höhepunkt nähern. Aber es ist nicht so. Vielmehr breitet sich ein Gefühl der Gelassenheit aus, das etwa mit dem Satz zu begründen wäre: Sind wir soweit gekommen, werden wir auch den Rest noch schaffen.´ [...] `Gorbatschow klettert die Böschung hinunter und streckt Kohl die Hand entgegen. Was die beiden da unten am Wasser miteinander reden, ist bei uns oben am Ufer nicht zu verstehen. Es wird übertönt vom Rauschen des Flusses.´ Dann schlendern die beiden Männer zurück zur Datscha. Die ernsten Verhandlungen beginnen. Das Abendessen ist beendet. Es geht auf 23 Uhr zu.  Klein: `Da wirft Gorbatschow einen kurzen, Zustimmung heischenden Blick auf Kohl. Der nickt. Die Tafel ist aufgehoben. Die beiden verlassen den Speisesaal, um ein letztes Vier-Augen Gespräch zu führen. Wenig später kommt Kohl zu uns in den Billardsaal. Die Grundzüge der Übereinkunft stehen.´ Und diese heißt: Die beiden deutschen Staaten sollen selbst entscheiden, wann und wie schnell sie sich vereinen. Und: Das vereinte Deutschland darf in eigenständiger Verantwortung entscheiden, ob es in der NATO bleiben will oder nicht. Damit ist die Einheit außenpolitisch unter Dach und Fach.“

Peter Brinkmann in: Berliner Kurier vom 16.07.2000

- In der fruchtbaren Steppe Karatschai-Tscherkessiens werden, begünstigt durch das feuchtwarme Klima, Mais, Weizen, Kartoffeln, Sonnenblumen und Zuckerrüben angebaut. In den höheren Lagen des Vorgebirges wird intensive Rinder-, Schweine- und Schafzucht betrieben. Weltberühmt ist die karatschaiische Pferderasse.

"Die Karatschaier züchten Pferde einer wunderbaren Rasse, unter ihnen gibt es solche, die in Europa bis zu zweitausend Franken kosten würden. Ich kenne keine andere Pferderasse, die für das Reiten an steilen Bergeshängen besser geeignet und unermüdlicher wäre.

Jean Charles de Bess (ungarischer Wissenschaftler, etwa 1799 bis etwa 1838), 1829

- Neben der Holzwirtschaft bildet der Bergbau mit Steinkohleförderung sowie der Gewinnung von Zinn-, Zink- und Kupfererzen die industrielle Basis der Wirtschaft der Republik. Die verarbeitende Industrie, die zu zwei Dritteln in der Hauptstadt Tscherkessk konzentriert ist, umfasst Betriebe des Maschinenbaus, der Holzverarbeitung, der Gummiverarbeitung sowie der chemischen Industrie.

 

Verkehr:  Der Kaukasus ist ein verkehrsfeindliches Gebirge. Es fehlen Quertäler. Das macht ihn unzugänglich. Nur drei Passstraßen gibt es - die Georgische Heerstraße von Ordshonikidse nach Tbilissi, die Ossetische Heerstraße, die ebenfalls in Ordshonikidse beginnt und nach Kutaissi führt, und eine dritte Straße von Tscherkessk über den Kluchor-Pass nach Suchumi. Nur die Georgischer Heerstraße hat verkehrstechnische und wirtschaftliche Bedeutung. Sie führt durch die Darialschlucht.- In Karatschajewo-Tscherkessk ist die Hauptstadt Tscherkessk durch eine Stichbahn mit der nordkaukasischen Eisenbahn verbunden. Der größte Teil des Landes ist jedoch nur durch Straßen verkehrsmäßig erschlossen.

Sprache/Schrift: Eigentlich handelt es sich bei Karatschaiisch um zwei Sprachen, die jedoch fast identisch sind, so dass man sie als karatschaisch-balkarische Sprache bezeichnet. Die Karatschaier bilden also mit den Balkaren eine Sprachgemeinschaft. Vom 17. Jahrhundert bis in die 1920er Jahre wurde das Karatschai-Balkarische (fälschlich) als Tatarisch oder differenzierter als Bergtatarisch bezeichnet. Die damaligen Eigenbezeichnungen der Sprache waren Tuvh til bzw. Tuvh tili, was man mit „Gebirgssprache“ („Tuvh“ = Berg; vergleiche auch türkisch „Dağ“) übersetzen kann. Karatschai-Balkarisch ist heute die Schriftsprache von etwa 250 000 Menschen. Hauptverbreitungsgebiet der Sprache ist die heutige Republik Karatschai-Tscherkessien. Bei der letzten offiziellen Volkszählung der Sowjetunion 1989 gaben  151 000 oder 98 Prozent der Karatschaier ihre Variante der Sprache, das Karatschaiische, an. Von den benachbarten Balkaren gaben 79 702 Balkaren an, Balkarisch als Muttersprache zu sprechen. - Amtssprachen in Karatschai-Tscherkessien sind Tscherkessisch Karatschaiisch Abasinisch Russisch. - In Karatschajewo-Tscherkessien erscheinen die Zeitungen in fünf Sprachen: in Russisch, Karatschaiisch, Tscherkessisch, Awarisch, Nogaiisch. 

Literatursprache/Literatur: Große Popularität genießt die karatschaiische Dichterin Chalimat Bairamukowa (siehe weiter unten "Erst Hirtin, dann Lyrikerin"). - In karatschaiischer und russischer Sprache schreibt der Dichter und Prosaiker Mussa Tatschajew (geboren 1939) - Absolvent der Pädagogischen Hochschule; er wird seit 1965 gedruckt.

Bildung: In ganz Karatschajewo-Tscherkessien gab es vor der Revolution von 1917 nur fünf Grundschulen, in denen Mullas unterrichteten, die sich des arabischen Alphabets bedienten. In diesen Schulen lernten die Kinder Texte aus dem Koran auswendig und blieben so im Grunde Analphabeten. Auf ganz Karatschai kamen dreitausend Schüler. - In der zweitgrößten Stadt der Republik, in Karatschajewsk, die am Fuße des berühmten Berges Elbrus liegt, ist heute die älteste Hochschule des Gebietes beheimatet: die Staatliche Universität Karatschai-Tscherkessien. Als eines der wichtigsten Zentren der Wissenschaft, Kultur und Bildung widmet sich diese Universität auch der deutschen Sprache. Außerdem gibt es ein Forschungsinstitut, ein Schauspieltheater, Bibliotheken, Museen.

Kultur/Kunst: In der Sprache, der Kultur und den alltäglichen Bräuchen der Karatschaier sind die Besonderheiten, die allen turksprachigen Nomaden gemeinsam sind, weitgehend erhalten geblieben. Vor kurzem begann die Wiederbelebung der Kunsthandwerke, die, ungeachtet des historischen Auf und Ab, von der Überlieferung des Volks konserviert wurden. In ihrer angewandten Kunst widerspiegeln die Völker Karatschai-Tscherkessiens den schweren Alltag der Bergbewohner und eigene Vorstellungen von ihrer Umwelt. Holzschneidekunst, Sticken, Flechten, Töpferkunst, Herstellung von Keramikgeschirr mit anschließender Bemalung, Gold- und Silberstickerei – dafür ist die Republik seit ehe und je berühmt. In neuerer Zeit widmen sich die Karatschaier vorrangig der Herstellung gemusterter Filze, die Tscherkessen der Juwelierkunst. Anfang der siebziger Jahre wurde der Gebietsverband Bildender Künstler gegründet.

Ein goldbesticktes karatschaiisches Frauenkäppchen.

Foto aus: Rellers Völkerschafts-Archiv

 Gesundheitswesen: Die Bedingungen in Teberda sind ideal für die Behandlung der Lungentuberkulose, für die Wiederherstellung des Nervensystems sowie für die Behandlung einiger Herzkrankheiten. - Im 18. Jahrhundert wurde diese Gegend von einer Pestepidemie heimgesucht.  Das Tal der Teberda verödete. Aber unter der Sowjetmacht begann man, die Stadt wieder in einen Kurort zu verwandeln.

 Im Sommer 1942 wurde Teberda von den Nazis besetzt. Ein Teil der Kinder, die in diesem Kurort behandelt wurden, und zwar spanische Jungpioniere und jüdische Kinder, konnten evakuiert werden. Zwei Wochen vor der Befreiung von Teberda ermordeten die Nazis die zurückgebliebenen jüdischen Kinder und das medizinische Personal der Sanatorien. Jetzt steht am Ort der Tragödie ein Denkmal für die Opfer des Faschismus. Heute ist Teberda eine Kurortstadt mit der erforderlichen Infrastruktur und der Anfangspunkt zahlreicher Pfade für Hochgebirgstouristen.

- Im Artikel 41 der Verfassung der Russischen Föderation ist für alle Bürger das Recht auf kostenlose medizinische Grundversorgung verankert. Dieser seit den Sowjetzeiten bestehende Grundsatz ist zum Teil die Ursache dafür, dass Russland im internationalen Vergleich eine vergleichsweise hohe Anzahl an Ärzten und Krankenhäuser pro Kopf der Bevölkerung aufweist. Dennoch ist der gesundheitliche Zustand der russischen Bevölkerung schlecht. Gerade beim wirtschaftlichen Niedergang der 1990er Jahre in Russland wurde das Gesundheitswesen stark getroffen. Das Ergebnis führte zu äußerst niedrigen Entlohnungen der Ärzte und Krankenschwestern und als Folge zu einer massiven Verschlechterung der Qualität der medizinischen Versorgung der breiten Öffentlichkeit. So ist inzwischen jede dritte Klinik der siebentausend Krankenhäuser im Land dringend renovierungsbedürftig. In letzter Zeit werden die Gehälter für das medizinische Personal schrittweise angehoben sowie staatliche Mittel in die Einrichtung neuer und in die Modernisierung bestehender Kliniken investiert. In den Jahren 1999 bis 2003 betrugen die durchschnittlichen Gesamtausgaben für den Gesundheitssektor in Russland im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt 5,70 Prozent. - In der Russischen Föderation ist der Gesundheitssektor dezentral organisiert. Das Gesundheitsministerium ist auf föderaler Ebene für den gesamten Sektor zuständig, das Erbringen der konkreten medizinischen Leistungen aber Aufgabe der Föderationssubjekte* und Gemeinden. Der Bedeutung der Föderationssubjekte und Gemeinden im Gesundheitssektor gemäß werden rund zwei Drittel der gesamten Budgetausgaben von diesen bestritten. Das russische Gesundheitssystem wird durch einen Mix aus Budgetmitteln und Mitteln aus der Sozialversicherung finanziert.

 

* Als Föderationssubjekte der Russischen Föderation werden die 83 territorialen, mit gewisser politischer und administrativer Autonomie ausgestatteten und im Föderationsrat vertretenen Verwaltungseinheiten Russlands bezeichnet.

Klima: Das Klima ist mäßig warm. Der Winter ist kurz, der Sommer warm, lang, ziemlich feucht. Das Temperaturmittel im Januar beträgt 3,2 Grad Celsius unter Null, im Juli 20,6 über Null.

Natur/Umwelt: Hier gibt es rund 130 Hochgebirgsseen. In der Republik befindet sich seit 1936 das Naturreservat Teberda mit einer unikalen Flora und Fauna. Seine Hauptaufgabe ist es, die ursprüngliche Natur für zukünftige Generationen zu bewahren. - Der Nordkaukasus  liegt in einem Erdbebengebiet.

Pflanzen- und Tierwelt: Der Kaukasus beherbergt eine reichhaltige Tierwelt. Zu den großen Arten zählen Marale (eine Unterart des Rothirschs), Wildschweine, Gämsen und Steinböcke. Ebenfalls heimisch sind noch Bär, Wolf und Luchs. Extrem selten ist der Kaukasische Leopard, der erst 2003 wiederentdeckt wurde. Das Kaukasische Wisent starb 1927 aus. Wieder eingeführte Tiere, bei denen es sich um Hybriden mit Bisons handelt, leben im Naturreservat des nordwestlichen Kaukasus in Adygeja. Das letzte Exemplar des Kaukasus-Elches wurde 1810 getötet. – Der Kaukasus ist sehr artenreich an wirbellosen Tieren, beispielsweise sind hier bisher etwa tausend Spinnenarten nachgewiesen. - Im Kaukasus sind 6 350 Blütenpflanzen-Arten heimisch, davon sind 1 600 endemische Arten, zum Beispiel Bestimmte Doldenblütler, Korbblütler, Nelkengewächse, Braunwurzelgewächse, Baldriangewächse, Kreuzblütengewächse, Raubblattgewächse, Rosengewächse. – Der Riesenbärenklau wurde 1890 als Zierpflanze nach Europa importiert. – Die Gebirgsregion des Kaukasus ist aus Sicht des Naturschutzes eine der 25 gefährdetsten Gebiete der Erde.

"Karatschai-Tscherkessien liegt hoch. Rund 3000 Meter. Die schwindelnde Höhe erschwert das Atmen: es mangelt einem an Sauerstoff. Die Höhe verschleiert die wahren Abmessungen der Gegenstände: die Waldriesen – Tannen und Fichten – wirken wie Zündhölzer, die in den abschüssigen Rippen des Berges stecken. Im Hochgebirge herrscht tiefe Stille, und das melodiöse Rauschen vieler Bächlein unten, am Rande des Gletschers stört nicht das majestätische Schweigen, sondern betont es zusätzlich. Die Berge besitzen eine Schönheit, die sich mit Macht paart. Diese Verbindung hat die Menschen schon immer begeistert."

Stimme Russlands vom 28.07.2009

Behausungen: Die Karatschaier lebten in Häusern mit rechteckigem Grundriss, die aus dicken Baumstämmen errichtet wurden. Für Verteidigungszwecke baute man so genannte „überdeckte Arbasen“. Diese Bauwerke bildeten im Grundriss ein geschlossenes Vieleck, in dem sich der überdeckte Hof - „Arbas“ – befand.

