Vorab!
Leider kommt im Internet bei meinem (inzwischen veralteten) FrontPage-Programm längst nicht alles so, wie von mir in html angegeben. Farben kommen anders, als von mir geplant, Satzbreiten wollen nicht so wie von mir markiert, Bilder kommen manchmal an der falschen Stelle, und - wenn ich Pech habe - erscheint statt des Bildes gar eine Leerstelle.
Was tun? Wer kann helfen?
*
Wird laufend bearbeitet!
Ich bin eine Karakalpakin: Die .
Foto:
Fotos und Illustrationen richtig, aber statt Karelier = Karakalpaken
"Die Seele, denke ich, hat keine Nationalität."
Juri Rytchëu (tschuktschischer Schriftsteller, 1930 bis 2008) in: Im Spiegel des Vergessens, 2007
Wenn wir für das eine Volk eine Zuneigung oder gegen das andere eine Abneigung hegen, so beruht das, ob wir uns dessen bewusst sind oder nicht, auf dem, was wir von dem jeweiligen Volk wissen oder zu wissen glauben. Das ist – seien wir ehrlich – oft sehr wenig, und manchmal ist dieses Wenige auch noch falsch.
Ich habe für die Berliner Illustrierte FREIE WELT jahrelang die Sowjetunion bereist, um – am liebsten - über abwegige Themen zu berichten: über Hypnopädie und Suggestopädie, über Geschlechtsumwandlung und Seelenspionage, über Akzeleration und geschlechtsspezifisches Kinderspielzeug... Außerdem habe ich mit jeweils einem deutschen und einem Wissenschaftler aus dem weiten Sowjetland vielteilige Lehrgänge erarbeitet.* Ein sehr interessantes Arbeitsgebiet! Doch 1973, am letzten Abend meiner Reise nach Nowosibirsk – ich hatte viele Termine in Akademgorodok, der russischen Stadt der Wissenschaften – machte ich einen Abendspaziergang entlang des Ob. Und plötzlich wurde mir klar, dass ich zwar wieder viele Experten kennengelernt hatte, aber mit der einheimischen Bevölkerung kaum in Kontakt gekommen war.
Da war in einem magischen Moment an einem großen sibirischen Fluss - Angesicht in Angesicht mit einem kleinen (grauen!) Eichhörnchen - die große FREIE WELT-Völkerschafts-Serie** geboren!
Und nun reiste ich ab 1975 jahrzehntelang zu zahlreichen Völkern des Kaukasus, war bei vielen Völkern Sibiriens, war in Mittelasien, im hohen Norden, im Fernen Osten und immer wieder auch bei den Russen.
Nach dem Zerfall der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken zog es mich – nach der wendegeschuldeten Einstellung der FREIEN WELT***, nun als Freie Reisejournalistin – weiterhin in die mir vertrauten Gefilde, bis ich eines Tages mehr über die westlichen Länder und Völker wissen wollte, die man mir als DDR-Bürgerin vorenthalten hatte.
Nach mehr als zwei Jahrzehnten ist nun mein Nachholebedarf erst einmal gedeckt, und ich habe das Bedürfnis, mich wieder meinen heißgeliebten Tschuktschen, Adygen, Niwchen, Kalmyken und Kumyken, Ewenen und Ewenken, Enzen und Nenzen... zuzuwenden.
Deshalb werde ich meiner Webseite www.reller-rezensionen.de (mit inzwischen weit mehr als fünfhundert Rezensionen), die seit 2002 im Netz ist, ab 2013 meinen journalistischen Völkerschafts-Fundus von fast einhundert Völkern an die Seite stellen – mit ausführlichen geographischen und ethnographischen Texten, mit Reportagen, Interviews, Sprichwörtern, Märchen, Gedichten, Literaturhinweisen, Zitaten aus längst gelesenen und neu erschienenen Büchern; so manches davon, teils erstmals ins Deutsche übersetzt, war bis jetzt – ebenfalls wendegeschuldet – unveröffentlicht geblieben.
Sollten sich in meinem Material Fehler oder Ungenauigkeiten eingeschlichen haben, teilen Sie mir diese bitte am liebsten in meinem Gästebuch oder per E-Mail gisela@reller-rezensionen.de mit. Überhaupt würde ich mich über eine Resonanz meiner Nutzer freuen!
Gisela Reller
* Lernen Sie Rationelles Lesen" / "Lernen Sie lernen" / "Lernen Sie reden" / "Lernen Sie essen" / "Lernen Sie, nicht zu rauchen" / "Lernen Sie schlafen" / "Lernen Sie logisches Denken"...
** Im 1999 erschienenen Buch „Zwischen `Mosaik´ und `Einheit´. Zeitschriften in der DDR“ von Simone Barck, Martina Langermann, Siegfried Lokatis (Hrsg.), erschienen im Berliner Ch. Links Verlag, ist eine Tabelle veröffentlicht, aus der hervorgeht, dass die Völkerschaftsserie der FREIEN WELT von neun vorgegebenen Themenkreisen an zweiter Stelle in der Gunst der Leser stand – nach „Gespräche mit Experten zu aktuellen Themen“.
(Quelle: ZA Universität Köln, Studie 6318)
*** Christa Wolf zur Einstellung der Illustrierten FREIE WELT in ihrem Buch "Auf dem Weg nach Tabou, Texte 1990-1994", Seite 53/54: „Aber auf keinen Fall möchte ich den Eindruck erwecken, in dieser Halbstadt werde nicht mehr gelacht. Im Gegenteil! Erzählt mir doch neulich ein Kollege aus meinem Verlag (Helmut Reller) – der natürlich wie zwei Drittel der Belegschaft längst entlassen ist –, daß nun auch seine Frau (Gisela Reller), langjährige Redakteurin einer Illustrierten (FREIE WELT) mitsamt der ganzen Redaktion gerade gekündigt sei: Die Zeitschrift werde eingestellt. Warum wir da so lachen mußten? Als im Jahr vor der `Wende´ die zuständige ZK-Abteilung sich dieser Zeitschrift entledigen wollte, weil sie, auf Berichterstattung aus der Sowjetunion spezialisiert, sich als zu anfällig erwiesen hatte, gegenüber Gorbatschows Perestroika, da hatten der Widerstand der Redaktion und die Solidarität vieler anderer Journalisten das Blatt retten können. Nun aber, da die `Presselandschaft´ der ehemaligen DDR, der `fünf neuen Bundesländer´, oder, wie der Bundesfinanzminister realitätsgerecht sagt: `des Beitrittsgebiets´, unter die vier großen westdeutschen Zeitungskonzerne aufgeteilt ist, weht ein schärferer Wind. Da wird kalkuliert und, wenn nötig, emotionslos amputiert. Wie auch die Lyrik meines Verlages (Aufbau-Verlag), auf die er sich bisher viel zugute hielt: Sie rechnet sich nicht und mußte aus dem Verlagsprogramm gestrichen werden. Mann, sage ich. Das hätte sich aber die Zensur früher nicht erlauben dürfen! – "Das hätten wir uns von der auch nicht gefallen lassen", sagt eine Verlagsmitarbeiterin.
Wo sie recht hat, hat sie recht.“
Wenn Sie sich die folgenden Texte zu Gemüte geführt und Lust bekommen haben, Karakalpakien zu bereisen, sei Ihnen das Reisebüro ? empfohlen; denn – so lautet ein karakalpakisches Sprichwort -
Der kürzeste Weg zu sich selbst führt um die Welt herum.
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Die KARAKALPAKEN… (Eigenbezeichnung: Karakalpak = Schwarzmützen)
Die Karakalpaken sind aus der Vermischung autochthoner, am Aralsee lebender iranischsprachiger Völkerschaften mit seit dem 6. Jahrhundert immer wieder eindringenden Türkvölkern hervorgegangen.
Bevölkerung:
Fläche: Karakalpakstan (veraltet/sowjetisch: Karakalpakien) hat eine Fläche von 164 900 Quadratkilometern. Karakalpakstan nimmt den nordwestlichen Teil der Wüste Kysylkum ein, den südöstlichen Teil des Ustjurt-Plateaus, das Delta des Amu-Darja (Amudarja), den südlichen Teil des Aralsees, im Südwesten berühren sie die vorrückenden Ausläufer der Wüste Karakum. Auf Karakalpakstan entfallen fast zwei Fünftel der Gesamtfläche Usbekistans. Mehr als vier Fünftel ihres Territoriums bestehen aus Wüsten. Nahezu alle Siedlungen des Landes liegen im zentralen Teil der Republik, im Delta-Tal des Flusses Amudarja.
Geschichtliches: Nach dem Niedergang der mongolischen Goldenen Horde, unter deren Herrschaft die Karakalpaken seit dem 13. Jahrhundert standen, lebten sie in freien Stammesverbänden als Halbnomaden am unteren Syr-Darja. Im 17. Jahrhundert kamen die Karakalpaken teils unter die Herrschaft der Kasachen, teils auch unter die des Khans von Buchara. Von Kasachen und einfallenden (mongolischen) Dzungaren/Dsungaren (auch Oiraten genannt) bedrängt, wich eine Gruppe der Karakalpaken in das Fergana-Tal aus, wo sie sich den Usbeken anschlossen. Der größte Teil der Karakalpaken zog aber in das Amu-Darja-Delta an den Aralsee. Hier kamen sie zu Beginn des 19. Jahrhunderts unter die Herrschaft des Khanats von Chiwa. Die rechts des Amu-Darja siedelnden Karakalpaken gerieten 1873 durch die Annexion ihres Gebietes unter russische Herrschaft, während der Rest unter der Gewalt des bis 1920 als russisches Protektorat weiterexistierenden Khanats Chiwa blieb.
Das Khanat Chiwa, auch als Khanat von Buchara bekannt, existierte von 1512 bis 1920 und stand seit 1873 unter russischem Protektorat; die Hauptstadt war Xiva.
Staatsgefüge: Nach der Oktoberrevolution wurde 1920 das Khanat Chiwa durch die Choresmische Sowjetische Volksrepublik ersetzt, die 1924 aufgelöst wurde. Aus Teilen ihres Territoriums und mit dem seit 1918 zur Turkestanischen ASSR gehörenden Teil Karakalpakiens rechts des Amu-Darja wurde 1925 ein Karakalpakisches Autonomes Gebiet im Rahmen der Kasachischen SSR* gebildet, die zur RSFSR** gehörte. 1932 erhielt das Autonome Gebiet der Karakalpaken den Status einer ASSR, die im Dezember 1936 der Usbekischen SSR angeschlossen wurde. Im Dezember 1990 erklärte die ASSR ihre staatliche Souveränität. Seit Januar 1992 lautet ihre Bezeichnung Republik Karakalpakstan.
Die Choresmische Sowjetische Volksrepublik wurde 1920 gebildet, nachdem der Marionetten-Herrscher Sayyid Abdullah Khan, der letzte Khan von Chiwa, am 2. Februar 1920 abgedankt hatte. Am 20. Oktober 1923 wurde die Volksrepublik in die Choresmische Sozialistische Sowjet-republik umgewandelt.
* ASSR = Autonome Sozialistische Sowjetrepublik
** RSFSR = Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik
Verbannungsgebiet:
Hauptstadt: Nukus wurde am 1. April 1932 gegründet, weil die alte Hauptstadt Turtkul (Tortkul) ungünstig gelegen und ständig von den Fluten des Amu-Darja bedroht war. Inzwischen ist Nukus der kulturelle Mittelpunkt Karakalpakstans mit Universität, Pädagogischer Hochschule, Theater, Kunst-Museum.
Wirtschaft:
2014 belegt die im Westen Usbekistans gelegene autonome Republik Karakalpakstan hinsichtlich ihrer Pro-Kopf-Wirtschaftsleistung unter allen zwölf Regionen des Landes den letzten Platz. In der Wirtschaftsstruktur des Landes spielt die Landwirtschaft ungeachtet ihrer geringen Produktivität, der sich zunehmend verschärfenden Bewässerungsprobleme und Bodenversalzung die größte Rolle. Sie war 2010 am erwirtschafteten Bruttoregionalprodukt mit 22,4% beteiligt. Die Industrie kam auf 8,4%, die Bauwirtschaft auf 8,3%, der Sektor Transport/Kommunikation auf 7,3% und der Handel auf 6,3%.Transferleistungen aus dem Ausland (im Wesentlichen Geldüberweisungen karakalpakischer Gastarbeiter), Hilfsgelder aus der Zentrale in Taschkent, international finanzierte Projekte zur Förderung der Wirtschaft, der sozialen Infrastruktur (mit den Schwerpunkten Trinkwasser- und medizinische Versorgung) sowie öffentliche und private Dienstleistungen standen für gut zwei Fünftel der Wirtschaftsleistung. - Die geringe Wirtschaftskraft der autonomen Republik einschließlich des bisher wenig entwickelten Außenhandels steht im Kontrast zu den potenziellen Entwicklungsmöglichkeiten des Landes. Nach Angaben des Ministeriums für Außenwirtschaftsbeziehungen, Investitionen und Handel beläuft sich das gegenwärtige Investitionspotenzial Karakalpakstans auf etwa 6,4 Mrd. US$. Fast zwei Fünftel davon (2,4 Mrd. US$) entfallen auf die Chemieindustrie (Schwerpunkt Gaschemie) und weitere knapp drei Zehntel (1,8 Mrd. US$) auf die Ölwirtschaft (Ölverarbeitung). In den Bergbau könnten auf längere Sicht etwa 0,6 Mrd. US$ fließen. - Die Hauptwirtschaftszweige sind die Förderung von Erdöl und Erdgas, die Gewinnung von Salzen und Phosphoriten, der Bewässerungsfeldbau (Baumwolle, Reis), die Schaf- und Seidenraupenzucht sowie die Textilindustrie.
"Karakalpakstan verfügt mir seinem bisher kaum genutzten Rohstoffpotenzial über große Entwicklungschancen."
Rasim Heydarow am 13.06.2011
Die Anlagechancen in der Industrie basieren auf den in der Republik vorhandenen beachtlichen natürlichen Ressourcen wie Öl und Gas, Titan-Magnesium-Eisenerze (prognostizierte Vorräte: 5 Milliarden Tonnen), Gold-, Uran-, Wolfram- und Phosphorerze, Magnesiumsulfat- und Kochsalze sowie Ausgangsstoffe für die Bauindustrie und andere Industriezweige. In der geologischen Erkundung und Erschließung der Kohlenwasserstoffvorkommen auf der wüstenartigen Hochebene Ustjurt-Plateau und im usbekischen Teil des Aralsees haben Unternehmen aus Russland, Korea, der VR China, Malaysia und Vietnam erste Projekte gestartet.
Verkehr:
Sprache/Schrift: Das Karakalpakische gehört zur Kiptschakischen Gruppe der westlichen Türksprachen. Die russische Zeitschrift `Westnik Wospitanija´ (`Mitteilungen des Erziehungswesens´) prophezeite neun Jahre vor der Oktoberrevolution, daß viertausendsechshundert Jahre vergehen müssten, bis in Turkestan das Analphabetentum überwunden sein würde... In der Region Turkestan, zu der vor 1917 alle mittelasiatischen Völker gehörten, konnten von hundert Einwohnern nur drei lesen und schreiben. Und in Karakalpakien waren es sogar nur zwei von tausend! 1919 unterschrieb Lenin ein Dekret, in dem angewiesen wurde, der Bevölkerung im Alter von acht bis fünfzig Jahren das Lesen und Schreiben beizubringen - in der Muttersprache oder in der russischen Sprache. Doch eine Fibel in karakalpakischer Sprache konnte erst 1925 herausgegeben werden., nach der Ausarbeitung eines karakalpakischen Alphabets auf der Grundlage des arabischen Schriftbildes; ab 1928 vollzog man den Übergang zum lateinischen Alphabet, 1940 zu den kyrillischen Schriftzeichen. - Das Karakalpakische ist zusammen mit dem Usbekischen Amtssprache. Aber auch das Russische spielt in Karakalpakstan eine große Rolle.
Literatursprache/Literatur: Karakalpakisch ist seit 1924 Literatursprache.
Berdach/Jussupow
Bildung: 1959 wurde in Karakalpakiens Hauptstadt Nukus die erste Filiale der Akademie der Wissenschaften der Usbekischen SSR eröffnet, in der Mitte der achtziger Jahre mehr als 700 wissenschaftliche Mitarbeiter tätig waren. Zum gleichen Zeitpunkt gab es eine Universität, 23 Fachschulen, etwa 700 Schulen - eine viertel Million Lernende.
Kultur/Kunst:
Zitat: "Kaum jemand würde sich in die abgelegene Stadt Nukus verirren, befände sich dort nicht eine der bedeutendsten Sammlungen russischer Avantgarde-Kunst. Die einzigartige Kollektion verdankt ihre Existenz der Abgeschiedenheit der zentralasiatischen Wüstenei und der Courage des Künstlers und Sammlers Igor Sawitzki. 40 000 Werke einst verbotener Kunst hat er über Jahrzehnte vor den Zensoren des Diktators Josef Stalin verborgen."
Ann-Dorit Boy in: art Das Kunstmagazin vom 04.10.2015
Gesundheitswesen:
Klima: In der Republik Karakalpakstan herrscht trockenheißes Wüstenklima, mehr als 40 Grad plus sind keine Seltenheit; doch Nachtfröste setzen in Karakalpakstan einen ganzen Monat früher ein als im übrigen Usbekistan. Viel Regen fällt meist von November bis April/Mai. In Karakalpakstan herrscht im Jahr ein Temperaturunterschied von bis zu 80 Grad
Natur/Umwelt:
Der Aralsee liegt an der Grenze von Kasachstan zu Usbekistan. Er wurde über Jahrtausende hinweg von zwei großen Flüssen gespeist, dem Amudarja und dem Syrdarja. Schon als Alexander der Große das Gebiet 334 v. Chr. eroberte, hatten die beiden Flüsse eine lange Geschichte als Lebensadern Zentralasiens. Das änderte sich, als aus dem vormaligen Turkestan im Jahr 1925 die Usbekische Sowjetrepublik wurde. Damals beschloss Josef Stalin, die mittelasiatischen Sowjetrepubliken in riesige Baumwollplantagen zu verwandeln. Weil die Region für den Anbau zu trocken war, machten sich die Sowjets an eines der ehrgeizigsten Ingenieurprojekte der Weltgeschichte: Auf Tausenden von Kilometern hoben Millionen Hände Bewässerungskanäle aus, um das Wasser der Flüsse in die umgebende Wüste umzuleiten. 1987 war der Wasserspiegel des Aralsees so weit gesunken, dass er sich in zwei Gewässer teilte: einen nördlichen See in Kasachstan und einen größeren südlichen im usbekischen Karakalpakien.
"Internationale Aufmerksamkeit erlangte die an der Südwestküste des Aralsees gelegene autonome Republik Karakalpakstan bisher mehr oder weniger nur im Zusammenhang mit der bedrohlichen Austrocknung des Sees. Die massive Schrumpfung des einst viertgrößten Binnensees der Welt, eine Folge der über viele Jahre hinweg intensiv betriebenen Bewässerung von Baumwollfeldern, gilt als eine der größten Umweltkatastrophen der Neuzeit."
Rasim Heydarow am 13.06.2011
"Seit 1983 hörte der Aral-See als Fischfanggebiet auf zu existieren. An 90 Tagen im Jahr werden Staubstürme beobachtet."
Wikipedia 2012 (?)
Pflanzen- und Tierwelt:
Behausungen:
Ernährung:
Kleidung:
Die üppig mit Perlen geschmückte Hochzeitshaube der Karakalpakin.
Foto aus: Rellers Völkerschafts-Archiv
Folklore:
Feste/Bräuche:
Zitat: „In der autonomen usbekischen Region Karakalpakstan und in anderen nomadisch geprägten Gegenden Zentralasiens ist die Entführung von jungen Frauen nach wie vor ein gängiger Weg, um Ehen anzubahnen. Die meisten Opfer werden gegen ihren Willen verschleppt, willigen aber aus Gründen der Wahrung ihres Rufes in eine Heirat ein. Nach jüngsten Untersuchungen von Nichtregierungsorganisationen werden in Karakalpakstan ebenso wie in einigen Regionen Südkasachstans noch immer achtzig Prozent der Ehen durch Entführungen geschlossen. Nach der karakalpakischen Tradition müssen die Entführer die Eltern der Braut informieren, sobald sie die Verschleppte in ihr Haus gebracht haben. Dann verhandeln beide Parteien über die Bedingungen der Hochzeit.“
Neue Zürcher Zeitung vom 22.09.2004
Religion: Die Karakalpaken sind sunnitische Muslime.
Ereignisse nach dem Zerfall der Sowjetunion, sofern sie nicht bereits oben aufgeführt sind:
2010 kam der Dokumentarfilm "The Desert of Forbidden Art" heraus, in dem Amanda Pope und Tchavdar Georgiev die Geschichte des Kunst-Museums "Igor Sawitzki" in Nukus erzählen. Der vor allem in den USA viel beachtetete Streifen brachte dem Museum in Nukus zwar internationale Aufmerksamkeit, doch seitdem ist das Haus Repressalien ausgesetzt. So wurde ein Ausstellungstrakt geschlossen. Binnen 48 Stunden mussten die Mitarbeiter alle Kunstwerke in Sicherheit bringen.
„Marinika Babanasarowa, die das Museum seit dem Tod Sawitzkis 1984 leitet, wurde die Ausreise zur Filmvorführung nach Washington untersagt. In über 15 Untersuchungen der Regierung mussten Museumsmitarbeiter ihre Kontakte zu Ausländern begründen. "Ständig müssen wir beweisen, dass wir keine Banditen sind", erklärt Babanasarowa entnervt. Filmregisseur Georgiev vermutet, dass hinter den Schikanen Mitglieder der usbekischen Regierung stecken, die Sawitzkis Sammlung klammheimlich verkaufen wollen, um die leeren Staatskassen zu füllen. Bisher hat Museumschefin Babanasarowa dies verhindern können.“
Ann-Dorit Boy in: art Das Kunstmagazin vom 04.10.2015
2014 fordern Vertreter der im Ausland lebenden Karakalpaken auf einer Menschenrechtskonferenz der OSZE in Warschau Unabhängigkeit für Karakalpakien (Karakalpakstan).
Kontakte zur Bundesrepublik Deutschland: Der Zeitunterschied zu Berlin beträgt fünf Stunden.
2009 unterstützte die deutsche Botschaft das Staatliche Sawitzky-Kunstmuseum der Republik Karakalpakstan in Nukus mit einer großzügigen Materialspende. Die Spende, finanziert aus dem Kleinen Kulturfonds der Deutschen Botschaft, umfasst in erster Linie Spezialmaterialien zur Restaurierung von Gemälden, da einige der Gemälde der Sawitzky-Sammlung restaurierungsbedürftig sind. Die Botschaft leistete damit einen Beitrag dazu, dass die einzigartige Sammlung des Sawitsky-Museums auch für künftige Generationen erhalten werden kann.
„Das Sawitski-Museum erfreut sich sowohl in Usbekistan als auch weltweit eines wachsenden Interesses und ist für kunstinteressierte Touristen ein wichtiger Anziehungspunkt.“
Die Deutsche Botschaft, Taschkent, 2010 (?)
2011 überzeugten sich vor Ort zwei Dutzend Vertreter deutscher Unternehmen von den sich in der Republik Karakalpakstan bietenden Geschäftsmöglichkeiten. Die Firmenvertreter begleiteten den Außerordentlichen und Bevollmächtigten Botschafter der Bundesrepublik Deutschland in der Republik Usbekistan, Wolfgang Neuen, bei einer Reise in die Hauptstadt Nukus und un ndach Muinak. In einem Rundtischgespräch mit Vertretern der zentralen Wirtschaftsverwaltung und lokaler Unternehmen sowie während eines Treffens mit den in Nukus tätigen Experten der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) konnten sich die deutschen Firmen ein Bild von den Kooperations- und Lieferchancen auf dem karakalpakischen Markt verschaffen und erste Geschäftskontakte knüpfen. Karakalpakstan will die Kooperation mit Deutschland ausbauen.
2012: Die Michael Succow Stiftung will in Karakalpakstan ein einzigartiges Schutzgebiet entwickeln. Derzeit werden dafür die naturräumlichen und politischen Rahmenbedingungen untersucht – auch im Hinblick auf mögliche Finanzierungsmechanismen aus dem internationalen Klimaschutz. Die winterkalten Wüsten Karakalpakstans sind nicht nur Lebensraum für gefährdete Tier- und Pflanzenarten, sondern binden auch Kohlenstoff, unter anderem in der Saxaul-Vegetation. Deshalb unternahm die Michael Succow Stiftung eine große Exkursion nach Karakalpakstan. Internationale Nachwuchswissenschaftler erforschten die Pflanzen- und Tierwelt Karalkapakstans. Möglich wurde die Expedition durch das Hochschulkooperationsprojekt CABNET sowie die Unterstützung des Bundesumweltministeriums (BMU).
Prof. Dr. Michael Succow wurde 1941 als Sohn eines Landwirts in Lüdersdorf bei Bad Freienwalde in der Mark Brandenburg geboren. Er studierte von 1960 bis 1965 Biologie an der Universität Greifswald. Der Diplom-Biologe ist verheiratet, hat zwei Töchter und lebt in Greifswald. Im Oktober 1992 wurde Succow zum Universitätsprofessor an den Lehrstuhl Geobotanik und Landschafsökologie und Naturschutz mit interdisziplinärer Ausrichtung moorkundliche sowie landschaftsökologisch-naturschutzorientierte Forschungstätigkeit im In- und Ausland berufen. - Die Deutsche Bundesstiftung Umwelt (DBU) zeichnete Prof. em. Dr. Michael Succow („Ausnahmepersönlichkeit im Naturschutz mit Charisma“) mit dem mit 10 000 Euro dotierten Ehrenpreis des Deutschen Umweltpreises 2015 aus.
Interessant, zu wissen..., dass in Nukus ein Kunst-Museum mit einer einzigartigen Sammlung klassischer russischer Avantgarde-Künstler der 1920er, 1930er und 1940er Jahre existiert.
Das Kunst-Museum in Nukus trägt den Namen Igor Sawitzkis. Igor Sawitzki, 1915 in Kiew geboren, kam 1950 als Teilnehmer einer archäologischen Expedition nach Karakalpakien. Er blieb und begann, Arbeiten von usbekischen und russischen Avantgarde-Künstlern des frühen 20. Jahrhunderts zu sammeln, auch Werke der so genannten Usbekischen Schule aus den fünfziger und sechziger Jahren. Zu ihr gehörten junge Maler, die sich in der Abgeschiedenheit und geschützt vom Desinteresse der örtlichen Behörden dem verordneten Sozialistischen Realismus verweigerten. Sawitzki sammelte innerhalb von nur 15 Jahren 40 000 Werke einst verbotener Kunst zur Zeit des Diktators Stalin. Manche Bilder erwarb Sawitzki von den Malern direkt, andere fand er "zusammengerollt unter den Betten von Witwen". Seit 1966 leitete Sawitzki das Museum in Nukus. Offizielle Anerkennung erfuhr Igor Sawitzki erst nach dem Zerfall der Sowjetunion und der Unabhängigkeit Usbekistans. Auf einmal wurde Sawitzki in der Presse als "Oskar Schindler der russischen Kunst" gefeiert. Seit 1984, dem Todesjahr Igor Sawitzkis, leitet Marinika Babanasarowa das Staatliche Kunst-Museum der Republik Karakalpakstan. Die Sammlung in Nukus ist nach der Sammlung des Russischen Museums in Sankt Petersburg die zweitgrößte Avantgarde-Sammlung russischer Künstler!
Die heimat ist eine goldene Wiege.