 

Ernährung: Die Nahrungsgrundlage der Karatschaier waren Produkte aus der Viehzucht. Am beliebtesten war Hammelfleisch. Insbesondere das Fleisch der Karatschai-Schafe, das auch anderswo für seine hohe Geschmacksqualität bekannt ist. Sehr beliebt sind auch aus Milch hergestellte Produkte – insbesondere Airan und Käse. - Legendäre Vitalität zeichnet die Bewohner des Kaukasus aus. Sie leben nicht nur lange, sondern erhalten sich auch ihre Lebensfreude und eine beneidenswerte Gesundheit. Eine entscheidende Rolle spielt dabei die Ernährung.

Naturbelassene Nahrungsmittel und eine Fülle von frischen Zutaten werden zu Gerichten von unwiderstehlicher Köstlichkeit komponiert. (...) Bei allen Unterschieden haben die Kaukasier jedenfalls eines gemeinsam: Sie werden dank ihrer natürlichen Ernährung und Lebensweise steinalt, und das bei bester Gesundheit."

Monika Buttler in: Die Kaukasuskost der Hundertjährigen, 1999

 

„In Wladiwostok sollte man auf jeden Fall einen Abstecher zum Tokarewskij-Leuchtturm machen, der am Ende der Peter-der-Große-Bucht liegt. Auf dem Weg zum Leuchtturm befindet sich das auf die Küche der Karatschaier  spezialisierte Restaurant Gorjanka. Diese Küche mag zwar nicht so bekannt sein wie die georgische oder armenische (alle drei haben Schaschlik, Kebab und pikante Fleischsuppen gemeinsam), doch auch sie hat ihre Köstlichkeiten. So zum Beispiel Hytschiny: große, runde Fladen, die den georgischen Chatschapuri ähneln. Diese können entweder mit Fleisch und Kräutern oder mit Kartoffeln und Käse gefüllt sein."“

Russia Beyond  The Headlines  (RBTH) vom 06.09.2015

 

Übrigens: Die Karatschaier behaupten, dass sie die Erfinder des - auch bei unseren Kindern -  so beliebten Puffmais´ sind.

 

Kleidung: Die traditionelle Bekleidung der Frauen wirkt sehr festlich. Im Mittelalter schmückten die Karatschaierinnen ihre Kleider mit Silberknöpfen, die in zwei Reihen auf den Stoff genäht wurden. Als Kopfbedeckung diente eine hohe, spitz zulaufende Stoffmütze, an deren Spitze Metallschmuck angenäht wurde, manchmal war  es eine Kugel. Die Kleider für festliche Anlässe wurden aus Samt oder Seide genäht und mit Goldstickerei verziert. Der dazugehörige Gürtel – „Kjamar“ - war ein Kunstwerk der Juwelierkunst. - Die Bekleidung der Männer ähnelte denen anderer Bergvölker des Nordkaukasus

 

 

 Festliches Nationalkostüm der Karatschaierin, Ende des 19. Jahrhunderts.

Zeichnung aus: Rellers Völkerschafts-Archiv

 

Folklore: Das Lied und das Märchen ersetzte den Karatschaiern einst das Buch und das Theater, "und überall wurden die Karatschaier von Sprichwörtern begleitet", schreibt die Literaturwissenschaftlerin A. Karajewa in ihrem "Abriß der Geschichte der karatschaiischen Literatur". Wenn man für Monate, bisweilen auch für ein ganzes Jahr zu den entlegensten Hochgebirgsweiden zog, vertrieben sich die Hirten früher ihre freie Zeit mit dem Erzählen von Märchen; die Erzähler hießen "Dshomaktschi" (die Sänger nannten sich "Dshyrtschi").

 

 

Illustration zu dem karatschaiischen Märchen "Umar, Sohn des Umar".

Illustrationen von S. D. Soldatow aus: Rellers Völkerschafts-Archiv

 

Aufgefallen ist mir bei einer Vielzahl karatschaiischer Märchen, dass die Frau nach Verstand, Findigkeit und Kühnheit höher stand als der Mann. In vielen Märchen nehmen die Männer eine passive Rolle ein, sie führen lediglich aus, was die Frau anordnet oder ihnen rät - wie auch in dem Märchen weiter unten stehenden Märchen "Namys und das Glück".

 

"Aus dem Inhalt des Narten-Epos´: Die Welt war zunächst von wilden Riesen-Narten besiedelt, die in Höhlen wohnten, weil sie keine Häuser zu bauen vermochten. Sie hatten viel Kraft und wenig Verstand. Als dann weniger starke, dafür aber verständigere Narten auf die Welt kamen, konnten sie die Riesen leicht besiegen: Bald schläfert der Narte mit seiner Beredsamkeit das Misstrauen des Riesen ein oder lenkt seinen Zorn auf einen anderen Gegenstand, bald verwickelt er ihn geschickt in eine Situation, in der der Riese machtlos ist. Außer den Begegnungen mit den Riesen nehmen die Narten an fröhlichen Zusammenkünften teil, gehen auf die Jagd oder ziehen in den Krieg. Bei den Zusammenkünften spielen die Narten lustige Spiele, zechen, tanzen und singen. Ihre Kriegszüge sind immer voller Überraschungen. Die einzelnen Sagen erzählen von zahlreichen Fehden zwischen den Narten, von ihren blutigen Auseinandersetzungen. Darüber hinaus sind die Narten mit übermenschlichen Eigenschaften ausgestattet und verstehen die Sprache der Vögel. Und: Einige Narten beherrschen die Kunst, sich tot zu stellen, um den argwöhnischen Gegner zu überlisten. Andere Narten können in den Himmel steigen und zurückkehren, wieder andere wandern in die Hölle – und kommen, sobald sie wollen, zurück auf die Erde. Fast alle Narten sind mit mythischen Figuren der Sonne und deren Tochter verwandt.  Doch das Hünenvolk endete tragisch: Die Narten waren so stolz geworden, dass sie an die Türen ihrer Häuser keine Leitern mehr ansetzten, damit Gott nicht etwa glaube, sie würden  ihn anbeten. Gott sandte deshalb eine fürchterliche Hungersnot auf die Erde. Doch in der Nacht war der Himmel mit Körnern unbekannter Art übersät, die wie Lichter glänzten. Die Narten begannen, diese leuchtenden Körner mit Pfeilen abzuschießen und sich davon zu ernähren. Diese Speise allein aber reichte nicht aus, und alle Narten verhungerten. Nach ihrem Untergang fielen die himmlischen Körner auf die Erde und fingen zu wachsen an und Früchte zu tragen – das war der Mais, der für die Menschen so kostbar ist.“

Natascha Petrowa, in: Stimme Russlands vom 8. Oktober 2009

 

Berühmt für ihre „Narten-Epen“ sind mehrere Völker des nördlichen Kaukasus, besonders die Adygen, die Tscherkessen, die Abchasen, die Osseten, die Karatschaier, die Balkaren, die Inguschen, die Abasiner, die Tschetschenen. Der Name „Narten“ leitet sich wahrscheinlich vom mongolischen Wort narta (Sonne) ab. Die Urmutter aller Narten ist die verführerische und weise Satanaya, die Ähnlichkeit hat mit der altgriechischen Fruchtbarkeitsgöttin Demeter. Die Narten-Sagen besitzen ein gleichgewichtiges Verhältnis zwischen Männern und Frauen, Göttinnen und Heldinnen genießen großen Respekt in den Erzählungen. Nartische Gottheiten wie der Himmelsschmied Kurdalagon, der Donnergott Uazilla sowie Sapha, der Schirmherr des heimischen Herdes, haben Parallelen zu nordischen Sagen und Mythen. Auch der griechischen Mythologie ähneln die Narten-Sagen in vielen Elementen. Die Figur von Nasran z. B. gleicht dem feuerbringenden Titanen Prometheus, den der Göttervater Zeus ausgerechnet an einen Berg im Kaukasus fesseln lässt. Der russisch-orthodxe Geistliche André Sikojew (der Vater war Ossete, die Mutter Deutsche) hat das Narten-Epos erstmals as einer russischen Fassung, die es seit 1948 neben einer ossetischen gab, ins Deutsche übertragen. Laut Sikojev sind die Narten-Sagen im Siedlungsgebiet der osseten entstanden und einst im gesamten nördlichen Kaukasus erzählt und gesungen worden.

 

Feste/Bräuche: Von den alten Bräuchen sind diejenigen erhalten geblieben, die mit der Eheschließung zu tun haben. Nach wie vor bezahlt man den Brautpreis, d. h. man beschenkt die Familie der Braut. Immer noch werden viele Ehen auf autoritärer Grundlage geschlossen. Darum müssen die jungen Leute häufig wider den Willen ihrer Eltern heiraten. Um Familienkonflikte zu vermeiden, kommen viele ähnliche Ehen durch die sogenannte Entführung zustande, indem die Braut auf Verabredung mit dem Bräutigam das Elternhaus heimlich verlässt. Jedoch gibt es seit der letzten Zeit Fälle, dass die Brautleute mit Einverständnis ihrer Familien die Flucht vortäuschen. Dieser Brauch hat den Zweck, wenigstens einen Teil der Ausgaben für Eheschließung und Hochzeit zu sparen, und zwar das Geld für die Brautwerbung, großzügige gegenseitige Geschenke und ein üppiges Hochzeitsfest. Traditionsgemäß findet die Hochzeitsfeier bei den Eltern des Bräutigams statt und wird von Mahlzeit und Vergnügungen begleitet. Typisch für die traditionelle Hochzeit ist Mäßigung beim Essen und ganz besonders beim Trinken alkoholhaltiger Getränke, wobei man gleichzeitig bestrebt ist, durch Rednergabe, Gesangs-, Tanz- und Reitkunst zu glänzen. - Nach altem Brauch wird in den Bergen des Kaukasus der Neuankömmling in den ersten drei Tagen als Gast betrachtet, am vierten Tag aber schon dem Hausherrn gleichgestellt.

 Religion: Bis Ende des 17. Jahrhunderts waren die meisten Karatschaier orthodoxe Christen. Danach traten sie zum sunnitischen Islam über.

Ereignisse nach dem Zerfall der Sowjetunion, sofern sie nicht bereits oben aufgeführt sind: Karatschai-Tscherkessien erklärte im Jahre 1990 seine Souveränität und erhielt den Status Republik innerhalb der Russischen Föderation.  Mit Auflösung der Sowjetunion wurden Karatschai-Tscherkessien weitreichende Autonomierechte eingeräumt. Staatsoberhaupt wurde der seit 1979 als Vorsitzender des Republiksowjets und 1990-1992 zugleich als Regierungschef amtierende Wladimir Chubijew. Nach den Regionalpräsidentenwahlen in Karatschai-Tscherkessien 1999 drohte die Spaltung dieser autonomen Republik. Die den zahlreicheren und traditionell moskautreuen Karatschaiern unterlegenen Tscherkessen und Abasiner (zu einem großen Teil christlich) wollten ihre eigene autonome Republik wieder errichten, die bereits bis 1957 bestanden hatte. - Staatschef war bis 2003 Präsident Wladimir Magomedowitsch Semjonow, danach bis 2008 "Mustafa Asret-Alijewitsch Batdyjew. Im August 2008 wurde Boris Safarowitsch Ebsejew - gemäß der russischen Verfassung auf Vorschlag von Staatspräsident Dmitri Anatoljewitsch Medwedew - zum neuen Präsidenten Karatschai-Tscherkessiens gewählt. Als Regierungschef führt Alik Chussenowitsch Kardanow  seit 2005 die Republik (bereits 2000-2003 Regierungschef).

„Eine Neugestaltung der Republiken Kabardino-Balkarien und Karatschai-Tscherkessien würde - wie überall im Nordkaukasus - äußerst heikle Fragen nach den künftigen Grenzen aufwerfen. Fast alle Gemeinschaften beanspruchen in der einen oder anderen Form Gebiete, die zurzeit von einem oder mehreren anderen Völkern besiedelt werden.“

Neue Zürcher Zeitung vom 9. September 2004

Kontakte zur Bundesrepublik Deutschland: Der Landrat Dr. Rudolf Hinsberger empfing im Historischen Sitzungssaal in Ottweiler eine 6-köpfige Delegation aus der Republik Karatschai-Tscherkessien. Die Gesamtschule Neunkirchen strebt mit dem Gymnasium Nr. 17 der Stadt Tscherkessk eine Schulpartnerschaft an und war bereits im Februar zu einem Informationsaustausch vor Ort in Karatschai-Tscherkessien. Die stellvertretende Bürgermeisterin der Stadt Tschekessk Roza Chadschigolova, der Direktor des Gymnasium Nr. 17 Magomet Bajramukov, die stellvertretende Schulleiterin, zwei Lehrer und ein Mitarbeiter des Rathauses berichten dem Landrat über das Leben in der Republik Karatschai-Tscherkessien, die rund 450 000 Einwohner zählt. 1 760 Schülern in 71 Klassen des Gymnasiums Nr. 17 werden von 131 Pädagogen unterrichtet. Der Direktor betont in seinem Gespräch „ Die Gesundheit unserer Schüler steht für uns an erster Stelle, daher bieten wir sehr viele Sportaktivitäten an“. Ebenfalls ist es der Wunsch, ab September 2010 auch wieder Deutschunterricht einzuführen. Im April 2011 waren Schüler der Gesamtschule Neunkirchen zum Gegenbesuch in Karatschai-Tscherkessien.

 

Interessant, zu wissen..., dass es bereits vor Tschernobyl und Fukushima einen ebenso folgenschweren Unfall mit radioaktiven Stoffen gab.