Sprichwort der Karakalpaken
Die KARAKALPAKEN: Für Liebhaber kurzer Texte
Aus dem Türkischen übersetzt, heißt Karakalpaken "Schwarzmützen". So nannten sie einst die Nachbarvölker, weil die Männer sommers und winters hohe schwarze Karakul-Lammfellmützen trugen. Die heute über vierundzwanzigtausend Karakalpaken behielten diesen Namen als Selbstbezeichnung bei, weil bei ihnen schwarz seit alters die Farbe des Glücks ist. Die "Schwarzmützen sind aus der Vermischung autochthoner am Aralsee lebender iranischsprachiger Völkerschaften und den seit dem 6. Jahrhundert immer wieder eindringenden Turkvölkern hervorgegangen. Nach dem Niedergang der mongolischen Goldenen Horde, unter deren Herrschaft sie seit dem 13. Jahrhundert standen, lebten sie in freien Stammesverbänden am unteren Syr-Darja. Im 17. Jahrhundert kamen sie teils unter die Herrschaft der Kasachen, teils unter die des Khanats von Buchara. Von Kasachen und einfallenden (mongolischen) Dsungaren bedrängt, wich eine Gruppe der Karakalpaken in das Fergana-Tal aus, wo sie sich den Usbeken anschlossen. Der größere Teil der meist sunnitisch-mohammedanischen Karakalpaken aber zog in das Delta des Amu-Darja an den Aralsee. Hier kamen sie zu Beginn des 19. Jahrhunderts unter die Herrschaft des Khans von Chiwa. Die rechts des Amu-Darja siedelnden Karakalpaken gerieten 1873 unter russische Herrschaft, während die übrigen bis 1920 in der Gewalt des Khanats von Chiwa blieben. - Karakalpakien liegt in der Halbwüsten- und Wüstenzone, umgeben von der Karakum (Schwarzer Sand) und der Kysylkum (Roter Sand). Trotzdem wachsen die schmackhaftesten Melonen ganz Mittelasiens ausgerechnet in Karakalpakien. Die grünen Arbusen - Wassermelonen - und die gelben Dynjas - Zuckermelonen - sind es dann auch, die nicht nur in den Sprichwörtern das Auge laben, sondern beim Besch barmak - dem Inbegriff einer karakalpakischen Festtafel - als Schlusspunkt den Magen. Eindrucksvollster Bestandteil eines solchen Besch barmak - zu dem die Frauen über Generationen vererbten festtäglichen Silberschmuck tragen - ist der auf Salatblättern und Zwiebelringen angerichtete Hammelkopf. Er kommt unzerlegt auf den Tisch, seziert wird er von demjenigen, den der Hausherr bestimmt. Unabdingbar fest steht: Ein Auge bekommt der Ehrengast. Spätestens da will kein Ausländer mehr Ehrengast sein.
Diesen unveröffentlichten Text habe ich geschrieben, als ich für das
Bibliographische Institut in Leipzig von 1986 bis 1991 ein Sprichwörterbuch von fünfzig Völkern der (ehemaligen) Sowjetunion erarbeitete,
das wegen des Zerfalls der Sowjetunion nicht mehr erschienen ist.
Als Journalistin der Illustrierten FREIE WELT – die als Russistin ihre Diplomarbeit über russische Sprichwörter geschrieben hat - habe ich auf allen meinen Reportagereisen in die Sowjetunion jahrzehntelang auch Sprichwörter der dort ansässigen Völker gesammelt - von den Völkern selbst, von einschlägigen Wissenschaftlern und Ethnographen, aus Büchern ... - bei einem vierwöchigen Aufenthalt in Moskau saß ich Tag für Tag in der Leninbibliothek. So ist von mir erschienen:
* Aus Tränen baut man keinen Turm, ein kaukasischer Spruchbeutel, Weisheiten der Adygen, Dagestaner und Osseten, Eulenspiegel Verlag Berlin in zwei Auflagen (1983 und 1985), von mir übersetzt und herausgegeben, illustriert von Wolfgang Würfel.
* Dein Freund ist dein Spiegel, ein Sprichwörter-Büchlein mit 111 Sprichwörtern der Adygen, Dagestaner Kalmyken, Karakalpaken, Karelier, Osseten, Tschuktschen und Tuwiner, von mir gesammelt und zusammengestellt, mit einer Vorbemerkung und ethnographischen Zwischentexten versehen, die Illustrationen stammen von Karl Fischer, die Gestaltung von Horst Wustrau, Herausgeber ist die Redaktion FREIE WELT, Berlin 1986.
* Liebe auf Russisch, ein in Leder gebundenes Mini-Bändchen im Schuber mit Sprichwörtern zum Thema „Liebe“, Buchverlag Der Morgen, Berlin 1990, von mir (nach einer Interlinearübersetzung von Gertraud Ettrich) in Sprichwortform gebracht, herausgegeben und mit einem Nachwort versehen, illustriert von Annette Fritzsch.
Ich bin, wie man sieht, gut damit gefahren, es mit diesem turkmenischen Sprichwort zu halten: Hast du Verstand, folge ihm; hast du keinen, gibt`s ja noch die Sprichwörter.
Hier fünfzig karakalpakische Sprichwörter:
(Unveröffentlicht)
So nah beisammen sie auch in der Arba* sitzen, so verschieden ist der Menschen Schicksal.
Für den Armen ist einmal satt sein schon die Hälfte von reich sein.
Sind die Bäume krumm geraten, werfen sie auch krumme Schatten.
Bogatyri** werden keine Freunde, ohne gerauft zu haben.
Ein allzu wählerischer Bräutigam kriegt eine kahlköpfige Braut.
Nur ein Dshigit*** mit neun Rippen fängt einen Fisch mit acht Rippen.
Lieber das Ei von heute als die Henne von morgen.
Ist der Erzähler weise, wird auch der Zuhörer klug.
Der Fisch im Fluss, der Frosch in der Pfütze.
Eine Frau, die um Feuer bittet, hat für dreißig Münder Worte.
Ohne Frühlingswind keine Sommerwärme, ohne Steppenweite keine Sauermilch.
Große Füße müssen anziehen, wo sie hineinpassen; kleine Füße können tragen, was ihnen gefällt.
Ein Gast ist frommer als ein Schaf.
Nur in unbekannter Gegend gibt es viele tiefe Gruben.
Den Geizigen muss man beschämen!
Lerne Gesundheit schätzen, bevor du krank wirst.
Bei Gold biegt sogar ein Engel vom rechten Weg ab.
Zwei Hammelköpfe lassen sich nicht in einem Töpfchen kochen.
In einem Haus mit Kind ist kein Geheimnis zu bewahren.
Zwei Hengste streiten sich, dazwischen wird die Fliege zerquetscht.
Eine Henne pickt, was sie findet; der Mullah liest, was er weiß.
Bist du geladen als Hochzeitsgast, den Ärger zu Hause lass.
Ohne Hoffnung kann nur der Teufel leben.
Wer ganze Hosen hat, kann sich setzen, wohin er will.
Ein braver Hund ist erst beruhigt, wenn alle schlafen.
Wenn du willst, übersiehst du sogar ein Kamel.
Einen Kaufmann macht die Rechnung reich.
Ein Keiler schlitzt dem anderen den Bauch nicht auf.
Geboren wird das Kind, nicht sein Benehmen.
Ein Kind unter Greisen wird weise, ein Greis unter Kindern - kindisch.
Der dich nicht liebt, schätzt deinen Kopf, der tausend Tillja**** wert ist, nicht einmal für einen Zehner.
Jede Krähe fliegt ihre eigene Bahn.
Krankheit streckt auch ein Kamel nieder.
Bist du der Läuse müde, verbrenne nicht den Pelz.
Besser sich selbst das Leben wünschen als anderen den Tod.
Glaube nie dem Lob des Feindes.
Was ein rechter Lügner ist, der ruft sogar einen Verstorbenen zum Zeugen an.
Für den faulen Mann ist die Schwelle ein Pass.
Den Mond deckst du nicht mit dem Rocksaum zu.
Eine süße Melone erfreut das Herz einmal, ein guter Sohn erfreut das ganze Leben.
Was du im Nest siehst, wirst du auch im Flug sehen.
Wer einen Passgänger reitet, verliert seinen Weggenossen, wer lange lebt - seine Verwandten.
Wer vor Sarantschas***** Angst hat, braucht gar nicht erst zu säen.
Sogar von einem dürren Schaf nimm das Bruststück******.
Bist du durstig, geh zum Schafhirten, bist du hungrig - zum Dechkan*******.
Wenn Schiffsbauer auftauchen, laufen die Bootsbauer davon.
Den See machen seine Fische berühmt.
In einen Streit zwischen Mann und Frau mischt sich nur ein Trottel ein.
Die verheiratete Tochter - hinter die Schilfmatte********.
Viele Worte sind nur im Koran gut.
* Arba = Holzkarren, ohne Nägel zusammengefügt / ** Bogatyri = Helden / *** Dshigit = junger verwegener Reiter, auch Krieger oder überhaupt: junger Bursche /
**** Tillja = alte Godmünze / ***** Sarantschas = Heuschrecken / ****** Das Bruststück des Schafes erhält bei den Karakalpaken stets der Ehrengast / ******* Dechkan = kleiner Ackerbauer / ******** Die Jurten wurden durch Matten aus dem harten Gras Tschi in einzelne Bereiche getrennt; die verheiratete Tochter wohnte so getrennt von der Familie.
Interlinearübersetzung aus dem Russischen: Gertraud Ettrich; gesammelt und in Sprichwortform gebracht: Gisela Reller
Als Reporterin der Illustrierten FREIE WELT bereiste ich 1980 KARAKALPAKIEN. In meinem Buch „Diesseits und jenseits des Polarkreises“, 256 Seiten, mit zahlreichen Fotos von Heinz Krüger und ethnographischen Zeichnungen von Karl-Heinz Döhring, 1985 im Verlag Neues Leben, Berlin, erschienen, habe ich über die Südosseten, KARAKALPAKEN, Tschuktschen und Eskimos geschrieben.
Buch
Erster orientalischer Eindruck (LESEPROBE aus: "Diesseits und jenseits des Polarkreises")
"Es ist fast Abend, als wir in Nukus landen. Ein stattliches Empfangskomitee erwartet uns, in schwarzen Anzügen, schneeweißen Hemden und mit korrekt sitzenden, dezent gemusterten Krawatten. Samt Gepäck kommen wir alle in fünf schwarzen Wolgas unter, und ab geht´s zum Hotel: Eine Autofahrt von 22 Minuten, meine ersten auf mittelasiatischer Erde. Die höflichen Fragen der Gastgeber nach Fluggeschehen und Wohlergehen beantworte ich zerstreut, weil ich fasziniert bin von dem, was sich meinen europäischen Augen bietet: zehngeschossige Hochhäuser, liebevoll mit Ornamenten geschmückt, dazwischen winzige Lehmbauten, zweifellos bewohnt; schnelle Autos, moderne Busse, mittendrin Kinder auf Eseln und alte Männer, angetan mit bestickten Seidenmänteln - den Chalaten -, auf dem Kopf schwarze Schaffellmützen oder bestickte Käppchen; junge Männer, in orientalischer Sitzweise auf dem Gehwegen hockend; Frauen in grellbunten Seidenkleidern, dazu Pluderhosen, wie sie der kleine Muck trug - kaum eine, die nicht wenigstens ein Kind mit sich führt, im Wagen, an der Hand, auf dem Rücken; ich erhasche den mich abstoßenden Kampf zweier echter Streithammel; hochauflodernde Lehmbacköfen - die Tandyrs -, in denen die schmackhaften Weizenfladen backen; eine ringsum offene Teestube, in der man, auf Teppichen hockend, aus Tassen ohne Henkel - den Kissaikas - grünen Tee schlürft; Schuster, Uhrmacher, Melonenverkäufer... Unsere Autos fahren auf breiter, asphaltierter Chaussee, vorbei an spärlichen Pappeln und Eukalyptusbäumen, die von betonierten Wassergräben entlang den bürgersteigen getränkt werden, Graues und Grelles bescheint herab vom azurblauen Himmel eine makellose Sonne, in deren Strahlen flimmert Wüstenstaub...
„Die Einwohner dieser Gegend sitzen nicht mit kreuzweise gelegten Beinen, sondern beugen sie zusammen, und sitzen den ganzen Tag ohne Ermüdung auf ihren Waden und Fersen.“
Thomas Harmer (englischer Buchautor, 1714 bis 1788) 1779
Ehemals war die Hauptstadt Karakalpakiens Turtkul - bis der launische Amudarja plötzlich sein Flussbett änderte und Turtkul buchstäblich hinwegspülte. 1924 wurde zwischen zwei Wüsten, der Karakum (Schwarzer Sand) und der Kysylkum (Roter Sand), die neue Hauptstadt projektiert. Wo heute Nukus immer mehr in die Höhe wächst, standen dazumal einige Filzjurten und ein paar feuchte Lehmhütten ohne Fenster und Öfen, mit ungedielten Fußböden. In den grimmigen Wintern wärmte man sich an Feuern, die zumeist auf dem bloßen Fußboden angezündet wurden. Kamelmist war oftmals das einzige Brennmaterial.
Der russische Forscher, Maler und Schriftsteller Nikolai Karamsin beobachtete über viele Jahre das Leben der Karakalpaken. Er schrieb 1875: "Da gab es in den Hütten nicht mal einen Teppich, ja, nicht einmal eine einzige Filzmatte, obwohl ja beides unbedingtes Zubehör des Nomadenlebens ist. Auf der blanken Erde lagen einige Bündel Schilf, etwas Kohle glomm unter einem eisernen Dreibein. Wir betraten eine andere Hütte, eine dritte... Überall das gleiche Bild... Ich habe kein einziges auch nur halbwegs gesundes Gesicht, keinen einzigen Körper gesehen, der nicht ausgemergelt gewesen wäre..."
Ursprünglich war Nukus als kleine Ansiedlung projektiert worden, 1936 begann man mit dem Bau zweistöckiger Häuser. Während des Großen Vaterländischen Krieges erstarb dann jegliche Bautätigkeit.
Wie wurde Nukus, was es heute ist, eine beeindruckende moderne Industriestadt? Wir sprachen anderntags darüber mit Karim Malutow, dem Chefarchitekten Karakalpakiens.