Wer weiß nicht von der Reaktor-Katastrophe im ukrainischen Tschernobyl 1986? Wer weiß nicht von dem Atomunfall im japanischen Fukushima 2011? Aber wer weiß von der Katastrophe im russischen Majak (östlich des Urals), die sich bereits 1957 ereignete? Unbemerkt von der Öffentlichkeit hatte sich am 29. September 1957 der erste folgenreiche Unfall ereignet, bei dem radioaktive Stoffe freigesetzt wurden – "in einer Anlage zur industriellen Herstellung spaltbaren Materials", sagen die einen, "in einer Nuklearwaffenfabrik" die anderen. Die bei der Aufbereitung der abgebrannten Uranbrennstäbe zur Gewinnung des spaltbaren Plutonium-239 angefallenen, hochradioaktiven flüssigen Rückstände waren in großen Tanks gelagert worden. Diese mussten gekühlt werden, weil durch den radioaktiven Zerfall der Stoffe Wärme entstand. Nachdem im Laufe des Jahres 1956 die Kühlleitungen eines dieser 250 Kubikmeter fassenden Tanks undicht geworden waren und die Kühlung ausfiel, begannen die Inhalte dieses Tanks zu trocknen. Am 29. September 1957 löste dann der Funke eines internen Kontrollgeräts eine Explosion der auskristallisierten Nitratsalze aus. Es handelte sich dabei um eine chemische (keine nukleare) Explosion, die große Mengen radioaktiver Stoffe freisetzte. Darunter befanden sich langlebige Isotope wie z. B. Strontium-90 (Halbwertzeit 29 Jahre),  Cäsium-137  (Halbwertzeit 30 Jahre) und Plutonium-239 (Halbwertzeit über 24 000 Jahre). - Erst über drei Jahrzehnte später wurde diese schwere Explosion, die sich auf dem Gelände der Produktionsanlage Majak in der heutigen Stadt Osjorsk ereignet hatte, auf einer Sitzung des Obersten Sowjets der Sowjetunion bekanntgegeben. Man bezeichnete sie als „Strahlenunfall von Kyschtym“, da Osjorsk, dessen früherer Name Tscheljabinsk 40 und später Tscheljabinsk 65 lautete, eine der geheimen Städte war und bleiben sollte. Nach dieser ersten radioaktiven Katastrope diente der Karatschaisee* in der russischen Region Tscheljabinsk als Lagerstätte für den angefallenen radioaktiven Abfall. Der Unfall ist hinsichtlich der Radioaktivität des freigesetzten Materials vergleichbar mit der Tschernobyl-Katastrophe. Das betroffene Gebiet von 20 000 Quadratkilometern hatte damals etwa 270 000 Einwohner. Heute reichen bereits fünf Minuten in der Nähe des Karatschai-Sees aus, um eine lebensbedrohliche radioaktive Dosis aufzunehmen. Und wer heute eine Stunde am Karatschai-See verweilt, stirbt höchstwahrscheinlich binnen weniger Stunden. Aber – aufgemerkt! Wer weiß, dass es auch hierzulande einen See gibt, in dem das Baden tödlich enden kann? Es handelt sich um den Silbersee. Am Rande des Reichsparteitagsgeländes in Nürnberg wurde nach dem Krieg giftiger Abfall abgelagert. Durch den Boden ist das Gift in das Gewässer gelangt. Etwa fünfzig Menschen sind bisher durch Schwefelwasserstoff-Schwaden gestorben, da sie das Badeverbot missachtet hatten.

* Ich konnte nirgendwo einen Hinweis finden, was der  Name des Karatschai-Sees mit den Karatschaiern zu tun hat…

 

Auch die Pferdeherde liebt ihre Heimaterde.

Sprichwort der Karatschaier

 

Als Journalistin der Illustrierten FREIE WELT – die als Russistin ihre Diplomarbeit über russische Sprichwörter geschrieben hat - habe ich auf allen meinen Reportagereisen in die Sowjetunion jahrzehntelang auch Sprichwörter der dort ansässigen Völker gesammelt - von den Völkern selbst,  von einschlägigen Wissenschaftlern und Ethnographen, aus Büchern ... - bei einem vierwöchigen Aufenthalt in Moskau saß ich Tag für Tag in der Leninbibliothek. So ist von mir erschienen: 

* Aus Tränen baut man keinen Turm, ein kaukasischer Spruchbeutel, Weisheiten der Adygen, Dagestaner und Osseten, Eulenspiegel Verlag Berlin in zwei Auflagen (1983 und 1985), von mir übersetzt und herausgegeben, illustriert von Wolfgang Würfel.

* Dein Freund ist dein Spiegel, ein Sprichwörter-Büchlein mit 111 Sprichwörtern der Adygen, Dagestaner Kalmyken, Karakalpaken, Karelier, Osseten, Tschuktschen und Tuwiner, von mir gesammelt und zusammengestellt, mit einer Vorbemerkung und ethnographischen Zwischentexten versehen, die Illustrationen stammen von Karl Fischer, die Gestaltung von Horst Wustrau, Herausgeber ist die Redaktion FREIE WELT, Berlin 1986.

 * Liebe auf Russisch, ein in Leder gebundenes Mini-Bändchen im Schuber mit Sprichwörtern zum Thema „Liebe“, Buchverlag Der Morgen, Berlin 1990, von mir (nach einer Interlinearübersetzung von Gertraud Ettrich) in Sprichwortform gebracht, herausgegeben und mit einem Nachwort versehen, illustriert von Annette Fritzsch.

Ich bin, wie man sieht, gut damit gefahren, es mit diesem turkmenischen Sprichwort zu halten: Hast du Verstand, folge ihm; hast du keinen, gibt`s ja noch die Sprichwörter.

Hier fünfzehn karatschaiische Sprichwörter als Kostprobe: 

 

(Bisher Unveröffentlicht)

 

Wer sich nicht als Sieger zufrieden gibt, wird sich als Besiegter zufrieden geben müssen.

Den jungen Stier ertüchtigt das Joch, den Menschen - die Zeit.

Ob müde vom Tanzen oder von Tränen - es zieht einen zur Essschüssel.

Eine heranwachsende Tochter ist wie ein reißender Fluss.

Besser eine eigene Tochter sein als ein fremder Sohn.

Verstand kann nicht ohne Bewässerung erblühen.

Wer des Vaters Aul* verlässt, wird keinen guten Tag mehr sehen.

Besser, sie gehören einem anderen: das schöne Töchterlein und das Feld am Wegesrain.

In der Wiege Erworbenes reicht bis zur Bahre.

Besser im fremden Aul als Geizkragen zu gelten als im eignen kein Saatgut zu haben.

Auf dem Acker der Träume sprießt nur Eselsmist.

Alter macht nichts billiger.

Zu Ansehen führt weder lange Ruhepause noch langer Marsch.

In den Aul kommt die Krankheit entweder im Sack des Händlers oder im

Bettelsack des Armen.

Seines isst man mit dem Bauch, Fremdes mit den Augen.    

 

*Aul = Bergdorf im Kaukasus

 

Gesammelt, aus dem Russischen übersetzt und in Sprichwortform gebracht von Gisela Reller

Zitat: "In Kislowodsk ging ich jetzt manchmal auch wieder und meistens ganz allein auf die Hochebene und ins Gebirge hinein spazieren. Und da begegnete ich einmal einigen wild aussehenden, schwerbewaffneten und verlumpten Karatschajzen [Karatschaiern], die auf ihren kleinen zähen Pferdchen saßen und Hornvieh vor sich hertrieben. Als sie bei mir angelangt waren, umringten sie mich sofort, stiegen von ihren Pferdchen ab und fingen an, sich mit mir zu unterhalten. Dabei lagerten wir uns am Boden herum, die Pferdchen standen daneben herum und fraßen Gras und auch das Vieh weidete jetzt in der Nähe. Zuerst wollten die Karatschajzen wissen, wer ich sei und woher ich käme. (...) Immerhin konnten wir uns verständigen und sie merkten auch gleich, dass ich kein Russe bin. Und von der Schweiz hatten sie auch schon was gehört, sie wussten z. B., dass dort auch hohe Berge sind. (...) Dann wollten sie noch wissen, wie jetzt das Leben in Moskau sei, was dort die Kartoffeln kosten und das Mehl und noch vieles andere mehr. Ich sagte ihnen alles, wie es war und da schüttelten sie die Köpfe: Ja, bei dieser Regierung könne es ja nicht gut werden, niemals könne es gut werden, sagten Sie. Sie waren, wie ich deutlich genug merken konnte, sehr böse auf die Russen und ganz besonders auf die Bolschewiken."

Ernst Derendinger (als Graphiker in Moskau von 1910 bis 1938) in:

Erzählungen aus dem Leben, 2006

 

 

 

Als Reporter der Illustrierten FREIE WELT bereisten wir 1987 das Autonome Gebiet der Karatschaier und Tscherkessen.

 

Nina Charitonowa, Betreuerin von der russischen Nachrichtenagentur APN, Textautorin Gisela Reller und Bildreporter Detlev Steinberg -

wurden empfangen mit Brot und Airan kurz vor der Stadt Karatschajewsk.

Foto aus: Rellers Völkerschafts-Archiv

Über die Karatschaier und Tscherkessen berichtete ich in der FREIEN WELT Nr. 8/1987 auf  22  Seiten.

 

Airan  -   Nationalgetränk   des   Frohsinns...  (LESEPROBE  aus:  FREIE  WELT Nr. 8/1987)

 

"Wann und wo immer wir uns im Land der Karatschaier und Tscherkessen als Gäste blicken lassen, man reicht uns eine Schale Airan. Man kann sie auf einen Zug leeren, denn so gründlich und anhaltend löscht kein weiteres Getränk im weiten Sowjetland  den Durst. Finde ich. Aber auch wenn man an dem dicklichen, weißen Getränk nur nippt, hat man seiner Gastpflicht schon Genüge getan.

Seit eh und je ist Airan das nationale Lieblingsgetränk der Karatschaier, das der Tscherkessen ist es mit der Zeit geworden. Wir haben - unabhängig von der Tageszeit - kein Mahl ohne Airan zu uns genommen. Man genießt ihn hier als vollwertige Mahlzeit mit heißem, aus Maismehl gebackenem Brot, er wird bei der Zubereitung von Fleischspeisen und Soßen verwendet, er dient als Gegengift bei Schlangenbissen, in Sanatorien trinken Genesungssuchende 15 bis 20 Gläser am Tag. Airan wird in Gedichten gerühmt, Legenden werden von ihm erzählt, hier ist eine Legende: Vor langer, langer Zeit sammelten die Karatschaier auf einer Hochgebirgswiese Heilpflanzen. Bei ihnen war auch das schönste Mädchen des Stammes. Sie sammelte ihre Früchte und Kräuter in einem Krug. Nachdem sie ihn zu Hause geleert hatte, füllte sie Milch hinein. Sauer geworden, war die Milch von solchem Wohlgeschmack, dass sich alle wunderten. Es stellte sich heraus, dass einige Berberitzen- und Sauerampferblätter im Krug verblieben waren. Des schönen Mädchens Stammesbrüder stellten dieses würzige Milchgetränk nun selbst her und nannten es nach dem Namen des Mädchens Airma. Die Zeit veränderte den Klang des Wortes, bis daraus Airan geworden war.

Airan wurde bis 1966  in jeder Familie Karatschajo-Tscherkessiens selbst `gebraut´, seit zwei Jahrzehnten kann man ihn im Geschäft kaufen: 28 Kopeken kostet eine fettreiche Literflasche, 16 Kopeken eine fettarme.

Ali-Ssurtan Gappojew, Direktor der `Städtischen Molkereibetriebe´ in Karatschajewsk, erzählt uns augenzwinkernd, dass ihn ab und an ein Alptraum heimsuche, einer, der skandalös darin gipfele, dass es einen ganzen Tag lang in den Geschäften keinen Airan zu kaufen gibt. Da wir uns schon einige Tage im Land der airanbesessenen Karatschaier und Tscherkessen aufhalten, schmunzeln wir sehr verhalten zurück.

Ich frage Ali-Ssurtan Gappojew, was es denn nun legendenfrei mit dem Nationalgetränk des Frohsinns, der Gesundheit und eines langen Lebens auf sich habe. `Airan´, antwortet er mir milch-fachmännisch, `besitzt als Nahrungsmittel für den Organismus lebensnotwendige Stoffe, die auf einige physiologische Funktionen Einfluss haben, zum Beispiel auf die Magen- und Darmtätigkeit, auf die Atmungsorgane, auf den Stoffwechsel überhaupt... Der Gäransatz für den Airan ist von komplizierter Zusammensetzung. Er besteht aus Milchsäure, Streptokokken, Milchsäurebakterien vom Typ des Joghurtbazillus und laktosevergärenden und nichtlaktosevergärenden Hefen. Im ausgereiften Airan sind 0,6 Prozent Alkohol, 0,24 Prozent Kohlensäure und bis zu 1,5 Prozent Milchsäure enthalten. Ich sage Ihnen das so ausführlich, weil ich mir wünsche, dass Ihre Leser über unseren Airan soviel wissen, wie über den aus Stutenmilch vergorenen weithin bekannten Kumys der Kalmyken.´

In den `Städtischen Molkereibetrieben´ sehen wir, dass Airan aus pasteurisierter Kuhmilch hergestellt wird. Die Vergärung läuft bei einer Temperatur von 35 Grad Celsius ab und dauert sieben bis acht Stunden. Das vergärte Produkt wird in Kühlkammern ausgereift und bis auf 8 Grad abgekühlt, wonach Airan - endlich - trinkfertig ist.

Die `Städtischen Molkereibetriebe´ stellen natürlich nicht nur Airan her, sondern auch Butter, Margarine, süße Sahne, Smetana, verschiedene Sorten Käse, auch Weißkäse, süßen Quark, gekörnten Quark... und alles: fett, halbfett und fettarm.