`Nach dem Krieg, so sagt Karim Malutow, `bauten wir erst einmal so weiter, wie wir 1936 begonnen hatten. 1972 aber stellten wir fest, daß für die Hauptstadt des aufblühenden Karakalpakiens zu kleine Maßstäbe angelegt worden waren. Wir begannen, Nukus nach einem Generalplan zu rekonstruieren, projektierten in die Höhe und: erdbebensicher. Obwohl fast alle Gebäude Typenbauten sind, zeigen wie nationales Kolorit. Durch Abwandlungen passen wir die Bauten den örtlichen Gegebenheiten an. Eine solche ist zum Beispiel unser ständiger Nordostwind, der uns den Wüstensand direkt in die Stadt treibt. Das verlangt für jedes Gebäude die richtige Standortwahl. Eine weitere Gegebenheit ist unser Klima: Die Sommertemperaturen betragen durchschnittlich fünfundvierzig Grad, die Wintertemperaturen bis zu minus fünfunddreißig Grad. Unsere Bauten sind also einem Temperaturunterschied von achtzig Grad ausgesetzt. deshalb ist bei uns eine Wanddicke von vierzig Zentimetern unerläßlich. Außerdem haben alle unsere Neubauten Wind- und Sonnenschutzelemente, die gleichzeitig Schmuckelemente sind; denn wir berücksichtigen stets unsere jahrhundertealte Ornamentik. Noch heute wird neben den serienmäßig hergestellten Platten die handgearbeitete Gipsschnitzkunst, die von Generation zu Generation weitergegeben wurde, angewandt. Karakalpakien verfügt über zwölf Gesteinsarten. Schauen Sie sich unbedingt unseren Bahnhof an. Ach, wissen Sie was, ich zeige Ihnen unsere Stadt.´
Wir sehen schmucke Hochhäuser, das Hotel elfstöckig, Teestuben, Häuser der Kultur, Theatergebäude, Restaurants, Badehäuser, ein riesiges Filmtheater, prächtige Denkmäler, viele Skulpturen, Springbrunnen... Unglaublich, daß dies eine Stadt ist, erbaut auf Wüstensand, rings von Wüste umgeben. Die metallverarbeitende Industrie ist hier zu Hause, die Leichtindustrie, besonders die Nahrungsmittelindustrie, ein Baumwollkombinat, die Pädagogische Hochschule, eine Zweigstelle der Akademie der Wissenschaften der Usbekischen SSR.
Und der Bahnhof von Nukus, ja, der ist wirklich eine Augenweide: an den Wänden schneeweiße Gipsschnitzereien und zartfarbene Fresken, die das vergangene und das gegenwärtige Leben der Karakalpaken darstellen. Man läuft über Marmorstufen in elf verschiedenen Farbtönen und auf Marmorböden: Muschelstein und Marmorsplitter, mit Ornamenten aus Kupfer verziert. Geht man ins Bahnhofsgebäude hinein, hat man die Karakum im Rücken, schaut man zur anderen Seite aus einem Fenster hinaus, blickt man gegenwärtig noch auf den Wüstensand der Kysylkum. Geplant sind aber hier ein Betonwerk, ein Häuserkombinat, ein Marmor- und Granitwerk, eine Ziegelei, ein Kalkwerk; hier - außerhalb der Stadt - wird ein neuer Industriekomplex entstehen.
erst 1978 traf der erste Zug in Nukus ein, die Karakalpaken waren auf Kamelen von weither gekommen, um dieses Wunder mit eigenen Augen zu schauen. Bis zur Beendigung des elften Fünfjahrplans - 1981 bis 1985 - ist in Karakalpakien jeder größere Ort mit der Bahn erreichbar. Inmitten des großstädtischen Trubels she ich aber auch noch hier und da winzige Lehmhäuschen. Ein fragender Blick zu Karim Malutow. Seine Antwort: "Jahr für Jahr werden in Karakalpakien zweiunddreißigtausend Quadratmeter Wohnraum geschaffen, aber zaubern können auch Karakalpaken nicht. Außerdem gibt es so´ne und solche Lehmhäuser..."
Doch eher läßt man dich in ein Kernkraftwerk als in ein Lehmhäuschen. Warum? Es ziemt sich nicht. Warum ziemt es sich nicht? Weil gleich hinter der hohen Lehmmauer, die Haus und Hof umgibt, das Intimleben der Familie beginnt: Die Kinder sind nackt und bloß, die Großmutter hält im Unterrock Siesta, die Hausfrau bäckt Fladen, und dazu hat sie sich auch nicht gerade fein gemacht.
Im nahe bei Nukus gelegenen Kolchos `Lenin´ können wir dann endlich ein traditionelles orientalisches Lehmhaus von innen begucken: Die gute Stube des Hauses mit mit grellbunten Teppichen ausgelegt, auf denen die Familie im Schneidersitz hockt. Auf solchen Teppichen und Matten schläft man auch. Nicht etwa, weil man keine Bettgestelle hat. Die stehen draußen im Hof, wenn´s zu warm wird, schläft man eben dort.
Indes der Dastarchan gedeckt wird - das weiße Tischtuch direkt auf dem mit Teppichen ausgelegten Fußboden -, führt man uns ins Nebenzimmer, in dem ein großer Ausziehtisch steht, um ihn herum zahlreiche Stühle. Man gesteht, es gehöre heute zum guten Ton, ein solches europäisch eingerichtetes Zimmer zu besitzen, aber die Familie säße daran nur so `zum Jux´.
Wir begeben uns jedenfalls zum Dastarchan, auf dem inzwischen natürlich Plow dampft. Ich notiere das Rezept:
Heißt das gleiche Gericht - ich jedenfalls konnte keinen Unterschied feststellen - Schaule, so wird es in Karakalpakien zum Frühstück gegessen. Plow und Schaule werden für Gäste - traditionsgemäß - nur von Männern zubereitet!
Ich kenne Mittelasientouristen, die doch tatsächlich verkünden, die Menschen dort leben wie im Mittelalter, weil sie noch Lehmhütten sahen und weil die Bewohner Mittelasiens nicht die gleiche Lust verspüren wie sie, in korrekter Haltung auf Stühlen auszuharren. Ich habe er erlebt: Nirgendwo ißt, plaudert, scherzt und lacht es sich unbändiger als an einem Dastarchan. Bei der Familie Ssaparbajew im Kolchos "Lenin" hat auch niemand etwas dagegen, wenn man dies in halbliegender Stellung tut. Und außerdem möge ein Tourist bedenken, daß andere Länder nicht ganz ohne Grund andere Sitten haben. So ist es in dem von ihm bekrittelten Lehmhaus im wüstenheißen Sommer stets bis zu acht Grad kühler als draußen.
Als wir das so überaus freundliche Haus der Familie Ssaparbajew, fällt mein Blick auf ein grünes Schulheft, das innen an der Tür hängt. Ich darf drin blättern und lese als letzte Notiz: Sanitäre Zustände bei allen Familien gut, keine Fiebererkrankungen, keine Darmerkrankungen. die Hausfrau, so höre ich, ist `Gemeinde´schwester, sie machte diese Eintragung nach Hausbesuchen. Dann erzählt sie uns von zwei Krankheiten: der Malaria und der Drakunkulose´, einer Wurmkrankheit. `Vor der Revolution´, sagt sie, `holten sich diese Krankheiten aus jeder, buchstäblich aus jeder karakalpakischen Familie ihre Opfer. Die Malaria ist in Karakalpakien seit 1950 ausgerottet, die Drakunkulose etwa seit der gleichen Zeit. Aber bei unseren Natur- und klimatischen Bedingungen müssen wir immer auf der Hut sein, dürfen uns auf keinem Erfolg ausruhen.´
Zumal die Malaria, die Mitte der sechziger Jahre in der Welt so gut wie besiegt war, wieder beängstigend oft auftritt. Als Hauptgrund sieht die WHO an, daß die Anophelesmücke, die sies oft tödlich ausgehende Sumpffieber überträgt, inzwischen resistent geworden ist gegenüber den sie bisher so erfolgreich bekämpfenden Präparaten.
Und was hat es mit der von Frau Ssaparbajewa erwähnten Wurmkrankheit auf sich?
In Karakalpakien sang man mir dieses Lied vor, es geht etwa so:
Von einem mächtigen Padischah
singen will eich euch,
den zum Schatten seiner selbst
wandelte ein winzigkleiner Wurm.
Und so von Kräften brachte er den Großen,
daß er schwächer wurde
als der Schwächste
seiner Untertanen.
Und in einem anderen Lied klagt ein Dichter, mir leider ebenfalls unbekannt:
Vernehmet, o Freunde, die Geschichte vom Wurm,
der Unheil bringt, vernehmt, wie das Glück mich floh
durch diese Krankheit.
Nein, sprecht nicht vom Wurm, den die Erde verschlingen mag!
Oder doch, laßt mich weitersprechen von ihm.
Es töten ihn weder bärenstarke Männer noch Helden,
es rettet vor dieser Krankheit nicht das Mittel des Tubibs*.
Mit Tränen in den Augen berichte ich von der Niederlage,
die uns bereitet der Wurm.
* Tubib = mittelasiatischer Quacksalber
Von was für einem schrecklichen Wurm ist hier die Rede?
Von dem Dracunculus medinensis, einem im lebenden Gewebe schmarotzenden Wurm, der sich tief im Unterhautbindegewebe des Menschen einnistet. Befallen wird von der Drakunkulose, wer Wasser trinkt, in dem Kleinstkrebse schwimmen, die mit Wurmlarven infiziert sind. in den ersten 8 bis 12 Monaten spürt man noch nichts von einer beginnenden Drakunkulose. Doch kurz bevor sich die Würmer zeigen - die sich inzwischen aus den Larven gebildet haben -, wird der Angesteckte von starken Kopfschmerzen, Atembeschwerden, oft auch von Erbrechen, Durchfall und starkem Juckreiz gequält.
(...)
Auch bärenstarke Männer, wie es in dem zweiten Lied heißt, waren machtlos gegen die Wurmkrankheit.
1868 nahm ein Mann den Kampf auf: Der russische Gelehrte Alexander Pawlowitsch Fedtschenko kam nach Turkestan, wissenschaftlich begabt, beharrlich - ohne bärenstark zu sein. Wie ein Zeitgenosse zu berichten wußte, war ein `ein normal gebauter junger Mann´. Als erster beschrieb er wissenschaftlich die Folgen der Wurmkrankheit und den Lebenszyklus des gefährlichen Schmarotzers, der die Krankheit verursachte. Leider starb Fedtschenko mit 29 Jahren, und sein Wissen um die so gefährliche Krankheit brachte lange Zeit niemanden Nutzen. Doch kurz nach der Oktoberrevolution erschien ein anderer Absolvent der Medizinischen Militärakademie in der altusbekischen Stadt Buchara: Leonid Michailowitsch Issajew. Er war es, der 1922 das erste Tropeninstitut von Mittelasien gründete.
Lucja Wolanowski schreibt in seinem Buch `Hitze und Fieber´, wie es zum Beispiel in Buchara möglich war, daß so furchtbar viele Menschen in der Wurmkrankheit litten und viele daran zugrunde gingen: `Die gesamte Bevölkerung der Stadt erhielt das Trinkwasser aus acht großen Treppenbrunnen. Es gab in der Stadt eine Wasserträgerzunft, der dreihundert Wasserträger angehörten. Die Männer füllten ihre Ledersäcke aus diesen Brunnen und boten das Wasser dann in den Häusern feil. Am bequemsten war es, am Brunnen die stufen herab ins Wasser zu treten und dann den Ledersack zu füllen. Tauchte nun ein kranker Wasserträger seine Fersen ins Wasser ein, begann der schon von Fedtschenko beschriebene Vorgang. Aus der offenen Wunde gelangten Tausende von Larven ins Wasser. Die Wasserträger brachten die Krankheit auf dem nächsten Weg zu ihren Kunden, die für ein paar Kupferlinge einen Ledersack voll Wasser kauften und dabei als Zugabe die Wurmkrankheit erhielten."
Leonid Isssajew begann mit einer zwangsweisen Behandlung der Wasserträger. Er umwickelte die offenen Wunden seiner Drakunkulosepatienten mit weißen Binden, die mit einer desinfizierenden Flüssigkeit durchtränkt waren. Auf diese Weise schränkte er die Verbreitung der Wurmlarven weitgehend ein. Dann ließ er einen genauen Stadtplan anfertigen, alle Häuser nummerieren und die Einwohner der Reihe nach untersuchen. 1920 schon besaß jede Person, die an der Wurmkrankheit litt, eine Karteikarte, in die der Behandlungsverlauf genau eingetragen wurde. In Buchara war jeder dritte Mensch von der Wurmkrankheit befallen. Da die ärztliche Behandlung kostenlos war, bedeutete sie außerdem einen ernsthaften Schlag gegen die Tubibs. Als Leonid Sssajew 1925 einen geschulten Mitarbeiterstab besaß - viele davon waren geheilte Einheimische -, setzte er es bei den Behörden durch, daß eine Behandlung der Drakunkulose durch die Tubibs kategorisch verboten wurde.
Lucja Wolanowski schreibt über Issajews erbitterten Kampf gegen die Wurmkrankheit: "Er setzte dem Wasser in den Brunnen Chlor zu, was aber nicht half; und er besaß sogar den Mut, Erdöl in die Wasserzisternen zu gießen, die er für besonders gefährlich hielt. Er wollte die Brunnen unbrauchbar machen -und das in einem Land, wo jeder Wassertropfen kostbar war. In anderen Brunnen ließ er den Wasserspiegel künstlich senken, so daß das Wasser nicht mehr bis an die Stufen heranreichte. Die Wasserflöhe, die Zwischenwirte der Wurmlarven, können nämlich in tieferem sauerstoffarmem Wasser nicht leben. Im flachen Wasser, auf den Stufen der Brunnen aber hatte sie geradezu ideale Lebensbedingungen vorgefunden. Später wurden in der Stadt Wasserleitungen gelegt und Brunnen zugeschüttet. Einige blieben zwar erhalten, doch sie dienen nur noch als Feuerlöschteiche und nicht als Trinkwasserreservoire. Übrigens dürfte ihr Wasser heute nicht mehr gefährlich sein, weil niemand mehr mit wunden Füßen hintritt.´
Der endgültige Sieg über die Wurmkrankheit, die die Menschen jahrhundertelang geplagt hatte, wurde in Karakalpakien, wo jeder fünfte Mensch befallen war, schon drei Jahrzehnte nach der Großen Revolution erzielt."
"1980 betrug die Zahl der jährlichen Neuinfektionen an Dracontiasis (Drakunkulose) weltweit noch 3,5 Millionen. Im Jahr 2004 gab es nur noch etwa 16 000 Infizierte, ausschließlich in Afrika. Das Zeil der Weltgesundheitsorganisation, den Parasiten bis zum Jahr 2009 auszurotten, wurde nicht erreicht. Im Jahr 2014 wurden noch 126 Infektionen weltweit registriert, davon siebzig in Südsudan, vierzig in Mali, dreizehn im Tschad und drei in Äthiopien."
Wikipedia.org, 2015
Die Bändigung des Dshejchun (LESEPROBE aus: "Diesseits und jenseits des Polarkreises")
"Einst lebte auf dem Territorium Karakalpakiens ein Mensch mit noch nie dagewesener Kraft. Seine Schultern berührten die Wolken, den stürmischen Winden bestimmte er die Richtung ebenso wie dem stiebenden Sande. Tagsüber plauderte er mit der Sonne, und nachts redete er mit den Sternen. Immer kam er denen zu Hilfe, die ein Unglück ereilt hatte. So hörte jener Recke davon, daß es einen Fluß geben solle, der zuerst den Garten der Armen mit Grün bekränze, dann aber mutwillig alles wieder zerstöre. Der Recke beschloß, den Menschen zu helfen und den Dshejchon, `den Wilden´, zu zähmen. Tag und Nacht trug er Steine, um dem Fluß in feste Ufer zu kleiden. Doch es kam der Frühling, in den Bergen schmolz der Schnee, und der Dshejchun, überschritt alle Eindämmungen. Wieder verödeten die Felder. Da entschoß sich der Recke, den Fluß mit Eisen zu zähmen. Monate und Jahre vergingen... Doch auch das Eisen vermochte dem Fluß nicht Einhalt zu gebieten. Eines Tages fand der Recke unter dem Wüstensand viele Goldbarren. Wie wäre es, sann er, wenn ich damit versuchte, `den Wilden´ zu besänftigen? Doch blitzschnell verschlang der Fluß das Gold, bedeckte es eilends mit einer Schlammschicht und schickte sogleich seine erbarmungslosen Krieger, die hohen Wogen, an die wehrlosen Ufer. Da verstand der Recke, daß er allein machtlos gegen den wilden Fluß war. Deshalb rief er, daß es weithin dröhnte: "Menschen versammelt euch zum Sturm gegen den Dshejchun." Nicht einer antwortete, Stille beherrschte die Wüste...
Jahrhunderte später erscholl wieder ein Hilferuf: 1968, als der `Tachiatascher hydrotechnische Komplex´ in Angriff genommen wurde. Und ein Lärm kam in die Wüste, den sich unser Recke von einst nicht hätte träumen lassen. Vertreter von 51 Nationen und Völkerschaften - keiner allein so stark, daß er mit den Schultern an die Wolken stieß - nahmen den Kampf mit dem zerstörerischen Amudarja (wie der Dshejchun heute heißt) auf. Die von Anfang an dabei waren, wissen ein Lied von den Schwierigkeiten zu singen, die der sandige Untergrund bereitete und die Launenhaftigkeit des Flusses, der innerhalb von 24 Stunden fünfzig Meter große Uferstücke verschlang oder unerwartet sein Flußbett um einen ganzen Kilometer verlegte...
Wir stehen in Tachiatasch auf einer Eisenbahnbrücke, auf der Züge fahren, unter uns rauscht belebendes Wasser. Boris Lytschagin, Verwaltungsleiter, eist mit großer Geste in die Runde. `Unsere Legendensänger haben viel vorausbesungen, aber dies ahnten auch sie nicht: diese 500-Meter Staumauer aus Beton. Zu ihr gehören Absatzbecken, zuführende und abführende Kanäle, ein Durchlaß für die Fische, ein Regulator für den Wasserstand, ein Wasserableiter für die Hauptkanäle, die Schleuse für die Schiffahrt, eine Auto- und Eisenbahnbrücke über den Staudamm. Dort sehen Sie das fünfgeschossige Gebäude für die Dispatcher und für die Verwaltung, und sehen Sie dort einen zwanzig Meter hohen Leuchttrum.
Bei hohem Wasserstand fließen bis zu tausendeinhundert Kubikmeter Wasser in der Sekunde. Damit sind die Bedingungen geschaffen für den Anbau von Baumwolle und Reis auf großen Flächen, haben sich die Flußschiffahrt und die Fischereiwirtschaft enorm verbessert. Gleichzeitig haben wir das Problem der Straßen- und Eisenbahnverbindung zwischen dem rechten und dem linken Ufer des Amudarja gelöst.´
Die als Andenken mitgebrachten kristallglitzernden `Steinchen aus reinem Kochsalz´ erinnern mich daran, daß Wasser allein die Wüste noch nicht blühen macht; denn der Wüstenboden ist metertief mit vegetationsfeindlichen Salzen angereichert. Für die Nutzpflanzen - Baumwolle, Reis, Melonen, Wein - ist der Boden jahrelang vorzuwaschen. Dnn, bei der Bewässerung der Felder, nimmt das überschüssige Wasser von neuem salz auf und muß abgeleitet werden. Für jeden Meter Bewässerung wird ein weiterer Meter Entwässerungsgraben benötigt.
Die Karakalpaken - das siehst du dort auf Schritt und Tritt - müssen, um es sich gut gehen zu lassen, mehr als gut arbeiten!
Aber Arbeiten allein reicht nicht. Wüste, das bedeutet zweihundert sonnige Tage im Jahr und nur siebzig Millimeter Niederschlag.
In Muinak stehen wir fassungslos am Aralsee, in der Literatur als als wunderschön blau umschwärmt. Das Ufer hier hier bis zu vier Kilometer zurückgewichen, die Boote stehen fast täglich neu statt in lehmigtrübem Wasser auf Ufersand. Wenn das gegenwärtige Tempo der Gewinnung neuer Bewässerungsböden beibehalten wird, ist damit zu rechnen, daß die Wasservorräte der wichtigsten Ströme Mittelasien, des Amudarja und des Syrdarja, bereits in den nächsten Jahren erschöpft sein werden.
"Muinak, einst ein florierendes Fischerdorf. Noch bis vor 30 Jahren wurden dort jedes Jahr Tausende Tonnen Fisch verarbeitet. Heute liegt das Ufer des Sees 90 Kilometer entfernt. "
Die Welt vom 15. Juni 2015
Hier sei eine Ehrenrettung des `wilden´ Amudarja gestattet: Eine andere Legende erzählt nämlich davon, daß er einmal standhaft den Angriff von drei feuerspeienden Drachen abwehrte. Die Drachen hießen Kysylkum, Karakum und Ustjurt. Der `wilde´ Amudarja rettete damals die Oase Karakalpakien.
"Der Aralsee und das Gebiet Semipalatinsk in Kasachstan sind neben Tschernobyl in der Ukraine und Tscheljabinsk im sibirischen Teil Rußlands die größten ökologischen Katastrophen der früheren Sowjetunion."
Igor Trutanow in: Zwischen Koran und Coca Cola, 1994
„Der Aralsee war einst das viertgrößte Binnengewässer der Erde, er bedeckte eine Fläche von rund 67.000 Quadratkilometern, fast so groß wie Bayern. Bis die Sowjets begannen, dort Baumwolle anzubauen. Heute ist kaum mehr als eine Salzwüste übrig, über der giftige Dämpfe wabern. (...) Der Blick von einer sandigen Anhöhe im Norden von Usbekistan könnte über eine beliebige Wüste gehen – wären da nicht diese Haufen von Muschelschalen und die gestrandeten Fischerboote, die im Sand vor sich hin rosten."“
Die Welt vom 15. Juni 2015
Wie aber wird der seichter und seichter werdende Aralsee, in den diese beiden Ströme münden, gerettet? Es gibt eine Idee, um das erblühte Wüstenland Karakalpakien am Leben zu erhalten. Allerdings eine, die Für und Wider heraufbeschwört. Die Idee: einen Teil des Wassers sibirischer Ströme nach Mittelasien umzuleiten. Die Befürworter schlagen vor, das Wasser dem Ob zu entnehmen, dort, wo der Irtysch in den Ob, diesen gewaltigen Strom der Westsibirischen Tiefebene, mündet.
In der ersten Baustufe sollen jährlich 25 Kubikkilometer Wasser entnommen werden, in der zweiten 60 Kubikkilometer - das entspricht der Abflußmenge des Amudarja. Da die in die Karasee mündenden Flüsse Westsibiriens im langjährigen Mittel eine Ablußmenge von 1 350 Kubikkilometern aufweisen, kann - so meinen diejenigen, die sich für die Umleitung der sibirischen Flüsse aussprechen - von einer `Entwässerung´ des Nordpolarmeeres keine Rede sein; denn 80 Prozent der gesamten Abflußmenge der sowjetischen Flüsse gelangen ins Nordpolarmeer. Trotzdem sind Spezialisten des Arktischen und des Antarktischen Instituts der Meinung, daß weder Temperatur noch Eisverhältnisse des Arktischen Ozeans durch diesen Eingriff in die Natur gestört werden.
(...)
Wenn dieses Projekt in die Tat umgesetzt sein wird, werden 1 000 Kubikmeter Wasser je Sekunde aus Sibirien nach Mittelasien gelangen. 14 Milliarden Rubel sind dafür veranschlagt, (Wir erinnern uns: Die TRANSKAM, die gewaltige Straße, deren Tunnel mitten durch das Roksi-Massiv führt, kostete `nur´´ 150 Millionen Rubel.)
In ganz Usbekistan werden gegenwärtig 3,5 Millionen Hektar Ackerland bewässert. Auf dieser Fläche werden heute über 98 Prozent der gesamten Ernte dieser Sowjetrepublik eingebracht. Und jährlich können weitere 100 000 Hektar hinzukommen. Den Wasservorräten Usbekistans und der anderen mittelasiatischen Republiken sind jedoch Grenzen gesetzt. Bei einer vernünftigen Nutzung des riesigen Wasserpotentials der Flüsse Sibiriens und Mittelasiens einerseits und der noch brachliegenden Flächen andererseits lassen sich über 200 Millionen (!) Menschen ernähren.
(...)
Aber es gibt durchaus auch Gründe, Zweifel anzumelden, so befürchten die Skeptiker diesen enormen Eingriff in die Natur, halten Folgen für Klima, Flora und Fauna Sibiriens nicht für ausgeschlossen. Auch die Fischbestände sind im Gespräch. Die Verluste, so hat man errechnet, können etwa 7 000 Tonnen jährlich betragen, davon 320 Tonnen Edelfisch. Es wird allerdings auch damit gerechnet, daß 27 000 Tonnen Fische pflanzenfressender Arten jährlich in den an der Kanaltrasse frisch aufgefüllten Seen sowie im Delta von Syrdarja und Amudarja gefangen werden könnten.
"Die Umleitung der sibirischen Ströme gilt in Russland längst als Sinnbild für größenwahnsinnige Utopien der sowjetischen Führung. (...) Immerhin hatte das Zentralkomitee der kommunistischen Partei gleich nach Beginn der Perestroika alle Pläne zu den Akten legen lassen, sibirisches Wasser auf usbekische (und karakalpaische) Baumwollfelder zu pumpen. Gutachten hatten das Projekt als zu teuer und sinnlos bezeichnet. Das sibirische Flussprojekt hatte bereits in den Jahren zuvor, als es noch keine Presse- und Meinungsfreiheit in der Sowjetunion gab, unter den Bürgern zu massiven Protesten geführt."
Die Netzzeitung von RUFO vom 09. Dezember 2002
Auf einem Kohleschlepper fahren wir schließlich hinaus auf den Aralsee, dessen Wassertiefe, so sagt uns einer der Schiffsmänner, in den letzten zehn Jahren um 6,5 Meter gesunken ist. Weit draußen ist er aber noch immer eine Schönheit: Wir sehen weiße Pelikane und schwarze Möwen...
Bei schmackhafter Fischsuppe kommt natürlich das Gespräch auch auf die Umleitung des sibirischen Wassers. Die Männer, alle gebürtig aus Muinak, einst direkt am Aralsee gelegen, erzählen uns auch von einer allerdings in ferner Zukunft liegenden Perspektive für den geliebten See: Von der ersten Baustufe wird er noch nicht profitieren, später aber, wenn die dringendsten Bewässerungsaufgaben gelöst wein werden, kann ein Teil des sibirischen Wasser auch in den Aralsee geleitet werden - womit eine Perle Mittelasiens gerettet wäre."
Die (vierund)vierzig Mädchen (LESEPROBE aus: "Diesseits und jenseits des Polarkreises")
Wir freuen uns heute auf die Bekanntschaft mit Aimchan Schamuratowa, der `dienstältesten´ Schauspielerin Karakalpakiens; sie ist Verdiente Künstlerin der UdSSR.
Klein ist sie, pummelig, um die Sechzig. Ihr noch tiefschwarzes Haar hat sie streng nach hinten gekämmt, zu einem wuchtigen Knoten aufgesteckt. Augenfällig die blutrot lackierten Fingernägel und da mit Goldfäden durchzogene grellgeblümte Schultertuch. Erst auf den zweiten Blick wirst du ihrer warmherzigen braunen Augen gewahr, beeindruckt dich ihr ganz schlichtes, mütterliches Wesen. Aimchan Schamuratowa ist seit einem halben Jahrhundert Schauspielerin, steht seit 1932 auf der Bühne. Da war die Oktoberrevolution bereits 15 Jahre alt.
Längst ist die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken gegründet, die erste Verfassung der UdSSR angenommen, hat der XVI. Parteitag der KPdSU (B) ein konkretes `Programm der entfalteten Offensive des Sozialismus an der gesamten Front´ formuliert. In Mittelasien jedoch - die Karakalpakische ASSR (Autonome Sozialistische Sowjetrepublik), von Vorurteilen und Wüsten beherrscht, muss erst noch gegründet werden - hat man gerade begonnen, Reformen über die Wassernutzung durchzusetzen, die Alphabetisierung ist noch nicht abgeschlossen. Die meisten Frauen spielen Tag und Nacht noch ihre untergeordnete Rolle und auf den Bühnen der Laientheater noch immer fast nur Männer - auch die Frauenrollen.