Man hat Kosthäppchen aller Produkte für uns hingestellt. Der Direktor bittet uns mit den Worten zu Tisch: ´Die Milch ist von Ihren Kühen.´ Von `unseren Kühen´? Ach, von denen, die sich 2 400 Meter über dem Meeresspiegel an alpinen Futtergräsern gütlich tun. Aus dieser luftig-duftenden Bergeshöhe, die wir gestern besucht haben, fließt also nicht nur die Milch durch die erste karatschajo-tscherkessische fünftausend Meter lange Unterberg-Milch-Leitung hierher, sondern auch mit der Nachrichtenübermittlung klappt es... Sechzig Prozent der karatschaiisch-tscherkessischen Milch kommt insgesamt von Bergweiden, von Kühen der karatschaiischen Rasse, die besonders anspruchslos und wenig kälteempfindlich ist. Dort herauf führte noch vor fünfzehn Jahren keine Straße. Heute gibt es auch dort Wasser, Elektrizität, Telefon und elektrische Melkanlagen. Von Anfang an dabei ist die  Melkerin  Chaja Kubanowa,  deren  Kühe heute durchschnittlich 3 600 Kilogramm Milch geben. Das sei, so sagt sie, was die Rasse und die Gebirgsbedingungen angelange, ein gutes Ergebnis. Zufrieden allerdings geben sich hier alle nie, eine Leistungssteigerung sei durchaus noch möglich.

Ich beobachte auf der Weide Chaja Kubanowas liebevolles Einvernehmen mit der Schönen, der Ruhigen, der Grille, der Guten, der Puppe, der Schlampe... Jede ihrer Kühe hat einen, wie sie meint, passenden Namen. Ich Großstadtkind habe Mühe, mir nicht anmerken zu lassen, dass ich nicht den geringsten Unterschied zwischen der schwarz-weißen Schönen und der schwarz-weißen Schlampe entdecken kann...

 

 

Erst Hirtin, dann Lyrikerin (LESEPROBE aus: FREIE WELT Nr. 8/1987)

 

"Nicht viele kaukasische Lyrikerinnen sind schon über ihre Bergesgipfel hinaus bekannt. Die Awarin Fasu Alijewa fällt mir ein, die Lesginerin Chanbitsche Chametowa. Zu denen, die sich überall im Sowjetland einen Namen gemacht haben, gehört bestimmt Chalimat Bairamukowa, die Karatschaierin. Als wir sie treffen, kenne ich von ihr nur ihre erste, in der Zeitschrift `Sowjetliteratur´ erschienene Erzählung mit dem Titel `Airan´*; die DDR-Verlage haben Chalimat Bairamukowa noch nicht entdeckt...

Chalimat Bairamukowa ist so alt wie die Oktoberrevolution. In einem ihrer Gedichte sagt sie: `Im Jahre siebzehn schenkte Russland mir das Leben, und deshalb ist mein Weg mir klar.´ Ihr Weg: `Ich wurde in dem kleinen Aul Chursuk geboren, am Mantelsaum des Elbrus. Die herrlichen heimatlichen Berge, die klaren Flüsse, die Himmelsweiten formten meinen Schönheitssinn. Von der vierten Klasse an begann ich zu schreiben. Doch dass daraus mal ein Beruf werden würde...´ Er wird es auch noch lange Zeit nicht, denn sie arbeitet erst einmal als Hirtin, geht in allem der Mutter zur Hand, der Vater ist Tischler und Zimmermann. Aber sie schreibt auch `so für mich, auf der Weide, beim Wäschewaschen am Fluss, am Kochkessel"... Vierundzwanzig Jahre alt und noch kein ganzes Jahr verheiratet ist sie, als sie als Krankenschwester an die Front geht. Schwanger. `Meine Jugend´, heißt es in einem ihrer Gedichte, `steckte ich in den Soldatenmantel und knöpfte fest den Mantel zu.´ Ihr Mann fällt 1942, ohne seinen Sohn gesehen zu haben. Vor unserer Begegnung hatte ich über sie Worte des bekannten balkarischen Lyrikers Kaissyn Kulijew gelesen: `...Ihre Gedichte sind rückhaltlos ehrlich. Ihr Lebensweg verbietet ihnen jegliche Ziererei und jegliches Gehabe. Sie werfen sich nie in Pose.´ Besser wüsste ich meinen Eindruck von ihr ihr und ihren Gedichten auch nicht wiederzugeben.

 

 

Die karatschaiische Lyrikerin Chalimat Bairamukowa.

Foto: Detlev Steinberg

 

`Meinen Beruf schenkte mir der russische Schriftsteller Alexander Fadejew. Er hatte in der Zeitung gedruckte Verse von mir gelesen und sorgte dafür, dass ich am Moskauer Literaturinstitut `Maxim Gorki´ studieren konnte.´ Seit Jahrzehnten schreiben ihr viele begeisterte, sich verstanden fühlende Leser. Sie hat sich aus den Briefen inzwischen vierzehn dickleibige Bücher binden lassen. `Ich blättere öfter darin, zum Beispiel, wenn mich Schaffenskrisen heimsuchen.´ Auch über lobende Worte von Berufskollegen freut sie sich. ´Aber´, sagt sie, `ich finde, wir helfen uns gegenseitig mehr, wenn wir uns auch kritisieren. Ehrlich. Und freundlich." Was ihr am Leben am besten gefällt, möchte ich von ihr wissen. `Das Leben´, antwortet sie, `das Leben...´

Hier das Gedicht "Es gibt keine unschönen Frauen" von Chalimat Bairamukowa:

Es gibt keine unschönen Frauen, / was immer man sagt oder schreibt. / Der liebende Mann entdeckt staunend, / was für andere unbemerkt bleibt. // Die Zeit kommt auf Touren, genau so / wie kurz vor dem Start der Motor... / Es gibt keine unschönen Frauen! / Ja, glücklose - die kommen vor... // Es wechseln sich Sonne und Schauer, / und nichts währt für ewig, doch gibt´s / gleichwohl keine unschönen Frauen, / egal, ob verliebt, ob geliebt. // Die Zeit kann den Liebreiz nicht mindern, / wenn auch die Jahrzehnte vergehn... / Wie sehn ihre Mutter die Kinder? / Und deshalb ist jede Frau schön? // Mag Sturm durch die Straßen rasen, / mag Eis überziehn den Asphalt. / Es wird, solang Freunde noch da sind, / die Frau garantiert niemals alt. // Die Liebe der Frau ist von Dauer / und kann jedes Leid überstehn... / Es gibt keine unschönen Frauen. / Nur gilt´s, ihre Schönheit zu sehn.

Nachdichtung aus dem Russischen von Johann Warkentin

Airan = ein kaukasisches Erfrischungsgetränk auf der Basis von Kuhmilch.

 

 

In Dombai und Teberda (LESEPROBE aus: FREIE WELT Nr. 8/1987)

 

"Einhundertvierzig Kilometer beträgt die Ausdehnung des Autonomen Gebiets Karatschajo-Tscherkessiens in Nord-Süd-Richtung, in Ost-West-Richtung sind es einhundertsechzig Kilometer. Alles ist hier so nah beieinander, dass wir von unseren Ausflügen stets abends in unser Tscherkessker Hotel zurückgekehrt sind. Heute aber sieht unser Programm eine Übernachtung außerhalb von Tscherkessk vor. Im Dombaital. Wer hat nicht schon dieses Fleckchen Erde preisen hören - vielleicht ohne zu ahnen, dass es zum Territorium der Karatschaier und Tscherkessen gehört. Wir fahren bei so dunkelblauem Himmel los, dass der Verdacht gerechtfertigt erscheint, Sachar Zachilow, der Direktor der `Tscherkessischen Produktionsvereinigung Chemie´, in der u. a. Farben hergestellt werden, habe ihn extra für uns anstreichen lassen. Die Fahrt mit dem Auto führt über die Heerstraße von Suchumi, erst am Kuban entlang, vorbei am Großen Stawropoler Kanal; von hier aus trägt der Fluss, dessen Lauf Menschenwille 1962 veränderte, seine Wasser in die Trockensteppen der Stawropoler Region. Nur etwa siebzig Kilometer sind es bis zum Dombaital; über den Kluchor-Pass erreicht die Heerstraße schließlich Abchasiens Hauptstadt Suchumi, 237 Kilometer lang ist sie insgesamt.

Am linken Ufer des Kuban bestaunen wir aber erst noch eine vom Autor aus nicht auszumachende Anzahl von Gewächshäusern und hören von unserem heutigen Begleiter, dass es eines der ganz großen Gewächshauskombinate ist. Man erntet hier in einer Saison etwa 40 000 Tonnen Tomaten, Gurken, Radieschen, Zwiebeln. Der größte Teil dieser Ernte wird vertragsgemäß für die Moskauer Bevölkerung angebaut.

Und  das  ehemalige zaristische  Randgebiet  hat  sogar  mit einem wahren Superlativ aufzuwarten: Auf dem 2 380 Meter hohen Berg Pastuchow hat die Akademie der Wissenschaften der UdSSR eine astrophysikalisches Observatorium errichtet, das über das weltgrößte Teleskop mit einem Spiegel von sechs Metern Durchmesser verfügt. Und Ende der siebziger Jahre nahm RATAN-600, das größte Radioteleskop der Welt, seine Tätigkeit auf; es hat einen Durchmesser von sechshundert Metern.

 

Das Hauptinstrument des  Selentschuk-Observatoriums, das 6-Meter-Spiegelteleskop BTA-6 war zum Zeitpunkt seiner Fertigstellung 1975 bis zum Beginn der 1990er Jahre das größte Fernrohr der Welt. Allerdings gab es mit dem 42 Tonnen schweren Spiegel aus Borsilikatglas einige Probleme. So musste dieser 1978 wegen eines Risses ausgetauscht werden. Heute steht das kaukasische Selentschuk-Observatorium nur noch an 17. Stelle in der Welt.  An die erste Stelle der Welt gelangte inzwischen das Teleskop in Arizona (USA) mit 11,8 Metern fast doppelt so groß - auf 3 267 Metern über dem Meeresspiegel. – Im Dezember 2013 schickte die ESA (European Space Agency) ihr modernstes Teleskop ins All, um eine Milliarde Sterne mit noch nie dagewesener Genauigkeit zu erfassen. Die Digitalkamera Gaia kann ein einzelnes Haar aus eintausend Kilometern Entfernung erkennen. Die Mission Gaia gilt als weltweit einzigartig: Eineinhalb Millionen Kilometer von der Erde entfernt wird der Forschungssatellit fünf Jahre lang die Position der Sternen-Milliarde vermessen. Entsprechend gigantisch nimmt sich die Datenmenge aus, die Gaia zur Erde übermitteln wird: Die Datenflut dürfte über die gesamte Missionsdauer auf eine Million Gigabyte anschwellen - das entspricht laut ESA der Datenmenge auf rund zweihunderttausend DVDs.

 

Die Heerstraße führt nun immer höher hinauf, spärlicher wird die Flora, verwitterter und steiniger werden die Berggipfel beiderseits des Weges. Durch die berühmte Kurstadt Teberda fahren wir heute nur hindurch, hier werden wir auf dem Rückweg verweilen. Als wir schon glauben, die Baumgrenze hinter uns zu haben, werden die Berge mit einem mal wieder grüner, die Bäume höher.

Von Teberda aus säumen ganze Wälder von Edeltannen unseren Weg. Aus vierzig bis fünfzig Meter Höhe schauen die schlanken, gut gewachsenen Baumriesen zu uns herab, bestimmt sind sie jahrhundertealt. Nach jeder Kurve ein neuer, unvergesslich schöner Anblick, bald schon mit bizarren, teils schneebedeckten Gipfeln. Und da - das Matterhorn, wie ich es von vielen Fotos kenne. Aber nein, dieser schneebedeckte Felsriese mit seiner scharfkantigen Spitze ist der Pike Ine, zu deutsch Nadelspitze - mit seinem Spitznamen hier aber doch nach der Bergspitze der Alpen "Kaukasisches Matterhorn" genannt.

Die etwa Fünfundzwanzig-Kilometer-Fahrt von Teberda bis Dombai empfinde ich als die schönste Wegstrecke in Karatschajewo-Tscherkessien - trotz bereits genossenem wunderschönen Elbrus-Anblick. Auf meiner Lieblingsstrecke scheint alles zum Anfassen nah, majestätisch, aber nicht erdrückend.

Die Siedlung Dombai liegt im Dombaital am Fuße des Großen Kaukasus in einer Höhe von 1 650 Metern über dem Meeresspiegel. Dieses kaukasische Gebiet hat ein besonders mildes Klima: Der Sommer ist warm, ohne erstickend heiß zu werden; der Herbst ist in der Regel sonnig, still und klar; der Winter ist mild, schneereich und außerordentlich sonnig; im März läuft man Ski im Badeanzug. Die Durchschnittstemperatur beträgt hier im Januar minus 5 Grad Celsius, im Juli plus 15 Grad, die durchschnittliche Jahrestemperatur plus 6,3 Grad, sie liegt um 3,5 Grad höher als im berühmten Schweizer Kurort Davos. Über einhundertfünfzig Tage im Jahr scheint die Sonne, auch da kann Davos nicht ganz mithalten.

Wir werden aus einem Haus aus viel Holz und wenig Stein untergebracht. Bis zum Tag zuvor haben sich hier sowjetische Kosmonauten mit ihren Familien erholt. Innen sind alle Räume holzgetäfelt, die umlaufende Terrasse hat ein wunderschön geschnitztes Holzgitter.

Aber was ist all das gegen den märchenhaften Anblick auf die Berge ringsum... Zwei Hotels - `Dombai´ und `Gornye werschiny´ mit Konzertraum, Filmsaal und Schwimmhalle - stören nicht den malerischen Anblick. Was für den Architekten spricht.