`Entdeckt´ worden war Aimchan Schamuratowa 1931 von dem Leiter eines Kolchostheaters. Sie, die Dreizehnjährige, bekam von allen Pionieren den meisten Beifall für ein altes karakalpakisches Volkslied. Sie hatte es so ergreifend vorgetragen, daß sie sich selbst zu Tränen rührte. Jener Theaterleiter weckte Aimchans Begeisterung dafür, fremde Leben zu leben. Als sie ein Jahr später von der ersten Staatlichen Bühne hörte, dem Stanislawski-Theater in Turtkul, sprach sie vor und - wurde angenommen. Aimchan Schamoratowa erzählt: `Die Gage war klein, der Hunger groß; wir hatten in Mittelasien mal wieder eine Hungersnot. Mein Nachtquartier wurde die Requisitenkammer des Theaters. Ich war vierzehn Jahre alt, hatte bis dahin weder ein Buch gelesen noch ein mehrstöckiges Haus gesehen. Woher ich den Mut nahm, von zu Hause wegzulaufen, weiß ich nicht.´
Mich erinnert der Mut der kleinen Aimchan an den Mut der legendären Gulaim, der Hauptheldin des karakalpakischen Volkspoems `Die vierzig Mädchen´ (`Kyrk Kys´). Das turbulente Geschehen in diesem Poem geht zu einem Teil auf den Anfang des zweiten Jahrtausends zurück, als die Karakalpaken noch zu dem großen Stammesverband der Petschenegen gehörten, während die im 23. und 24. Gesang geschilderten Ereignisse den Befreiungskampf des Volkes gegen Kalmykenchan Surtaischa und kurz drauf gegen den Perserschah Nadir, also historische Tatsachen aus dem 18. Jahrhundert, reflektierten. Louis Aragon, der bedeutende französische Schriftsteller, Dichter und Essayist (1897 bis 1983) vergleicht die Helden des Epos `Die vierzig Mädchen´ begeistert mit dem `Roandslied´, dem frühmittelhochdeutschen Epos aus dem 12. Jahrhundert.
Das Mädchen Gulaim, als Nesthäkchen mit sechs Brüdern aufgewachsen und wohl daher eine gewandte Reiterin und Jägerin, bekommt von ihrem Vater die Insel Minaly geschenkt. Dort übt sie sich gemeinsam mit ihren vierzig Gefährtinnen im Bogenschießen, Fechten, Speerwerfen - in allen Künsten und Fertigkeiten, die einem Batyr (einem Recken) geziemen. In den verschiedensten Jagd- und sonstigen Abenteuern steht alsbald jedes der vierzig Mädchen ihren Mann. Eins dieser kriegerischen Erlebnisse führt Gulaim mit dem jungen choresmischen Batyr Aryslan zusammen, den die schurkische Hinterlist seiner Feinde aus der Heimat vertrieben hat; die bis dahin unnahbare Gulaim wird seine Geliebte.
Und dann fallen die Kalmyken ins Karakalpakenland ein. Wie diese Invasion endet, lesen wir in einem Auszug aus dem 23. Gesang:
Hornruf ergrimm,
Banner im Wind.
Der Zweikampf beginnt.
Das Schicksal sieht den Zusammenprall -
und auf den Leibern der Panzerstahl
wird bis zur Rotglut heiß...
Und zu einem gleißenden Kreis
verschmelzen die Tage;
der Schnee taut weg.
Die Steppe sich rings mit Grün bedeckt,
Geziefer krabbelt die Gräser entlang,
der Himmel ertönt von Vogelgesang...
Da gewinnt Surtaischa die Oberhand,
die hochherzige Gulaim er packt
und hebt sie bis an den Wolkenrand,
hebt sie bis in den Himmel stracks,
in den blauen Himmel,
wo Goldfunken flimmern,
in die Wolken lammweiß,
in die Wolken,
das Spielzeug der Winde -
dort hält er sie dreist,
daß sie stöhnend sich windet...
Es saugte der Wind den schwarzen Schweiß
von ihrer hohen, edlen Stirm,
und Surtaischa warf sie erdwärts hin,
und der Himmelsbogen stand jetzt
jäh zu Füßen der Gulaim.
So flog sie im Sturze erdenwärts
durch die dröhnende endlose Leere,
als ob sie eine Sternschnuppe wäre.
Bis zur Erde waren´s drei Ellen dicht,
da fing Gulaim im Sturzflug sich
und kam auf die Füße zu stehen,
sprang den Todfeind an unversehens,
und krallte, dem Steppenadler vergleichbar,
die spitzen Nägel ihm in die Weichen;
zur Sonne hob sie den Surtaischa
und schleuderte ihn in den Wüstensand
kopfüber, so daß er darin versank
bis an die Lenden -
das war sein Ende!
Drum soll er vergessen sein!
Schauen wir lieber, ihr Freunde mein,
wie über der Steppe die Sonne steigt
und das erste saftige Grün sich zeigt
und wie es wächst Zoll um Zoll;
schauen wir zu, wie ungestüm
ihre Mutter ans Herz drückt Gulaim
und wie das von ihr gerettete Volk
weint und lacht und sich an sie schmiegt,
an seine Tochter, die errang den Sieg.
Wollen wir am choresmischen Leun,
ihrem lieben Gatten, uns erfreun,
an den Gesichtern der Kinder,
an die vierzig Mädchen nicht minder!...
Laßt uns der edelherzigen Gulaim
unsere Liebe und unseren Segen schenken,
auch ihrem Gatten, wie sich´s geziemt.
Im Lied und in ihren Enkeln
ewig zu leben,
sei ihnen vom Schicksal gegeben!...
Hornruf gelind,
Banner im Wind.
Das Festspiel beginnt.
Hell zu der Saiten Klang
tönt unser Rumgesang.
Unbesiegbar des Volkes Schwert,
unbezwingbar des Volkes Sinn!
Rum,
Ruhm,
Ruhm dir und Ehr´!
Ruhm sie dir, Gulaim.
Nachdichtung von Johann Warkentin
( Wer Spaß daran hat, die Zeilen noch einmal zu lesen, der achte mal darauf, daß an der poetischen Form auffällit ist: der lockere Rhythmus, die variable Zeilenlänge und der häufige Wechsel des Reimschemas. In dem 23. Gesang fehlen Strophen, die an das eine oder andere - sehr strenge und eigenwillige! - orientalische Versmuster anlehnen. Dafür stehen hier sechsmal, jeweils leicht abgewandelt, die energischen Kurzzeilen über die Hornsignale und die Banner - jedesmal eine wirksame Einstimmung auf die nachfolgende Episode und insgesamt eine straffe kompositionelle Einfassung.)
Im letzten Gesang befreit Aryslan mit Hilf der Gulaim und ihrer vierzig Kampfgefährtinnen seine Schwester aus der choresmischen Gefangenschaft, und das gewaltige Ganze wird gekrönt durch den Sieg der vierzig Mädchen über den persischen Eindringling, den Schah Nadir.
Aimchan Schamuratowa, obsohl auch Nesthäkchen in ihrer Familie, wurde nichts geschenkt; keine Insel Minaly von ihrem Vater und keine Ausbildung in männlichen Künsten und Fertigkeiten von ihren Brüdern. Als sie den Eltern ihren Entschluß mitteilt, Berufsschauspielerin zu werden, forderte man sie auf, sofort nach Kungrad zurückzukehren. `Als ich mich weigerte, wurde ich von ihnen und all meinen Verwandten für tot erklärt. Mit Gesetzen kannten sich meine Eltern nicht aus, sonst hätten sie mich ja zwangsweise zurückholen können.´
Etwa zwei Jahre später spielte Aimchan Schamuratowa in einem Stück die Rolle eines usbekischen Mädchens, das sich entgegen dem Willen ihrer Familie entschließt, den Schleier abzulegen. Für diese `frevelhafte´ Tag wird sie - das Stück spielte in den zwanziger Jahren unseres Jahrhunderts! - von ihrem Bruder erschlagen. Die Zeitungen brachten damals eine Rezension, voll des Lobes über das Stück und über die Schauspieler.
Der älteste Bruder Aimchan Schamuratowas, der inzwischen mehr schlecht als recht lesen gelernt hatte, entnahm der Zeitung, daß seine Schwester auf der Bühne ermordet worden war. Die Mutter beweinte ihre ungehorsame Tochter - der Vater war inzwischen verstorben - und bat den Ältesten, die Tote `heimzuholen´.
`Mein Bruder verkaufte unsere einzige Kuh, um Geld für die Reise zu haben´, sagt Aimchan Schamuratowa, `elf Tage fuhr er mit dem Boot auf dem Amudarja von Kungrad nach Turtkul. Damals eine weite und nicht ungefährliche Reise.´
Als ihr Bruder im Theater eintraf, war gerade Vorstellung. Wiederum führte man ein Bruder-Schwester-Stück auf. Der Bruder war von Basmatschenbanden gefangengenommen worden, und die mutige Schwester, die Aimchan Schamuratowa spielte, befreite ihn unter Einsatz ihres Lebens.
Mutig wie einst Gulaim...
`Mein Bruder, der seinen Augen nicht traute, als er mich munter und lebendig auf der Bühne sah, kam mitten im Stück auf mich zugestürzt. von der Aufführung zu Tränen gerührt´, erinnert sich Aimchan Schamuratowa, `nahm mich Totgeglaubte bei offenem Vorhang in die Arme. Das Publikum zu Zeugen aufrufend, verzieh er mir. Er, der jetzt, nach dem Tode meines Vaters, das Familienoberhaupt war, nahm mich wieder in die Familie auf. So einen Applaus hatte unser Haus bis dahin noch nicht erlebt...´
1940 wurde Aimchan Schamuratowa zum Studium nach Moskau delegiert; doch schon ein Jahr später unterbrach der Krieg ihre Ausbildung.
Aimchan Schamoratowa hat in ihrem Leben etwa hundert Rollen gespielt. `Schon bald´, sagt sie lächelnd, `Mutterrollen. Auf der Bühne und im Leben.´ Mit drei Mutterrollen ist sie auch heute noch fest im Spielplan.
Im Leben ist Aimchan Schamuratowa Mutter von sieben Kindern, sie hat drei Söhne und vier Töchter. `Ein Sohn ist Fernsehautor, einer Mitarbeiter des Ministerrats, einer Fachschullehrer; eine Tochter ist Schuldirektorin, eine andere Englischlehrerin, zwei Töchter sind Hochschuldozentinnen´, zählt Aimchan Schamuratowa lächelnd an den Fingern ab. `Als mein Mann starb - er war stellvertretender Ministerratsvorsitzender, Stadtparteisekretär von Nukus, Vorsitzender des Schriftstellerverbandes und selbst Schriftsteller -, war die jüngste Tochter gerade zwanzig Tage alt. Nein, ein leichtes Leben habe ich nicht gelebt.´
Ihre Hände, die die ganze Zeit still gefaltet auf ihrem Schoß liegen, beginnen zu beben. Dann lächelt sie wieder und fährt ruhig fort: `Aber ich bin stolz auf meine drei Jungen und vierundvierzig Mädchen.´
Aimchan Schamuratowas Mann war es, der das karakalpakische Nationalepos `Die vierzig Mädchen´ - bis dahin nur mündlich überliefert - erstmalig aufzeichnete, zusammen mit Professor Tolstow. Als es im Stanislawski-Theater uraufgeführt wurde, spielte seine Frau darin - nicht Gulaim, sondern deren Mutter.
Schade, denn hatte Aimchan nicht genausoviel Mut bewiesen wie Gulaim? Die eine trat mit vierzig Amazonenfreundinnen als Verteidigerin ihres Volkes vor feindlichen Überfällen auf, die andere - verstoßen und auf sich allein gestellt - als Schauspielerin auf der Bühne. Und das zu einer Zeit, als in den Köpfen der meisten Menschen in Mittelasien das Verhalten der Frau noch streng durch den Koran - das heilige Buch des Islams - vorgeschrieben war. Nach islamischen Glaubensvorstellungen galt es als Verbrechen, wenn sich eine Frau öffentlich `zur Schau stellte´- obwohl die Karakalpakin als einzige Frau Mittelasiens stets unverschleiert ging.
`Für die Rolle der Gulaim´, sagt Aimchan Schamuratowa (wie mir scheint, doch ein bißchen wehmütig), war ich inzwischen schon nicht mehr jung genug.´
Mutter sein - im Leben und auf der Bühne - war bisher ihre Lieblingsrolle. `Inzwischen´, so gesteht sie, `geht mir nichts über die Rolle der Großmutter.´ Und dann schwärmt sie von ihren Enkeln...
Das Epos `Die vierzig Mädchen´ hat keine Analogien in den folkloristischen Werken der anderen mittelasiatischen Völker, überraschenderweise aber viele gemeinsame Motive mit dem `Narten-Epos´ der Völker des Kaukasus, besonders viele mit der ossetischen Variante. Die einen Forscher sind der Meinung, daß sich das `Narten-Epos´im Milieu der Alanen im 1. Jahrtausend unserer Zeitrechnung formiert hat, seine ältesten Varianten können jedoch - so meinen die anderen - durchaus auch in die Mitte des 1. Jahrtausends vor unserer Zeitrechnung, in die skythisch-sarmatische Periode, fallen, daß hieße, daß die Geburt des `Narten-Epos´ in einer Umwelt vor sind ging, in der sich auch die Quellen des karakalpakischen Epos bildeten. Ist zum Beispiel im karakalpakischen Epos die kühne und schöne Gulaim die Heldin, so ist es im ossetischen `Narten-Epos´ die weise Ssatana, die mir bewaffneten Gruppen von jungen Mädchen die Heimat vor angreifenden Feinden rettet.
Die Moskauer Historikern und Karakalpakienspezialistin, Dr. Lada Tolstowa, meint: `Offensichtlich haben die Forscher recht, die die Ähnlichkeit der Motive des karakalpakischen Epos und die des ´Narten-Epos´ auch durch ethnische Verbindungen oder Zusammenhänge der Völker des Aralseegebietes mit den Vorfahren der Osseten erklären. Eine entscheidende Rolle bei der Herausbildung der kaukasischen Osseten spielten die Stämme der Alanen, deren nomadisierenden Züge sich auf ein umfangreiches Territorium erstreckten - vom Nordkaukasus bis weit nach dem Osten, ja bis in die Nähe des Aralsees.´
Als wir uns von Aimchan Schamuratowa verabschiedeten, sagt sie: ``die vierzig Mädchen´ ist in Inhalt und Form ein wahres Werk des Volkes. Sein fast zweitausend Jahre alter Grundgedanke ist der Kampf für die Freiheit und Unabhängigkeit, der Kampf für die Einheit der Völker.´
Wissenschaftler haben bis ins 6. Jahrhundert unserer Zeitrechnung bei den Stämmen, die die Grundlage für die Formierung des karakalpakischen Volkes bildeten, Überbleibsel des Matriarchats nachgewiesen.