 

Dombai ist ist eine Siedlung städtischen Typs im Großen Kaukasus, die zusammen mit der zwanzig Kilometer nördlicher gelegenen Kleinstadt Teberda sowie zwei weiteren Ortschaften administrativ der Stadt Karatschajewsk im Zentrum der Republik Karatschai-Tscherkessk unterstellt ist. Dombai wurde Anfang der 1920er-Jahre mit der Gründung einer der ersten Herbergen in der Hochgebirgsregion des russischen Nordkaukasus angelegt und entwickelte sich zu Sowjetzeiten zu einem landesweit beliebten Höhenkurort, der 1965 den Status einer Siedlung städtischen Typs erhielt. - Die neueste Seilbahnstrecke, eine gut 1 600 Meter lange Gondelbahn, wurde Ende 2007 in Betrieb genommen und hat ihre höchste Bergstation in 3 200 Metern Höhe.

 

Das Dombaital ist wahrlich eine Urlaubsreise wert. Hier kommen Spaziergänger, wanderfreudige Touristen und klettermutige Alpinisten gleichermaßen auf ihre Kosten. Wir haben anderntags die Qual der Wahl. Wohin?

Zu den Dombai-Tschutschchur-Wasserfällen? Diese Wanderung dauert etwa fünf bis sechs Stunden. Da fährt man zuerst mit dem Sessellift, dann wandert man durch einen dichten Wald und über Almenwiesen zum Wasserfall; die Entfernung beträgt hin und zurück zwölf Kilometer.

Oder zum Dombai-Alibek-Gletscher? Diese Fußwanderung dauert etwa acht Stunden, die Entfernung beträgt hin und zurück zweiundzwanzig Kilometer. Der Weg führt durch Nadelwald bis zum Touristenlager `Alibek´. Danach wandert man einen mit Sträuchern gesäumten schmalen Pfad über Almenwiesen zum Alibek-Gletscher, dem größten und zugänglichsten Gletscher des Dombaigebietes. Er ist vom Grün der Wälder und Wiesen umgeben, die höher als der Gletscher gelegen sind. Malerisch ist auch der Alibek-Wasserfall.

Oder zum Dombai-Mussas-Atschitara? Dauer der Fußwanderung fünf bis sechs Stunden. Aus Dombai fährt man mit dem Sessellift bis in 2 500 Meter Höhe. Und nach nur zwei Kilometern Fußwanderung erreicht man den Berg Mussa-Atschitara. Dieser Gipfel ist   d e r   Ort für einen Rundblick auf die tiefen Flusstäler und den Großen Kaukasus

Oder zum Dombai-Kluchor-Pass? Da muss man erst einmal 25 Kilometer mit dem Bus bis zur `Nordherberge´ fahren. Die Straße führt durch eine enge Schlucht entlang des reißenden Bergflusses Gonatschchir, der mitunter sogar unter den steilen, von ihm ausgewaschenen Felsabhängen verschwindet. Der Weg führt vorbei an Denkmälern und Obelisken, die zu Ehren der hier während der Schlacht um den Kaukasus 1942 bis 1943 gefallenen sowjetischen Soldaten aufgestellt wurden. An der `Nordherberge´ beginnt die Fußwanderung auf dem steilen Pfad über Almenwiesen bis zum Kluchorsee, der sich in einem tiefen Felsloch gebildet hat. Am Südhang liegt ein Gletscher, dessen Bäche über die Felsvorsprünge in den See hineinfließen. Vom See führt der Weg weiter bis zu dem in 2 782 Meter Höhe gelegenen Kluchorpass.

Ja, unsere Köchin Antonina Popitjewa kann nicht nur mit Käse gefüllte Fladen backen, sie kennt auch ihr über alles geliebtes Dombaital...

Als sie hört, dass wir nur wenige Stunden `Urlaub´ machen können, rät sie uns, mit dem Sessellift 2 500 Meter hoch zu fahren (umsteigen in 1 800 Meter Höhe) und dort den herrlichen Blick über den westlichen Kaukasus zu genießen. Mit uns tun das hier auch einige Touristen - sie allerdings in Bikini oder Badehose. Übrigens ist eine dritte Sessellift-Linie im Bau, für Bergskiläufer, sie führt 3 000 Meter hoch. Im Bau ist auch ein weiteres Hotel, mit 18 Stockwerken für 630 Gäste. Hoffentlich gelingt es auch in Zukunft, das Dombaital so schön ruhig zu erhalten, wie es heute ist."   

 

Vom Kaspischen bis zum Schwarzen Meer erstreckt sich der über  1800 Kilometer lange Kaukasus, dessen Kamm die Grenze zwischen Europa und Asien bildet. Das Dombai-Tal überrascht mit einer üppigen, fast subtropisch anmutenden Vegetation und sattgrünen Wäldern, die bis unmittelbar an die Gletscherränder heranreichen. Nirgendwo sonst in Europa sind solche Gegensätze so eng beieinander! Tageswanderungen führen entlang tosender Flüsse, durch ein Meer an Blumenwiesen bis hinauf zu glasklaren Bergseen mit Blick auf die vereisten Gipfelketten. Im benachbarten   Baksan-Tal wandert man im Schatten des 5 642 Meter hohen Vulkans Elbrus. Krönung einer Tour im Baksan-Tal ist die Fahrt mit dem Kabinenlift hinauf zum Rand des Elbrus-Gletschers auf 3 500 Meter, wo bei gutem Wetter das blendende Weiß der Elbrus-Kuppeln und der tiefblaue Himmel einen einzigartigen Kontrast bilden.

 

Mit `Gottesgabe´, abgeleitet von dem tatarischen Wort `terberdy´, übersetzen die einen den Namen des Kurorts Teberda, die anderen meinen, es heiße `Hügelland´. Wie auch immer - Teberda ist hügelig-schön, mit den hohen Berggipfeln ringsum - den dicht bewaldeten Hängen des Kel-Baschin und dem kleinen Chatipara. Bei der Einfahrt in den Ort zeichnen sich vor unseren nun schon an malerisch-karatschaiisch-tscherkessischer Schönheit gewöhnten Augen die wunderschönen Umrisse des Schaitan-Baschin ab, des Teufelsberges. Die Landschaft um Teberda ist ein bekanntes Zentrum des alpinen Sports, die Stadt selbst ein hervorragender Höhenluftkurort, und im Teberdaer Gebiet befindet sich das staatliche Naturschutzgebiet mit dem weithin bekannten Naturmuseum.

Im da noch namenlosen Teberda wurde 1882 für die an Tuberkulose leidende Gattin der Gouverneurs von Batalpaschinsk (heute Tscherkessk) die erste Datsche errichtet: in einem Kiefernwäldchen, auf der einen Seite rauschten die Wasser des Flusses Teberda, auf der anderen kräuselten sich die Wellen des Sees Kara-kjol. Die Ärzte hatten der Kranken nur noch einige Monate zugemessen, sie erfreute sich aber hier noch mehr als zwanzig Jahre ihres Lebens. Von da an war der Ruhm des nun schon Teberda geheißenen Ortes als Höhenluftkurort besiegelt. Vor der Revolution von 1917 wurden hier dann noch siebenundvierzig Grundstücke errichtet, von Leuten, die sich harte Pachtbedingungen leisten konnten.

Ein Jahrzehnt nach der Revolution war Maxim Gorki derjenige, der auf die gesundheitlichen Vorzüge Teberdas aufmerksam machte und vorschlug, hier ein Erholungsheim für Wissenschaftler einzurichten. Danach wurden Erholungsheime auch für Arbeiter erbaut, vorrangig für Kraftfahrer und Werktätige der Zementindustrie.

Während des zweiten Weltkrieges wurden von der Krim evakuierte Sanatorien mit all ihren Kindern und Tuberkulosekranken nach Teberda evakuiert. Als die Faschisten Teberda vorübergehend besetzt hatten, sonderten sie die Kranken und das Personal jüdischer Herkunft sofort aus und erschossen es. Außerdem wurden mehr als einhundertsiebzig tuberkulosekranke Kinder, ungeachtet ihrer Nationalität, in von den Deutschen eilig errichteten Gaskammern am Oberlauf des Gonatschir ermordet. Die Dokumente über diese Gräueltaten wurden 1945 von dem Assistenten des sowjetischen Hauptanklägers beim Nürnberger Prozess, L. N. Smirnow, und dem russischen Schriftsteller Alexej Tolstoi sichergestellt. Von vielen unvorstellbaren Schandtaten der Faschisten kann man in Karatschajo-Tscherkessien hören. So hatte eine russische Ärztin - nur ihr Vorname Rivetta ist überliefert - versucht, kranke Kinder in Fuhrwerken zu evakuieren. Sie wurde von den Deutschen entdeckt, alle Kinder wurden erschossen, die Ärztin folterte man zu Tode.

Nach dem Krieg wurde Teberda dem Leben wiedergegeben. Heute gibt es hier sechs Tuberkulose-Sanatorien. Wir besuchen das Sanatorium `Alibek´ und sprechen mit dem Leiter der Kurortverwaltung Ademjan Gorik. `Unsere Einrichtungen sind mit moderner Heil- und Diagnosetechnik ausgerüstet. Aber neben Medikamenten spielen die Naturfaktoren eine große Rolle. Solche heilenden Naturfaktoren sind, um nur einige zu nennen: die intensive Luftzirkulation, weil von den Gletschern ständig kalte Luftmassen ins Tal wehen, der verminderte Luftdruck, eine niedrige Luftfeuchtigkeit, der Föhn, eine erhöhte Ultraviolett-Einstrahlung, ein hoher Ionisationsgrad der Luft, die außerordentlich saubere Gebirgsluft, selten vorkommende Nebelbildung. All diese Faktoren stellen einen natürlichen Inhalationsapparat dar; unsere Genesungserfolge liegen bei neunzig Prozent.´

Als wir das Sanatorium verlassen, wird gerade an jeden Patienten das fünfte Airan-Glas des Tages ausgeschenkt...

Die höchste Erhebung des Kaukasus auf karatschaiisch-tscherkessischem Gebiet ist der Dombai-Ulgen, was übersetzt `getöteter Wisent´ heißt. Wer nicht nur Wisente, sondern auch Bären, Kaukasische Steinböcke, Bergziegen, Gämsen, Luchse, Greifvögel... zu Gesicht bekommen will, muss das Naturkundemuseum Teberda besuchen, wo sich die Tiere hinter Gittern zeigen. Vom 83 400 Hektar großen Staatlichen Naturschutzpark kann er sich lediglich vom Direktor Dshapar Salpagarow berichten lassen, dass es sich hier zum Beispiel 137 Arten von Wirbeltieren und 150 Vogelarten wohl gehen lassen, zu sehen bekommen wir sie während der kurzen Zeit unseres Aufenthaltes nicht. Auch nur wenige der im Reservat wachsenden 1 175 Blütenpflanzen - wovon 186 Arten nur im Kaukasus vorkommen - können wir mit eigenen Augen bewundern. Wir müssen uns vom Direktor von den fleischfarbenen Orchideen, den weißen Anemonen, dem blauen Enzian... vorschwärmen lassen; denn für uns heißt es - es wird schon dunkel - nach Tscherkessk zurückzuschwärmen..."

Teberda entstand 1868 als karatschaiische Siedlung. Zu Beginn 20. Jahrhunderts wurden von reichen Russen die ersten privaten Landhäuser gebaut, deren erstes 1925 in ein Tuberkulosezentrum umgewandelt wurde. In den Folgejahren entstanden immer mehr Sanatorien, das Dorf wurde nach und nach zum berühmten Kurort, der 1929 unter dem heutigen Namen Teberda, benannt nach dem  Fluss Teberda, den Status einer Siedlung städtischen Typs erhielt. Diese Entwicklung setzte sich nach dem zweiten Weltkrieg fort, womit Teberda zum wichtigsten touristischen Zentrum der Sowjetunion im Zentralteil des Kaukasus wurde. Südlich der Stadt erstreckt sich das etwa 85 000 Hektar große Biosphärenreservat, das seit 1994 Träger des Europäischen Diploms für geschützte Gebiete ist.  - In Teberda gibt es ein Museum zur Geschichte der Ortes und des Tourismus und Bergsports in diesem Gebiet, sowie ein Mineralogisches Museum.

Bei Großmutter Ssapra (LESEPROBE aus: FREIE WELT Nr. 8/1987)

 

"Goßmutter Ssapra - wie sie in ihrem Dorf Utschkeken alle nennen - hat zwei ihrer Nachbarinnen zum Handarbeitsstündchen eingeladen. Obwohl wir ungeladen sind, müssen wir uns erst einmal kräftig an allem laben, was die Küche hergibt, wenigstens von allem ein `Syjly ßjujekle´, ein `Ehrenbissen´, darf nicht abgeschlagen werden. Was es in Utschkeken aber auch für einen vorzüglichen Honig gibt! Bald schon verwandeln wir das geplante Spinn- und Strickstündchen in ein Plauderstündchen über alt-karatschaiische Bräuche. So erfahre ich, dass früher - früher, das ist immer vor der Revolution und oft auch noch Jahrzehnte danach - die Braut, der Bräutigam, die Eltern und die Verwandten der Braut, erstaunlich, aber wahr, nicht an der Hochzeit teilnehmen, das war ungeschriebenes Bescheidenheitsgesetz. Und: So war es bei den Karatschaiern Sitte, dass nach dem Tod des Vaters der jüngste Sohn - wenn er sich durch besondere Fähigkeiten auszeichnete - die Leitung der Wirtschaft übernehmen durfte. Und: So gab es bei den Karatschaiern - meint Großmutter Ssapra - keine Willkür in der Familie, denn der Familienrat, der `jujjur onou´, dem alle männlichen Familienmitglieder und das Haupt der weiblichen Hälfte des Hauses, die `jujjur bijtsche´, angehörten, konnte Entscheidungen rückgängig machen. Und: So wurde die alte, hinfällige Mutter - wenn der Vater schon tot war - stets vom jüngsten Sohn aufgenommen. Und: So durfte die Ehefrau ihr ganzes Leben lang kein einziges Wort mit den Eltern ihres Mannes sprechen. Und: So gab es den Brauch, der Braut zuerst eine `Wollkämmerin´, also ein Mädchen, und erst dann einen `Hirten´, also einen Knaben zu wünschen. War allerdings auch das zweite Kind ein Mädchen, bekam es den Namen `Boldu´, was übersetzt etwa `Es ist genug´ heißt.

 

           

 

Großmutter Ssapra verwandelt Schafwolle innerhalb von sechs Stunden in einen Schnitterhut.

Fotos: Detlev Steinberg

 

Im Institut für Ethnographie, Sprache, Literatur und Geschichte hatte uns der karatschaiische Wissenschaftler Dr. Ibragim Schamanow erzählt, dass viele Sitten und Bräuche nur mit Gesetzeskraft abgeschafft werden konnten. Zuwiderhandlungen ahndete das Gesetz ab 1928 mit empfindlichen Strafen: zum Beispiel Brautraub und zwangsweise Eheschließung mit Minderjährigen mit bis zu drei Jahren Gefängnis; Eheschließung mit Personen, die die Geschlechtsreife noch nicht erreicht hatten, mit bis zu acht Jahren Gefängnis; Zahlung und Annahme von Brautgeld mit einem Jahr Freiheitsentzug und Geldstrafe oder Zwangsarbeit. Vielweiberei - die Karatschaier sind sunnitische Muslime - brachte Zwangsarbeit bis zu einem Jahr ein. `Am wichtigsten aber war´, so Dr. Schamanow, `die Aufklärung der Bevölkerung, vor allem der Frauen. Zu ihrer ersten Gebietskonferenz 1921 kamen noch alle Frauen in Begleitung ihrer Männer und Brüder, 1928, zur Konferenz der Gebirglerinnen des Nordkaukasus, fuhren sowohl die Karatschaierinnen als auch die Tscherkessinnen bereits allein. Das Brautgeld zum Beispiel macht uns - in veränderte Form - heute noch zu schaffen. So ist noch immer ein Geschenkaustausch zwischen den Eltern üblich, und es ist auch noch Brauch, dass die Eltern des Bräutigams dreihundert bis tausend Rubel an die Eltern der Braut zahlen. Die Zeremonie des Brautgeldes ist - wenn auch in veränderter Form - sehr zählebig.´

`Großmutter Ssapra´, frage ich, `wie viel Brautgeld hat man für Sie gezahlt?´ - `Ich war ein teures Mädchen: Ich kostete eine Kuh, ein Kälbchen und vier Hammel.´"

 

 

Tscherkessinnen werden Mütter von Leningrader Waisenkindern (LESEPROBE aus: FREIE WELT Nr. 8/1987)

 

"Die Leningrader Blockade - sie traf 2,8 Millionen Menschen, alles Zivilisten. Eine von ihnen war Jekaterina. 1941 - als die Faschisten am 8. September mit ihrem Durchbruch nach Schlüsselburg, heute Petrokrepost, Leningrad vom Festland abschnitten - war sie elf Jahre alt. Ihr Vater war an der Front, die Mutter arbeitete in der Leningrader Rüstungsindustrie.

Heute ist Jekaterina Gukowa 57 Jahre alt, mit einem Tscherkessen verheiratet, sie haben sechs Kinder. Ihr Schicksal ist eines von vielen Leningrader Kindern, von Kindern, die durch die Evakuierung aus Leningrad gerettet werden konnten. Jekaterinas Vater war da schon, 1942, an der Front gefallen, die Mutter in Leningrad verhungert. `Hunger und Kälte und überall Tote´, das ist Jekaterina Gukowas Erinnerung an die entsetzlichen Blockadetage. Über dreihundert von 872 Tagen hat sie miterlebt. `Ich weiß nicht, wie viel Brot wir damals bekamen, aber es war nur ein winzig kleiner Kanten.´

Wir wissen: Die Ration für einen Arbeiter betrug knapp dreihundert Gramm Brot am Tag, alle anderen Einwohner erhielten nicht einmal einhundertfünfzig Gramm. Hunger und Kälte rafften 641 803 Menschen dahin, viele starben vor Erschöpfung auf der Straße. Auch Jekaterinas Mutter auf ihrem zehn Kilometer langen Fußweg von der Arbeit nach Hause.

 

 

Leningrader suchen auf der Sadowaja-Straße im grimmigen Kriegswinter 1942/43 nach Wasser.

Foto aus: Rellers Völkerschafts-Archiv

 

Am 21. Dezember 1941 endlich war der Ladogasee zugefroren. Diese `Straße des Lebens´ ermöglichte es, Lebensmittel in die Stadt zu bringen und Menschen aus der Stadt zu evakuieren. 1,2 Millionen Einwohner wurden über die `Straße des Lebens´ - unter Artilleriebeschuss und Bombenhagel - aus der Stadt gebracht, darunter 414 146 Kinder, vor allem die Waisen. Jekaterina weiß nicht, was aus ihrer Schwester geworden ist, auch von ihrem Bruder hat sie nie mehr etwas gehört. `Mich jedenfalls las man auf der Straße auf, ohnmächtig, nahe dem Hungertode.´ Achtundneunzig Waisenheime gab es damals in Leningrad, Jekaterina hatte den Weg in ihr Heim an jenem Tag nicht mehr geschafft. `Als ich zu mir kam, befand ich mich auf einem Lastkraftwagen, der über Eis fuhr. Wir waren etwa fünfzig Kinder, darunter viele kleine. Ich wollte mich um sie kümmern, aber ich hatte keine Kraft. Ich weiß nur noch, dass wir später auf Pferdefuhrwerke umgeladen wurden und viele Tage unterwegs waren. Wohin wir fuhren, wusste ich nicht.´

Die Kinder Leningrads wurden größtenteils in das Gebiet Jaroslawl, in die mittelasiatischen Republiken, in den Ural und nach Sibirien gebracht. Bis auf den heutigen Tag erinnert sich Jekaterina Gukowa an den Augenblick wo sie, schon im Kaukasus, eine Rast einlegten. `Ich habe später erfahren, dass es am Ufer des Bolschoi Selentschuk war. Einige Frauen, die hier in der Nähe auf dem Feld arbeiteten, kamen angelaufen, betrachteten uns und weinten. Sie wussten ja, was in Leningrad Schreckliches vor sich ging. Eine der Frauen kam auf mich zu, nahm mich an die Hand. Obwohl sie etwas zu mir in einer Sprache sagte, die ich nicht verstand, war ich gleich bereit, mit ihr zu gehen. Sie hatte so gute Augen, ganz große, ganz schwarze. Ich habe es niemals bereuen müssen, dass ich mich damals so vertrauensvoll von Fatima Achdurachmanowa an die Hand nehmen ließ.´ Der Mann der Tscherkessin Fatima war damals an der Front, sie hatte einen zweijährigen Sohn. `Fatima Achdurachmanowa war eine arme Bäuerin, sie besaß nicht einmal eine Kuh. Trotzdem habe ich von da an niemals mehr Hunger leiden müssen, sie bekam ihren zwei Jahre alten Sohn und mich immer satt.´

Zu einem Vater kam Jekaterina Gukowa auf diese Weise nicht, Fatimas Mann starb an der Front. Auch ihr neues Brüderchen war Jekaterina nicht lange vergönnt, es starb, drei Jahre alt, an Tuberkulose.

Aber Fatima Abdurachmanowa hatte nun eine Tochter, bekam einen Schwiegersohn und sechs Enkelkinder, `die sehr an ihr hängen. Mutter Fatima´, sagt Jekaterina, `ist jetzt fünfundachtzig Jahre alt und sehr krank, ich gehe täglich zu ihr.´

Jekaterina Gukowa war zwanzig Jahre alt, als sie einen tscherkessischen Schafhirten heiratete, sie selbst ist Kolchosbäuerin. Zwei Töchter der Gurkows sind Verkäuferinnen, eine ist Konditorin; zwei Söhne sind Kraftfahrer, und Murat geht in die 8. Klasse. Hat sie Leningrad inzwischen mal besucht? `Ja, einmal. Aber meine Heimat ist hier.´ Jekaterina Gukowa war damals nicht die einzige, die von mitleidigen Tscherkessinnen adoptiert wurde. Fünf weitere russische Mädchen und drei russische Jungen fanden in Karatschai-Tscherkessien eine neue Heimat.´"

 

 

Von schwarzen und weißen Schafen (LESEPROBE aus: FREIE WELT Nr. 8/1987)

 

"Karatschajo-Tscherkessiens landwirtschaftliche Nutzfläche ist etwa zur Hälfte Weidefläche. Überall trifft man hier Rinder, geradezu auf Schritt und Tritt Schafe. Auf schwarze und weiße. Die schwarzen Schafe sind sozusagen die Alteingesessenen. Aus ihrer schwarzen Wolle werden seit alters Filzstiefel und Burkas, die gewaltigen gewalkten Filzumhänge hergestellt, unter denen sich die Hirten bei Wind und Wetter warm und geborgen fühlen können. Aber ein schwarzes Schaf zu sein, tut auf Dauer nirgendwo gut, auch nicht in Karatschajo-Tscherkessien. Und so mühten sich die Wissenschaftler, allen voran Professor Dr. Semjonow vom Allunions-Forschungsinstitut für Schaf- und Ziegenzucht, und die Schafhirten, allen voran Chyissa Ishajew, seit Jahrzehnten aus schwarz weiß zu machen. Vor drei Jahren endlich bestand die neue Rasse die staatliche Prüfung und erhielt auch gleich den wohlklingenden Namen `Berg-Korridel´. Streichelt man ein solches Schaf, hat man das Gefühl, in ein molliges Mohair-Wollknäuel zu greifen. Da wir aber nicht nur zugreifen, sondern auch begreifen wollten, was hier züchterisch vor sich gegangen ist, machen wir 2 800 Meter hoch in den Bergen den in ganz Karatschajo-Tscherkessien namhaften Oberhirten Ishajew vom Kolchos `Oktjabr´ ausfindig.

Chyissa Ishajew war schon Hirt, als in ganz Karatschajo-Tscherkessien nur grobwollige Schafe der Karatschai-Rasse gezüchtet wurden, weil man glaubte, nur sie könnten sich den harten Bedingungen einer Viehhaltung auf Hochgebirgsweiden anpassen. Eine Verordnung des Rates der Volkskommissare verordnete dann am 7. März 1936 ein Umdenken: Feinwollige Schafe sollten - bei gleichbleibendem Klima - gezüchtet werden. Zwar waren Karatschajo-Tscherkessiens Schafe schon 1960 zu 73 Prozent feinwollig, brachten aber eine zu niedrige Fleisch- und Wollproduktivität und waren gegenüber den harten klimatischen Bedingungen zu wehleidig. Chyissa Ishajew erklärt uns nun geradezu mit Schafsgeduld, was man alles für Liebesbeziehungen zwischen den Mutterschafen der Karatschai-Rasse und wer weiß was für nordkaukasischen und Lincoln-Böcken ausprobieren musste, bis als Frucht dieser Schafsliebe das Berg-Korridel geboren war. Mit der Liebe von Schaf zu Schaf ist es übrigens seit 1980 vorbei, nachdem fast der gesamte Zibbenbestand künstlich besamt wird. Ich bitte Chyissa Ishajew, uns die Vorzüge eines Berg-Korridels zu beschreiben, damit wir es auch mit den richtigen Augen betrachten können. `Unsere Berg-Korridel verfügen über eine kräftige Konstitution´, antwortet er, `ein gutes Erscheinungsbild, ein hohes Lebendgewicht, sind frühreif und erreichen eine hohe Wollproduktivität. Ihre Wolle wird bis zu achtzehn Zentimeter lang, ist kräftig, seidig und verfügt über einen Lüsterglanz und eine angenehm grobe Kräuselung. Das Vlies ist von weißer Farbe, hat eine Stapel-Zopf-Struktur, eine mittlere Dichte und eine gleichmäßige Faserlänge.´ In den besten Rasseherden - natürlich ist Chyissa Ishajews eine davon - beträgt der Schurertrag an gewaschener Wolle fast vier Kilogramm, und die Fruchtbarkeit der Zibben etwa 150 Lämmer pro 100 Mutterschafe. Inzwischen verkauft Karatschajo-Tscherkessien bereits Rasse-Bocklämmer nach Armenien, Aserbaidschan, Tschetscheno-Inguschien, Kasachstan, Gorno-Altai, in die Ukraine.

`Gibt es auch noch Proleme?´ frage ich. `Ja´, antwortet Chyissa Ishajew, `nach wie vor mit der Futterversorgung. Es müssen unbedingt mehr bewässerte Böden für die Futtergewinnung genutzt und der Anbau von Futterkulturen auf berieselten Flächen erhöht werden. In unserem Kolchos ist der Ertrag nach der Schaffung eines Berieselungssystems bei mehrjährigen Gräsern und Silokulturen von 0,5 Tonnen pro Hektar auf 12,8 Tonnen pro Hektar gestiegen. Wichtig ist, den Bedingungen des Gebietes entsprechend, Möglichkeiten zur Ertragssteigerung zu finden. Für unsere Region hat sich der Bewässerungsackerbau als richtig erwiesen.´

Da man in Karatschajo-Tscherkessien aber auch heute noch auf Herden schwarzer Schafe trifft, interessiert mich, warum sie noch geduldet werden. `Nach wie vor´, sagt Chyissa Ishajew, ´wird ihre Wolle zu Filz verarbeitet und ihr Fleisch ist schmackhafter, was sich auch im Preis ausdrückt. Das Fleisch vom weißen Schaf kostet 2 Rubel 5 Kopeken das Kilogramm Lebendgewicht, das Fleisch vom schwarzen 3 Rubel 8 Kopeken.