Für die Wiederbefreiung der Frau hat Aimchan Schamuratowa das Ihre beigetragen."
2015 gibt es in Nukus ein Opern- und Ballett-Theater und ein Puppentheater.
Nichtswüdig ein Mensch, der nicht lachen kann... (LESEPROBE aus: "Diesseits und jenseits des Polarkreises")
"Von allen uns nun schon vertrauten Völkerschaften zeigen sich die Karakalpaken am lachlustigsten. Boris Priwlow, ein Philologe, schreibt: `Sogar in einem gewöhnlichen Gespräch über alltägliche Erscheinungen verwendet der Karakalpake innerhalb von fünf bis sieben Minuten mindestens zwei Hyperbeln und drei Scherze.´
Spätestens am dritten Tag waren wir vom karakalpakischen Gelächter angesteckt. Auf der Rückfahrt vom Ustjurt-Plateau hält unser Zug auf einem Bahnübergang. Wir wollen in einen Jeep umsteigen, um den Weg zum nächsten Kolchos abzukürzen. Vor der heruntergelassenen Schranke steht ein Auto.
Wartet
Hupt
Huupt
Huuupt.
Unsere Gastgeber stört das nicht. Sie haben uns noch und noch eine Anekdote über Omirbek, den karakalpakischen Eulenspiegel zu erzählen. Plötzlich ein Schreien, Hasten, Jagen... Vor Schreck vergeht auch uns das Lachen - obwohl die Pointe des letzten Scherzes deutsch nun erst bei uns angekommen ist.
Durch unsere Straßenblockade haben wir Kallibek Kamalow, den ersten Mann im Lande, bei der Ausübung gewichtiger Staatsangelegenheiten behindert: Er eilt - so stellt sich heraus - zu Reis und Baumwolle, um die Ernte kritisch in Augenschein zu nehmen; hundert Meter weiter wartet schon sein startbereiter Hubschrauber. Nun glaube aber nur keiner, daß dieses Vorkommnis betrüblich bleibt. Beileibe nicht. Der 1. Sekretär des Gebietsparteikomitees schüttet sich vor Lachen über unser unprotokollarisches Kennenlernen. Noch voller Lächfältchen um Mund und Augen verabschiedet er sich: `Auf Wiedersehen zum angemeldeten Interview. Von mir aus: schrankenlos."
Auf Grund der Baumwoll-Affäre, die 1987 aufgedeckt wurde - sowohl der usbekischen als auch der karakalpakischen Führung wurde Korruption, Vetternwirtschaft, Veruntreuung von staatlichen Geldern vorgeworfen - wurde Kallibek Kamalow ebenfalls für schuldig befunden und durch den Präsidenten der UdSSR am 15. Juni 1990 seines Amtes enthoben, aller Ehrungen beraubt und ins Gefängnis gesteckt. Ich erfuhr dies 1991 ziemlich fassungslos von meinem Bekannten Igor Trutanow, einem Russlanddeutschen aus Kasachstan, der inzwischen mit seiner Familie in Kanada lebt.
Nun verläßt `unser´ Zug aber doch den Schrankenbereich. Wir winken. Doch da hält der Zug auch schon wieder, und aus ihm heraus klettert wiederum der Lockführer, um noch einige der Eulenspiegeleien Omirbeks loszuwerden´:
Es gab einmal einen grantigen Alten, der jedesmal bitterböse wurde, hörte er von den Späßen und Schelmenstreichen des kleinen Omirbek. - `Wozu soviel Aufhebens wegen des Geplappers eines Knirpses´, brummte er. - `Besuchen Sie ihn doch mal´, riet ihm ein Bekannter. - `Mit größtem Vergnügen will ich den geschwätzigen Bengel blamieren!` antwortete der Alte und begab sich zur Jurte von Omirbeks Vater. Vor der Jurte trag er auf Omirbek und seine Spielkameraden.
`Wieso eigentlich lobt alle Welt deine Klugheit und Findigkeit?´ fragte der Alte den kleinen Omirbek gereizt. Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr er bissig fort: `Je klüger der Mensch in seiner Jugend, desto dümmer wird er im Alter!´- `Oh, wie klug müßt Ihr da früher gewesen sein, Herr!´ erwiderte Omirbek.
*
Es lebten am Hofe des Khans zwei Freunde: der Richter und der Henker. Sie waren so eng befreundet, daß selbst ihre beiden Söhne unzertrennlich waren. Jedesmal, wenn sich die Gelegenheit bot, mit Omirbek zu sprechen, klagte das Hofgesinde über die Gemeinheiten des Richters und des Henkers: "Treib du, Omirbeck´, so baten die armen Leute, `einen Keil zwischen die beiden.´ - `Die zwei sind ja nur deshalb so dicke Freunde, weil sie gemeinsam stehlen und betrügen´, meinte Omirbek. Anderntags winkte er vor den Augen sämtlicher Hofleute den Sohn des Henkers herbei und tat so, als flüstere er ihm etwas ins Ohr. Aber er bewegte nur die Lippen. Dann sagte er laut: `Aber ich bitte dich, zu keinem ein Wort!´ - Eine Stunde später begegnete der Sohn des Henkers seinem Freund, dem Sohn des Richters. Jener fragte den Henkerssohn, vor Neugierde schier berstend:: `Was hat dir Omirbek gesagt?`- `Gar nichts hat er gesagt!´- `Soo! Willst es nicht sagen? Mir deinem besten Freund?´- `Bei Allah, er hat nichts gesagt!´- `Was, jetzt auch noch Allah zum Zeugen anrufen! Vielleicht war es etwas über meinen Vater?´- `Aber nein doch, ich schwöre es dir.´- `Wieso hat dich Omirbek gebeten, nichts zu verraten, wenn er überhaupt nicht gesagt hat?´- `Weiß ich nicht!´- `Du lügst.´- So zankten sich die zwei. Bald wurden auf diesen Zwist die Väter aufmerksam. Aber auch seinem Vater, dem Henker, konnte der Sohn nichts sagen. Letzten Endes schenkte der Henker seinem Sohn Glauben, nicht aber der Richter seinem Freund, dem Henker. `Du verheimlichst vor mir, was Omirbek gesagt hat. Sicher war es etwas über mich.´- Ein Wort gab das andere, bis Richter und Henker sich völlig verzankt hatten. Danach getraute sich der Richter nicht mehr, Schmiergelder zu nehmen - womöglich spionierte der Henker ihn nach. Ja, und dieser traute dem Richter nicht mehr.
Nun ging es den Habenichtsen etwas besser.
*
Eines Tages wurde Omirbek gefragt: `Wie alt bist du eigentlich?´- "Einundfünfzig´, erwiderte er. - Es vergingen fünf Jahre, da stellte man ihm dieselbe Frage. `Einundfünfzig´, gab Omirbek wieder zur Antwort. - Aber wie denn das´, seine Freunde staunten, `vor fünf Jahren warst du doch auch schon einundfünfzig!`- Darauf Omirbek: `Hast du mal einund- fünfzig´ gesagt, dann verleg ich später nicht auf `sechsundfünfzig. Ihr wißt doch: Omirbek steht immer zu seinem Wort.´"
Das "schrankenlose" Interview (LESEPROBE aus: "Diesseits und jenseits des Polarkreises")
"Während der Zeit der Baumwollernte kann man Kallibek Kamalowitsch Kamalow am Schreibtisch nur nach vorheriger Anmeldung antreffen. Wir sind angemeldet. Und wir haben das Versprechen des `schrankenlosen´ Interviews...
Der Vater Kallibek Kamalows, so hatten wir schon von unserem Betreuer erfahren, war Dechkan, ein armer, schriftunkundiger Bauer. Von seinen acht Kindern überlebtem vier, die anderen vier starben an erkannten und unerkannten Krankheiten, bei zweien, hieß es, sei es Tuberkulose gewesen. Auch die Mutter Kalibek Kamalows starb daran.
Kallibek Kamalowitsch, es gab eine Zeit, da zaristische Beamte die Karakalpaken verächtlich als Unkraut bezeichneten...
... zum Ausrupfen, zum Aussterben verurteilt. Ohne Wasser kein Leben! Und den Karakalpaken stand es nur tropfenweise zur Verfügung. Erst einmal einige wenige Daten aus unserer Geschichte: Im 15./16. Jahrhundert hatte sich mein Volk herausgebildet, im Gebiet am Unterlauf des Syrdarja. Im 17. und 18. Jahrhundert gerieten die Karakalpaken in die Abhängigkeit kasachischer Khane. Sie führten das Leben von Halbnomaden und betrieben Ackerbau, Viehzucht und Fischfang. An der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert wurdensie vom Khanat Chiwa unterworfen und 1911 in das Delta am Amudarja zwangsumgesiedelt. Große Aufstände wurden grausam niedergeschlagen. Am 12. August 1873 schloß sich der größte Teil der Karakalpaken (östlich vom Amudarja) freiwillig Rußland an.
Die ersten Verhandlungen waren schon 1722 mit der Regierung Peters I. geführt worden. Der Anschluß schützte die Karakalpaken zwar vor dem ständigen Einfall benachbarter Stämme, brachte ihnen aber zur Ausbeutung durch die reichen Beis und die islamische Geistlichkeit noch den Druck der zaristischen Behörden. Dennoch: Es läßt sich unschwer vorstellen, wie es heute in Karakalpakien aussehen würde, wenn es nicht den Schutz des russischen Staates gesucht und später nicht den Weg des sozialistischen Aufbaus eingeschlagen hätte. Seine wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung unterschiede sich kaum von Niveau westlicher Staaten des Ostens, wie der Türkei, des Iran oder Pakistans. Das karakalpakische Sprichwort `Ein Volk ohne Freunde hat kein Schicksal´ hat jedoch erst seit der Sowjetmacht für uns keine Bedeutung mehr. Inzwischen haben wir Freunde, viele Freunde. In der Karakalpakischen ASSR leben Angehörige von achtundachtzig sowjetischen Völkerschaften. Der innige Wunsch nach Frieden unter den Völkern, der in unserem Volkspoem `Die vierzig Mädchen´ zum Ausdruck kommt, ist dank der Leninschen Nationalitätenpolitik Wirklichkeit geworden.
In nicht einmal sieben Jahrzehnten ging das Volk der Krakalpaken den Weg vom Öllämpchen zum Wasserkraftwerk Tachiatasch...
... was nur ein symbolisches Beispiel ist für diesen Weg. Das Wasserkraft werk versorgt nicht nur ganz Karakalpakien mit Elektrizität, sondern auch das Gebiet Choresm in Usbekistan und einen Rayon Turkmeniens.
Bis zur Oktoberrevolution bestanden in Karakalpakien nur manufakturähnliche Kleinbetriebe zur Verarbeitung landwirtschaftlicher Produkte, in denen jeweils nur etwa zehn Arbeiter beschäftigt waren. Für einen Arbeitstag von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang erhielten sie maximal vierzig Kopeken. Besonders schwer war das Leben der Frauen. Sie hatten den sozialen Status von Sklavinnen, besaßen keinerlei Rechte und waren Handelsobjekte. In ganz jungen Jahren wurden sie als Ehefrauen verkauft und damit zu lebenslänglicher Gefangenschaft verurteilt. Autoren aus Ihrem Land haben `Das russische Wunder´ herausgegeben. Es gibt auch ein karakalpakisches Wunder. Dazu gehören der Weg om Öllämpchen zum Wasserkraftwerk Tachiatasch, die Verwandlung der ehemaligen Krawanenpfade in gepflasterte Straßen und Eisenbahnstrecken, die der Erddämme und individuellen Bewässerungsgräben in industriemäßige Irrigations- und Meliorationskomplexe; durch Karakalpakien verlaufen auch die interkontinentalen Gasleitungen `Buchara-Ural´ und `Mittelasien-Zentrum´.
Ein althergebrachter Ausspruch sagt, die Karakalpaken leben drei Monate im Jahr von Fisch, drei Monate von Melonen, drei Monate von Kürbis, drei Monate von Milch...
Früher waren die Nahrungsmittel der Karakalpaken knapp bemessen und sehr eintönig. Sie sicherten lediglich eine Existenz am Rande des Hungertodes. Wenn wir Kinder mal ein Stückchen Fleisch bekamen, so war das ein Festtag für uns.
Wir besuchten inzwischen in Chodsheili das modernste Fleisch- und Wurstkombinat Karakalpakiens...
Nun, dann wissen Sie auch, daß das Kombinat von einer Frau geleitet wird; sie ist ihrer Nationaliät nach Perserin.
Ja, und wir hörten auch, daß allein in diesem Kombinat täglich dreihundert Rinder geschlachtet werden, hundert Schweine, tausend Schafe, eine Unmenge Geflügel; es werden siebenundzwanzig Wurstsorten hergestellt und vor allem: Halbfertigfabrikate, um den kinderreichen Familien die Hausarbeit zu erleichtern.
Sie sehen, den Karakalpaken muß um das Fleisch zum Plow nicht mehr bange sein... Sicherlich interessant für Sie, daß im Fleischkombinat auch Pferdewurst hergestellt wird, die in ganz Mittelasien sehr beliebt ist.
Und wie steht´s mit dem Reis zum Plow?
Bis in die sechziger Jahre mußten wir den Reis für unser Nationalgericht zum größten Teil importieren. Als jedoch der XXV. Parteitag auf die Notwendigkeit des erweiterten Reisanbaus in Karakalpakien verwies, beschlossen wir, der Reiskammer im Schwarzerdegebiet des Kuban Konkurrenz zu machen. Inzwischen haben sich unsere nördlichen Bezirke auf Reis, die südlichen auf Baumwolle spazialisiert. Bis 1990 wollen wir eine Million Tonnen Reis produzieren.