Bliebe zu sagen, dass auch ein schwarzes Schaf sein Gutes haben kann."

 

 

Seit 1908 gab es Airan in Moskau (LESEPROBE aus: FREIE WELT Nr. 8/1987)

 

"Zwanzig Jahre alt war die tatkräftige Russin Irina Sacharowa, als sie sich auf den Weg machte, um den Karatschaiern und Tscherkessen das Geheimnis der Airanherstellung zu entlocken. Sie hatte 1906 eine Molkereifachschule absolviert und wurde 1907 von der Gesamtrussischen Ärztegesellschaft zu dieser Aktion auserwählt. Aber keiner der sonst so überaus freundlich und aufgeschlossenen Bewohner Karatschajo-Tscherkessiens war bereit, das Rezept des Nationalgetränks außer Landes zu geben. Irina Sacharowa musste unverrichteterdinge abreisen. Unterwegs wurde sie von fünf schwarz maskierten Berittenen eingeholt und gewaltsam entführt. Auftraggeber dieser `Entführung der Braut´ war der tscherkessische Fürst Bek Mirsa Baitscharow, der sich in die schöne Russin verliebt hatte. Natürlich kam es zu einer Gerichtsverhandlung. Irina verzieh dem Angeklagten und bat als Gegenleistung um, na worum schon?, um das Rezept zur Airanherstellung. Ab 1908 wurde das karatschaiisch-tscherkessische Nationalgetränk des Frohsinns, der Gesundheit und eines langen Lebens überall in Moskau zum Verkauf angeboten.

Heute scheint es in Moskau wieder in Vergessenheit geraten zu sein. Ober verbirgt es sich - sollte sich mein Gaumen nicht täuschen - etwas abgewandelt hinter einer der Kefirsorten?"

 

 

 

Das karatschaiische Märchen Namys und das Glück

 

*

Vor langer, langer Zeit lebte in einem Aul* ein alter Mann mit seiner Familie - seinem Weib, den Töchtern, den Söhnen und deren Bräuten. Eines Tages erwachte der Greis im Morgengrauen und sah: In der Nacht war dichter Schnee gefallen. Und als er aus seiner Saklja** heraustrat, erblickte er, quer über den Hof in den Schnee gestapft, eine frische Spur, die aus dem Hof hinausführte. "Wer von uns hat denn schon in aller Herrgottsfrühe das Gehöft verlassen?" Der Alte begann, sich zu beunruhigen. Kurz entschlossen, folgte er der Spur. Lange, lange musste er laufen. Die Spur führte ihn zu seinem Feld. Auf dem Feld aber stand ein dichter Hagebuttenstrauch. Und gerade dort, unter ihm, riss die Spur plötzlich ab. "He du, komm hervor, gib dich zu erkennen!" rief der Alte und beugte sich tief über das Gestrüpp. "Du bist doch aus meinem Haus davongelaufen!" - "Ich bin dein Glück", antwortete ihm unterm Strauch hervor eine Stimme. "Ich verlasse dich. Aber da du mich nun mal eingeholt hast - sprich, was soll ich dir zurücklassen! Das Vieh? Das Ackerland oder schöne Kleider?" - "Warte hier auf mich, mein Glück!" flehte der Alte. "Ich laufe nach Hause, will mich mit der Familie beraten!"

Das Glück war einverstanden, und der Mann eilte auf seinen Hof zurück und berichtete, dass sie das Glück verlassen habe. Alle versammelten sich zum Familienrat. Lange, lange überlegten sie - einigen jedoch konnten sie sich nicht. Die Frau wollte das Vieh, die Söhne wollten das Land, die Töchter die schönen Kleider. Endlich fragten sie die jüngste von den Bräuten. Und diese riet ihnen: "Erbittet euch Namys, was Ehre und Edelmut bedeutet!" - "Ach, Tochter, wie wahr du doch sprichst!" rief der Alte voller Freude. Und auch die anderen stimmten ihm zu. So schnell die Füße ihn durch den dichten Schnee tragen konnten, lief er der Spur nach, auf´s Feld hinaus, zum Hagebuttenstrauch hin. "Glück", rief er aus voller Kehle, "Glück, nimm alles mit dir fort! Nur lass unserem Haus Namys zurück!" - "Gefesselt hast du mich, Alter, an Händen und Füßen!" antwortete ihm das Glück. "Wo Namys ist, da bin auch ich! Nun kann ich euch nicht mehr verlassen!" Zurück kehrte das Glück in das Haus des Greises, und fortan lebte er mit seiner Familie ruhig und zufrieden.

 

*

 Aus dem Russischen übersetzt von Gabriele Kleiner, Redaktion: Gisela Reller

  * Aul = kaukasisches Bergdorf

** Saklja = Wohnstätte für Menschen und Tiere

"Allah schuf die Frau sündig und unrein, alles Böse, alle Sünde geht von ihr aus, sie besitzt wenig Verstand, so die Diener der muslimischen Religion. In seinen Märchen hat sich das Volk mutig eine weibliche Gegengestalt geschafften."

A. Karajewa (karatschaiische Literaturwissenschaftlerin), 1986

 

 

"Es ist das Gebiet der Karatschaier, eines gegenwärtigen [...] Volksstammes, von dem man ausserordentlich lange Zeit gar nichts wusste, [...] So haben Noth und Entbehrung im Verein mit rauhem Klima die Karatschaier auf´s höchste anspruchslos und arbeitsam gemacht und eine unbegrenzte Liebe zu ihrer jetzigen Heimath hervorgerufen."

 

Roderich von Erckert (1821-1900; deutscher Ethnograph, Kartograph und Offizier in russischen Diensten),

Der Kaukasus und seine Völker, 1887

 

 

 

Rezensionen und Literaturhinweise (Auswahl) zu den KARATSCHAIERN:

 

 

Rezension in meiner Webseite www.reller-rezensionen.de

 

KATEGORIE BELLETRISTIK: Steffi Chotiwari-Jünger (Hrsg.), Die Literaturen der Völker Kaukasiens, Neue Übersetzungen und deutschsprachige Bibliographie, Literatur der Abasiner, Abchasen, Adygen, Agulen, Armenier, Aserbaidshaner, Awaren, Balkaren, Darginer, Georgier, Inguschen, Kabardiner, Karatschaier, Kumyken, Kurden, Lakier, Lesginer, Nogaier, Osseten, Rutulen, Tabassaraner, Taten, Tschetschenen, Ubychen, Uden, Zachuren, Zowatuschen (Bazben)., Reichert Verlag, Wiesbaden 2003.

"Am meisten an diesem außerordentlich arbeitsaufwendigen Buch beeindruckt die gelungene Mischung von Lesevergnügen und Wissenschaftlichkeit. Hier kommt sowohl der Literatur liebende Leser auf seine Kosten als auch der Kaukasusspezialist."

In: www.reller-rezensionen.de

 

Literaturhinweise (Auswahl)

 

 * Monika Buttler, Die Kaukasus-Kost der Hundertjährigen, Rezepte für ein langes Leben, Urania Verlag, Berlin 1999.

Die Bewohner des Kaukasus leben nicht nur lange, sondern erhalten sich auch bis ins hohe Alter ihre Lebensfreude und eine beneidenswerte Gesundheit. Die Ernährung spielt dabei eine entscheidende Rolle. Der ausführliche Rezeptteil des Büchleins kulminiert in einem Farbteil mit einem opulent fotografierten Freundschaftsessen und einem erotischen Menü für zwei Personen, das aus einem Mango-Kefir-Drink, Spargelsuppe, einem Selleriecocktail, Wolfsbarsch mit Safran-Sauche und Reis, Feigen in Granatapfel-Sauce und einem Kardamom-Kaffee besteht...

 

 * Wladimir Markowin/Rauf Muntschajew, Kunst und Kultur im Nordkaukasus, Übertragung aus dem Russischen von Alexander Häusler, mit zahlreichen Zeichnungen und Fotos, E. A. Seemann Verlag, Leipzig 1988.

Der Nordkaukasus ist seit Jahrtausenden Siedlungsgebiet einer Vielzahl großer und kleiner Völkerschaften mit einer eigenständigen Kultur und Kunst. Nach dem zweiten Weltkrieg setzte eine intensive systematische Erforschung der Vergangenheit dieses Gebietes zwischen Schwarzem und Kaspischem Meer ein, woran der Moskauer Wissenschaftler Wladimir Markowin und der dagestanische Archäologe R. Muntschajew, beide Mitarbeiter des Instituts für Archäologie der Akademie der Wissenschaften in Moskau, maßgeblich beteiligt sind. Die Autoren legen mit diesem Buch erstmals einen Gesamtüberblick über die kulturhistorische Entwicklung in diesem Teil der Russischen Föderation vom Paläolithikum bis zum späten Mittelalter vor. Felsbilder, die berühmten Gold- und Silberfunde aus Maikop, die Koban- und Skythenkunst, das künstlerische Wirken der Alanen und Chasaren oder die Architektur des alten Derbent sind ebenso Gegenstand dieser Arbeit wie das vielgestaltige spätmittelalterliche Kunsthandwerk.

 

Roderich von Erckert, Der Kaukasus und seine Völker, Mit Textabbildungen, etc., Verlag von Paul Frohberg, Leipzig, 1887.

Aus der Einführung: "Ein zweijähriger Aufenthalt auf dem Kaukasus in höherer militärischer Stellung, gab durch dienstliche und private zu wissenschaftlichem Zweck unternommene ausgedehnte Reisen die Möglichkeit und Gelegenheit, Land und Leute in verschiedenen Gegenden und Gruppen zu erforschen und für vieles eine Anschauung zu gewinnen, was ausserhalb der gewöhnlichen Reiserouten liegt. Wenn die Schilderung freilich ein zusammenhängendes, umfassendes Ganzes bilden kann, so darf sie vielleicht den Anspruch erheben, einigen Werth darin zu besitzen, dass sie auf an Ort und Stelle gesammelten persönlichen Angaben und Eindrücken beruht, dass mit eigenen Augen geschaut, mit eigenem Ohr gehört wurde. (...) Anstrengung, Zeit und materielle Opfer, selbst Gefahr bei lokalen Schwierigkeiten wurden nicht gescheut, - in erster Linie aber anthropologische und ethnographische Forschungen angestellt, um möglichst alle noch wenige bekannte oder in vielem unbekannte Völker und Volksstämme auf dem Kamm des Gebirges und dessen Nordabhängen zu besuchen."

* Jörg Schöner/Alexander Kusnezow, Im Kaukasus, Der Einführungstext wurde von Hans-Joachim Thier aus dem Russischen übersetzt, Die Aufnahmen sind das Ergebnis vieler Wanderungen durch den Kaukasus, die der Fotograf gemeinsam mit Dr. A. Schulze unternahm, F. A. Brockhaus Verlag Leipzig 1981, 2. Auflage.

Aus der Vorbemerkung: "In diesem Bildband erzählen mein Freund Jörg Schöner und ich vom Kazkasus, richtiger gesagt, ich erzähle, und er zeigt den Kaukasus in seinen Fotos. Zunächst mache ich einige allgemeine Angaben über dieses Bergland, danach berichte ich über meine Reise durch einzelne Gebiete des Kaukasus - durch Dombai, das Elbrusgebiet, Dagestan und durch abgelegene Gegenden Georgiens - durch Swanetien und Chewsuretien. Auch Tbilissi, die Hauptstadt Georgiens, werden wir aufsuchen."

 

 

 

 

 

Bibliographie zu Gisela Reller

 

Bücher als Autorin:

 

Länderbücher:

 

*  Zwischen Weißem Meer und Baikalsee, Bei den Burjaten, Adygen und Kareliern,  Verlag Neues Leben, Berlin 1981, mit Fotos von Heinz Krüger und Zeichnungen von Karl-Heinz Döhring.

 

* Diesseits und jenseits des Polarkreises, bei den Südosseten, Karakalpaken, Tschuktschen und asiatischen Eskimos, Verlag Neues Leben, Berlin 1985, mit Fotos von Heinz Krüger und Detlev Steinberg und Zeichnungen von Karl-Heinz Döhring.

 

* Von der Wolga bis zum Pazifik, bei Tuwinern, Kalmyken, Niwchen und Oroken, Verlag der Nation, Berlin 1990, 236 Seiten mit Fotos von Detlev Steinberg und Zeichnungen von Karl-Heinz Döhring.

 

Biographie:

 

* Pater Maksimylian Kolbe, Guardian von Niepokalanów und Auschwitzhäftling Nr. 16 670, Union Verlag, Berlin 1984, 2. Auflage.

 

 

... als Herausgeberin:

 

Sprichwörterbücher:

 

* Aus Tränen baut man keinen Turm, ein kaukasischer Spruchbeutel, Weisheiten der Adygen, Dagestaner und Osseten, Eulenspiegel Verlag Berlin in zwei Auflagen (1983 und 1985), von mir übersetzt und herausgegeben, illustriert von Wolfgang Würfel.

* Dein Freund ist dein Spiegel, ein Sprichwörter-Büchlein mit 111 Sprichwörtern der Adygen, Dagestaner Kalmyken, Karakalpaken, Karelier, Osseten, Tschuktschen und Tuwiner, von mir gesammelt und zusammengestellt, mit einer Vorbemerkung und ethnographischen Zwischentexten versehen, die Illustrationen stammen von Karl Fischer, die Gestaltung von Horst Wustrau, Herausgeber ist die Redaktion FREIE WELT, Berlin 1986.

 * Liebe auf Russisch, ein in Leder gebundenes Mini-Bändchen im Schuber mit Sprichwörtern zum Thema „Liebe“, Buchverlag Der Morgen, Berlin 1990, von mir (nach einer Interlinearübersetzung von Gertraud Ettrich) in Sprichwortform gebracht, herausgegeben und mit einem Nachwort versehen, illustriert von Annette Fritzsch.

Aphorismenbuch:

* 666 und sex mal Liebe, Auserlesenes, 2. Auflage, Mitteldeutscher Verlag Halle/Leipzig, 200 Seiten mit Vignetten und Illustrationen von Egbert Herfurth.

 

... als Mitautorin:

 

Kinderbücher:

 

* Warum? Weshalb? Wieso?, Ein Frage-und-Antwort-Buch für Kinder, Band 1 bis 5, Herausgegeben von Carola Hendel, reich illustriert, Verlag Junge Welt, Berlin 1981 -1989.

 

Sachbuch:

 

* Die Stunde Null, Tatsachenberichte über tapfere Menschen in den letzten Tagen des zweiten Weltkrieges, Hrsg. Ursula Höntsch, Verlag der Nation 1966.

 

 

... als Verantwortliche Redakteurin:

 

* Leben mit der Erinnerung, Jüdische Geschichte in Prenzlauer Berg, Edition  Hentrich, Berlin 1997, mit zahlreichen Illustrationen.

 

* HANDSCHLAG, Vierteljahreszeitung für deutsche Minderheiten im Ausland, Herausgegeben vom Kuratorium zur kulturellen Unterstützung deutscher Minderheiten im Ausland e. V., Berlin 1991 - 1993.

 

 

 

 

 

Pressezitate (Auswahl)  zu Gisela Rellers Buchveröffentlichungen:

 

 

Dieter Wende in der „Wochenpost“ Nr. 15/1985:

„Es ist schon eigenartig, wenn man in der Wüste Kysyl-Kum von einem Kamelzüchter gefragt wird: `Kennen Sie Gisela Reller?´ Es ist schwer, dieser Autorin in entlegenen sowjetischen Regionen zuvorzukommen. Diesmal nun legt sie mit ihrem Buch Von der Wolga bis zum Pazifik Berichte aus Kalmykien, Tuwa und von der Insel Sachalin vor. Liebevolle und sehr detailgetreue Berichte auch vom Schicksal kleiner Völker. Die ethnografisch erfahrene Journalistin serviert Besonderes. Ihre Erzählungen vermitteln auch Hintergründe über die Verfehlungen bei der Lösung des Nationalitätenproblems.“

B(erliner) Z(eitung) am Abend vom 24. September 1981:

"Gisela Reller, Mitarbeiterin der Illustrierten FREIE WELT, hat autonome Republiken und Gebiete kleiner sowjetischer Nationalitäten bereist: die der Burjaten, Adygen und Karelier. Was sie dort ... erlebte und was Heinz Krüger fotografierte, ergíbt den informativen, soeben erschienenen Band Zwischen Weißem Meer und Baikalsee."

Sowjetliteratur (Moskau)Nr. 9/1982:

 "(...) Das ist eine lebendige, lockere Erzählung über das Gesehene und Erlebte, verflochten mit dem reichhaltigen, aber sehr geschickt und unaufdringlich dargebotenen Tatsachenmaterial. (...) Allerdings verstehe ich sehr gut, wie viel Gisela Reller vor jeder ihrer Reisen nachgelesen hat und wie viel Zeit nach der Rückkehr die Bearbeitung des gesammelten Materials erforderte. Zugleich ist es ihr aber gelungen, die Frische des ersten `Blickes´ zu bewahren und dem Leser packend das Gesehene und Erlebte mitzuteilen. (...) Es ist ziemlich lehrreich - ich verwende bewusst dieses Wort: Vieles, was wir im eigenen Lande als selbstverständlich aufnehmen, woran wir uns ja gewöhnt haben und was sich unserer Aufmerksamkeit oft entzieht, eröffnet sich für einen Ausländer, sei es auch als Reisender, der wiederholt in unserem Lande weilt, sozusagen in neuen Aspekten, in neuen Farben und besitzt einen besonderen Wert. (...) Mir gefällt ganz besonders, wie gekonnt sich die Autorin an literarischen Quellen, an die Folklore wendet, wie sie in den Text ihres Buches Gedichte russischer Klassiker und auch wenig bekannter nationaler Autoren, Zitate aus literarischen Werken, Märchen, Anekdoten, selbst Witze einfügt. Ein treffender während der Reise gehörter Witz oder Trinkspruch verleihen dem Text eine besondere Würze. (...) Doch das Wichtigste im Buch Zwischen Weißem Meer und Baikalsee sind die Menschen, mit denen Gisela Reller auf ihren Reisen zusammenkam. Unterschiedlich im Alter und Beruf, verschieden ihrem Charakter und Bildungsgrad nach sind diese Menschen, aber über sie alle vermag die Autorin kurz und treffend mit Interesse und Sympathie zu berichten. (...)"

Neue Zeit vom 18. April 1983:

„In ihrer biographischen Skizze über den polnischen Pater Maksymilian Kolbe schreibt Gisela Reller (2. Auflage 1983) mit Sachkenntnis und Engagement über das Leben und Sterben dieses außergewöhnlichen Paters, der für den Familienvater Franciszek Gajowniczek freiwillig in den Hungerbunker von Auschwitz ging.“

Der Morgen vom 7. Februar 1984:

„`Reize lieber einen Bären als einen Mann aus den Bergen´. Durch die Sprüche des Kaukasischen Spruchbeutels weht der raue Wind des Kaukasus. Der Spruchbeutel erzählt auch von Mentalitäten, Eigensinnigkeiten und Bräuchen der Adygen, Osseten und Dagestaner. Die Achtung vor den Alten, die schwere Stellung der Frau, das lebensnotwendige Verhältnis zu den Tieren. Gisela Reller hat klug ausgewählt.“

1985 auf dem Solidaritätsbasar auf dem Berliner Alexanderplatz: Gisela Reller (vorne links) verkauft ihren „Kaukasischen Spruchbeutel“ und 1986 das extra für den Solidaritätsbasar von ihr herausgegebene Sprichwörterbuch „Dein Freund ist Dein Spiegel“.

Foto: Alfred Paszkowiak

 Neues Deutschland vom 15./16. März 1986:

"Vor allem der an Geschichte, Bräuchen, Nationalliteratur und Volkskunst interessierte Leser wird manches bisher `Ungehörte´ finden. Er erfährt, warum im Kaukasus noch heute viele Frauen ein Leben lang Schwarz tragen und was es mit dem `Ossetenbräu´ auf sich hat, weshalb noch 1978 in Nukus ein Eisenbahnzug Aufsehen erregte und dass vor Jahrhunderten um den Aralsee fruchtbares Kulturland war, dass die Tschuktschen vier Begriff für `Freundschaft´, aber kein Wort für Krieg besitzen und was ein Parteisekretär in Anadyr als notwendigen Komfort, was als entbehrlichen Luxus ansieht. Großes Lob verdient der Verlag für die großzügige Ausstattung von Diesseits und jenseits des Polarkreises.“

 

 

 Gisela Reller während einer ihrer über achthundert Buchlesungen in der Zeit von 1981 bis 1991.

 

Berliner Zeitung vom 2./3. Januar 1988:

„Gisela Reller hat klassisch-deutsche und DDR-Literatur auf Liebeserfahrungen durchforscht und ist in ihrem Buch 666 und sex mal Liebe 666 und sex mal fündig geworden. Sexisch illustriert, hat der Mitteldeutsche Verlag Halle alles zu einem hübschen Bändchen zusammengefügt.“

Neue Berliner Illustrierte (NBI) Nr. 7/88:

„Zu dem wohl jeden bewegenden Thema finden sich auf 198 Seiten 666 und sex mal Liebe mannigfache Gedanken von Literaten, die heute unter uns leben, sowie von Persönlichkeiten, die sich vor mehreren Jahrhunderten dazu äußerten.“

Das Magazin Nr. 5/88.

 

"`Man gewöhnt sich daran, die Frauen in solche zu unterscheiden, die schon bewusstlos sind, und solche, die erst dazu gemacht werden müssen. Jene stehen höher und gebieten dem Gedenken. Diese sind interessanter und dienen der Lust. Dort ist die Liebe Andacht und Opfer, hier Sieg und Beute.´ Den Aphorismus von Karl Kraus entnahmen wir dem Band 666 und sex mal Liebe, herausgegeben von Gisela Reller und illustriert von Egbert Herfurth."

 

 

Schutzumschlag zum „Buch 666 und sex mal Liebe“ .

Zeichnung: Egbert Herfurth

 

FÜR DICH, Nr. 34/89:

 

"Dem beliebten Büchlein 666 und sex mal Liebe entnahmen wir die philosophischen und frechen Sprüche für unser Poster, das Sie auf dem Berliner Solidaritätsbasar kaufen können. Gisela Reller hat die literarischen Äußerungen zum Thema Liebe gesammelt, Egbert Herfurth hat sie trefflich illustriert."

 

Messe-Börsenblatt, Frühjahr 1989:

 

"Die Autorin – langjährige erfolgreiche Reporterin der FREIEN WELT - ist bekannt geworden durch ihre Bücher Zwischen Weißem Meer und Baikalsee und Diesseits und jenseits des Polarkreises. Diesmal schreibt die intime Kennerin der Sowjetunion in ihrem Buch Von der Wolga bis zum Pazifik über die Kalmyken, Tuwiner und die Bewohner von Sachalin, also wieder über Nationalitäten und Völkerschaften. Ihre Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft wird uns in fesselnden Erlebnisberichten nahegebracht."

 

Im Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel schrieb ich in der Ausgabe 49 vom 7. Dezember 1982 unter der Überschrift „Was für ein Gefühl, wenn Zuhörer Schlange stehen“:

„Zu den diesjährigen Tagen des sowjetischen Buches habe ich mit dem Buch Zwischen Weißem Meer und Baikalsee mehr als zwanzig Lesungen bestritten. (…) Ich las vor einem Kreis von vier Personen (in Klosterfelde) und vor 75 Mitgliedern einer DSF-Gruppe in Finow; meine jüngsten Zuhörer waren Blumberger Schüler einer 4. Klasse, meine älteste Zuhörerin (im Schwedter Alten- und Pflegeheim) fast 80 Jahre alt. Ich las z.B. im Walzwerk Finow, im Halbleiterwerk Frankfurt/Oder, im Petrolchemischen Kombinat Schwedt; vor KIM-Eiersortierern in Mehrow, vor LPG-Bauern in Hermersdorf, Obersdorf und Bollersdorf; vor zukünftigen Offizieren in Zschopau; vor Forstlehrlingen in Waldfrieden; vor Lehrlingen für Getreidewirtschaft in Kamenz, vor Schülern einer 7., 8. und 10 Klasse in Bernau, Schönow und Berlin; vor Pädagogen in Berlin, Wandlitz, Eberswalde. - Ich weiß nicht, was mir mehr Spaß gemacht hat, für eine 10. Klasse eine Geographiestunde über die Sowjetunion einmal ganz anders zu gestalten oder Lehrern zu beweisen, dass nicht einmal sie alles über die Sowjetunion wissen – was bei meiner Thematik – `Die kleinen sowjetischen Völkerschaften!´ – gar nicht schwer zu machen ist. Wer schon kennt sich aus mit Awaren und Adsharen, Ewenken und Ewenen, Oroken und Orotschen, mit Alëuten, Tabassaranern, Korjaken, Itelmenen, Kareliern… Vielleicht habe ich es leichter, Zugang zu finden als mancher Autor, der `nur´ sein Buch oder Manuskript im Reisegepäck hat. Ich nämlich schleppe zum `Anfüttern´ stets ein vollgepacktes Köfferchen mit, darin von der Tschuktschenhalbinsel ein echter Walrosselfenbein-Stoßzahn, Karelische Birke, burjatischer Halbedelstein, jakutische Rentierfellbilder, eskimoische Kettenanhänger aus Robbenfell, einen adygeischen Dolch, eine karakalpakische Tjubetejka, der Zahn eines Grauwals, den wir als FREIE WELT-Reporter mit harpuniert haben… - Schön, wenn alles das ganz aufmerksam betrachtet und behutsam befühlt wird und dadurch aufschließt für die nächste Leseprobe. Schön auch, wenn man schichtmüde Männer nach der Veranstaltung sagen hört: `Mensch, die Sowjetunion ist ja interessanter, als ich gedacht habe.´ Oder: `Die haben ja in den fünfundsechzig Jahren mit den `wilden´ Tschuktschen ein richtiges Wunder vollbracht.´ Besonders schön, wenn es gelingt, das `Sowjetische Wunder´ auch denjenigen nahezubringen, die zunächst nur aus Kollektivgeist mit ihrer Brigade mitgegangen sind. Und: Was für ein Gefühl, nach der Lesung Menschen Schlange stehen zu sehen, um sich für das einzige Bibliotheksbuch vormerken zu lassen. (Schade, wenn man Kauflustigen sagen muss, dass das Buch bereits vergriffen ist.) – Dank sei allen gesagt, die sich um das zustande kommen von Buchlesungen mühen – den Gewerkschaftsbibliothekaren der Betriebe, den Stadt- und Kreisbibliothekaren, den Buchhändlern, die oft aufgeregter sind als der Autor, in Sorge, `dass auch ja alles klappt´. – Für mich hat es `geklappt´, wenn ich Informationen und Unterhaltung gegeben habe und Anregungen für mein nächstes Buch mitnehmen konnte.“

 

Die Rechtschreibung der Texte wurde behutsam der letzten Rechtschreibreform angepasst.

Die KARATSCHAIER wurden am 14.05.2014 ins Netz gestellt. Die letzte Bearbeitung erfolgte am 16.01.2016.

Die Weiterverwertung der hier veröffentlichten Texte, Übersetzungen, Nachdichtungen, Fotos, Zeichnungen, Illustrationen... ist nur mit Verweis auf die Internetadresse www.reller-rezensionen.de gestattet - und mit  korrekter Namensangabe des jeweils genannten geistigen Urhebers.  

Zeichnung: Karl-Heinz Döhring