Der Stolz der Karakalpaken ist die Baumwolle...
Wir sind seit alters die geborenen Viehzüchter. Sie wissen natürlich, daß unsere Karakulfelle, auch Persianer genannt, als die besten der Welt gelten... Spöttisch nannte man früher unsere kleinwüchsige, ertragarme Baumwolle `Schäfchen´-Baumwolle. Karakalpakien liegt auf der gleichen geographischen Breite wie Frankreich. Vor den Karakalpaken hatte es niemand gewagt, in diesen Breiten Baumwolle anzubauen. Da es bei uns nicht genügend warme Tage im Jahr gibt, züchtete man frühzeitig reifende Sorten. So verkürzten wir die agrotechnischen Termine, und heute ernten wir mehr als dreißig Dezitonnen Baumwolle je Hektar. Keiner glaubte, daß im nördlichsten Baumwollanbaugebiet der Welt je so gute und soviel Baumwolle wachsen würde. Nun, heute können wir unsere Baumwolle , um im Bilde zu bleiben - durchaus `Pferde´-Baumwolle nennen - sechzehn bis achtzehn Kapseln wachsen an jedem Strauch. Zu achtzig Prozent werden sie maschinell gepflückt. Wenn man den diesjährigen Ertrag von vierhundertfünfzigtausend Tonnen Baumwolle zu Gewebe verarbeitet, so sind das drei Milliarden Meter Webstoff. Dami könnte man den gesamten Erdball dreiundsiebzigmal umgürten.
"Als die Baumwoll-Affäre (in den achtziger Jahren) aufgedeckt wurde, kam an die Öffentlichkeit, daß in Usbekistan (und Karakalpakien) `Potemkinsche´ Plantagen unterhalten wurden. Die Investitionsmittel aus dem Unionshaushalt flossen in die Taschen der Mafia. Auch die nähere Umgebung des KPdSU-Generalsekretärs Leonid Breshnew war dahinein verwickelt. Breshnews Schwiegersohn Juri Tschurbanow, früher Vize-Innenminister der UdSSR, wurde später für die Beteiligung an diesen Vorgängen zu zehn Jahren Haft verurteilt."
Igor Trutanow in: Zwischen Koran und Coca Cola, 1994
Als sich die Sowjetmacht noch in ihren Anfängen befand, sah Lenin voraus, daß die wichtigste Voraussetzung des sozialistischen Aufbaus in Mittelasien die Baumwolle sein würde. Sowjet-Mittelasien, so forderte er, müsse zur Hauptbasis des vaterländischen Baumwollanbaus werden. 1921 erhielt Karakalpakien sechsundzwanzigtausendvierhundert Pud* Baumwollsamen, und etwa neun Millionen Rubel wurden für die Wiederherstellung der Irrigationssysteme bewilligt.
* alte russische Gewichtseinheit, 1 Pud = 16,381 Kilogramm
1921 - das war das schwere Mißerntejahr im Wolga- und Uralgebiet...
Ja, wir nahmen nicht nur, wir gaben auch. Von Dankbarkeit und enger Verbundenheit unseres Volkes zu den anderen sowjetischen Völkern zeugt zum Beispiel die Hilfe der Fischer vom Aralsee. Bis Ende 1921 hatten sie vierzehn Waggongs Fisch in die Hungergebiete entsandt. Außerdem lieferten die Werktätigen des Amtsbezirks am Amudarja in den Fonds der Hilfe für die Hungernden neunhundertdreiundzwanzig Pud Getreide, Viel und etwa siebzehn Millionen Rubel. Hunderte von Menschen fanden bei uns Asyl, wurden mit Kleidung und Nahrung versorgt.
Die Karakalpaken haben auch im Großen Vaterländischen Krieg geholfen, so gut sie konnten...
Die Werktätigen Karakalpakiens sammelten für den Aufbau einer Panzerkolonne und für ein Kampfflugzeuggeschwader vierundzwanzig Millionen Rubel, dem `Verteidigungsfonds´ steuerten sie über fünf Millionen Rubel bei. Für die Kämpfer der Sowjetarmee wurden achtundachtzigtausend Stück warmer Kleidung und Schuhwerk an die Front geschickt. Für die staatliche Kriegsanleihe wurden 154,6 Millionen Rubel gezeichnet, für die Geld- und Sachwertlotterie 30,7 Millionen Rubel. Es ist außerordentlich symbolisch, daß zum Gedenken der ewigen Freundschaft mit den Werktätigen der Autonomen Karakalpakischen Republik die Wolgograder eine ihrer neuerrichteten Straßen `Karakalpakskaja uliza benannt haben. Mit besonderer Fürsorge und Aufmerksamkeit umgab die Bevölkerung unserer Republik die evakuierten Kinder. Neunhundert Kinder, die ihre Eltern verloren hatten, wurden bei uns als Zöglinge aufgenommen. Von persönlichen Ersparnissen gaben die Karakalpaken speziell für die Kinder 363 000 Rubel und etwa 250 000 Stück an warmer Kleidung und Schuhwerk.
Kommen wir noch einmal zur Landwirtschaft zurück. Der Stolz der Karakalpaken ist nicht nur die Baumwolle, sondern das sind auch die zuckersüßen Melonen und das Obst - Äpfel, Birnen, Pfirsiche, Kirschen...
Obst versenden wir tonnenweise, sogar bis nach Moskau. Vor zwei Jahrzehnten allerdings führten wir Obst noch ein.
Mit Baumwolle, Reis und Seidenbau haben Sie die aufwendigsten landwirtschaftlichen Kulturen auf Ihrem `wüsten´ Territorium vereinigt...
Und wir sind auch erfolgreich im Anbau von Mais und Luzerne, obwohl bei uns die Nachtfrröste einen ganzen Monat früher einsetzen als im übrigen Usbekistan.
Bei unseren Reisen durchs Land fiel uns auf, daß die Karakalpaken der Jurte noch nicht endgültig ade gesagt haben...
Doch. Eine Ausnahme machen nur die Hirten. Und auf dem Lande lebt man winters in verputzten Lehm- und Ziegelbauten, im Sommer werden Tisch und Liege auch heute noch lieber in die luftige Jurte gebracht, die im Garten aufgebaut ist. Man berichtete mir, wie sehr Ihnen - bei fast vierzig Grad Wärme - die Jurten in der Oase Ellikkala behagten... Auch für die Naherholung benutzen wir Jurten, verkleidet und verziert, mit Teppichen ausgelegt, wie die der ehemaligen Beis; viele Jurten sind sogar mit Licht und Kühlschrank ausgestattet.
Wieviel Karakalpaken konnten vor der Revolution lesen und schreiben?
Die russische Zeitschrift `Westnik Wospitanija´ (`Mitteilungen des Erziehungswesens´) prophezeite neun Jahre vor der Oktoberrevolution, daß 4 600 Jahre vergehen müssten, bis in Turkestan das Analphabetentum überwunden sein würde... In der Region Turkestan, zu der vor 1917 alle mittelasiatischen Völker gehörten, konnten von hundert Einwohnern nur drei lesen und schreiben. Und in Karakalpakien waren es sogar nur zwei von tausend! 1919 unterschrieb Lenin ein Dekret, in dem angewiesen wurde, der Bevölkerung im Alter von acht bis fünfzig Jahren das Lesen und Schreiben beizubringen - in der Muttersprache oder in der russischen Sprache. Bei uns wurde sofort mit der Liquidierung des Analphabetentums begonnen. Doch eine Fibel in karakalpakischer Sprache konnte erst 1925 herausgegeben werden., nach der Ausarbeitung eines karakalpakischen Alphabets auf der Grundlage des arabischen Schriftbildes; ab 1928 vollzog man den Übergang zum lateinischen Alphabet. Besonders betonen möchte ich die große Bedeutung des Übergangs zu kyrillischen Schriftzeichen im Jahre 1940: Mehr und mehr fühlten wir uns auch dadurch dem russischen Volk verbunden. - 1959 wurde in Nukus die erste Filiale der Akademie der Wissenschaften der Usbekischen SSR eröffnet, in der heute mehr als 700 wissenschaftliche Mitarbeiter tätig sind. Wie haben eine Universität, 23 Fachschulen, etwa 700 Schulen, kurz- eine viertel Million Lernende.
Wie stehen Sie zum Kinderreichtum der Karakalpaken?
Durchaus positiv. Denken Sie doch nur an die gewaltigen Ausmaße der Neulandgewinnung aus Steppe und Wüstenland, an die Bewässerung immer größerer Teile der Wüste, an unsere enormen Kanalprojekte, an die eventuelle Umleitung sibirischen Wassers nach Mittelasien. Was für eine Arbeit erwartet uns, welch schöne Arbeit! Gegenwärtig erschließen das Ellikkala-Massiv. Die Ausgrabungen von Überresten fünfzig prähistorischer Städte sagen uns, daß hier einmal blühendes Leben war - bis das Wasser versiegte. Die ersten Baumwollgelder blühen schon - ringsum noch von Wüste umgeben. Bei uns lautet ein Sprichwort: `Eine Nachtigall singt nur dort, wo eine Rose blüht.´ Bald werden bei uns überall Rosen blühen und Nachtigallen singen. Unsere schönsten Nachtigallen - das sind Karakalpakiens Kinder. Besuchen Sie uns 1990 noch einmal, dann werden Sie Karakalpakien als eine vollerblühte Rose in Eigenschein nehmen können. Bis dahin wünsche ich Ihnen von ganzem Herzen kaukasische Langlebigkeit, sibirische Gesundheit, mittelasiatischen Kinderreichtum und - karakalpakische Güte."
Shenge - Schwiegertochter Karakalpakiens (LESEPROBE aus: "Diesseits und jenseits des Polarkreises")
"An das nächtliche Heulen der Schakale direkt vor meinem im Parterre gelegenen Hotelbalkonzimmer in Nukus habe ich mich gewöhnt, obwohl immerhin ein Rudel Schakale auf mich keinen geringeren Eindruck macht als ein Rudel Wölfe. Vergangene Nacht aber dachte ich, mein Herz müsse stehenbleiben vor Angst... Es raschelte in meinem Zimmer an allen Ecken und Ende, etwa so, als würde es mit einem Reisigbesen ausgekehrt. Ich wagte nicht, mich zu rühren, nur die Augen quälte ich mühsam in Richtung Wecker mit Leuchtzeigern. Es war kurz vor drei Uhr in der Früh. Was tun? Mein Herz schlug mit dem undefinierbaren lautstarken Geräusch um die Wette. Alles mögliche fiel mir ein: Zum Beispiel hatte ich gestern in der Wüste fast auf eine Pfeilschlange getreten. Klein ist dieses äußerst giftige Kriechtier, das, daher sein Name, blitzschnell wie ein Pfeil hochschießt und zubeißt. Unser Betreuer, Dr. Iglik Kossymbetow, groß geworden mit der Wüste, hatte die sandfarbene Schlange gerade noch rechtzeitig im Wüstensand entdeckt, mich mit der Rechten flink zur Seite gestoßen, gleichzeitig mit der Linken die Schlange am Genick gepackt und - ihr den Garaus gemacht. Das aufregende Erlebnis hatte viele Schlangengeschichten ans gleißende Sonnenlicht befördert, zum Beispiel wurde von einer Geologin berichtet, der eine Pfeilschlange in den Rucksack geschlüpft, so ins Zelt, dann in ihren Schlafsack geraten war und der jungen Frau den Tod gebracht hatte.
Ich weiß nicht, woher ich den Mut nahm, jedenfalls warf ich mich auf die Seite, suchte mit zitternder Hand den Schalter der Nachttischlampe, fand ihn, knipste und - sah: Vor meinem Bett sitzt in possierlicher Haltung ein riesengroßer - Frosch. Wir starren uns - beide unbeweglich - in die Augen. Plötzlich scheint mir, daß ein einnehmendes Lächeln seinen zahnlosen Unterkiefer verzieht. Aber gerade noch rechtzeitig fällt mir ein, daß ich keine junge Königstochter bin, so schön, daß sich die Sonne selber wundert, und ohne daß es mir bewußt wird, entringt sich ein gellender Schrei meiner bedrückten Brust. Sekunden später ist mein Zimmer von aufgeschreckten Hotelbewohnern belagert. Bevor ich eine Erklärung für meinen mörderischen Laut abgeben kann, hüpfen in ausgerichteter Reihe schön langsam an uns vorbei: Vater Frosch, etwas kleiner Mutter Frosch und vier allerliebste Froschkinder. Augenblicklich ist mein Hotelzimmer von markerschütterndem Gelächter erfüllt. Ich lache diesmal am lautesten und am meisten: keine Schakale, keine Pfeilschlangen, nur - Frösche, von denen doch jedes Kind weiß, daß sie zwar einer Fliege, aber keinem Menschen etwas zuleide tun...
Während des Frühstücks fragen mich meine Kollegen (Heinz Krüger, der Bildreporter und Johann Warkentin, der Betreuer aus Moskau), ob ich den nächtlichen Krakeel gehört hätte. Wissend, das Wahrheitsliebe nur dazu führen würde, den Rest der Reise als Hasenfuß aufgezogen zu werden, schüttele ich den Kopf, etwa so, als würde mich nächtlicher Radau grundsätzlich kaltlassen. Mißtrauisch aber bleiben sie die ganze Reise über, denn sie können sich einfach nicht erklären, wie wir, sozusagen über Nacht, zu so vielen Bekannten gekommen sind, die winkend und lachend zu uns herübergrüßen.
Nachdem wir genügend Mengen Schaule in uns hineingeschaufelt haben, machen wir uns auf den Weg zur Ausgrabungsstätte Toprak-Kala.
Auf der einen Seite unserer Fahrstrecke unübersehbare Baumwollfelder, übersät mit den flaumweichen schneeweißen Baumwollblüten. Weithin sichtbar die gelb und rot, weiß und schwarz, blau und gelb geflammten naturseidenen Kleider der Karakalpakinnen, Studentinnen meist, die bei der Baumwollernte helfen. Das Grün der Pflanzen ist auf dem meisten Flächen schon verwelkt - dafür sorgt Menschenhand, die vom Hubschrauber aus weiße Giftwolken über die Felder fegt. Nur wenn die Blätter verwelkt sind, können die Pflanzen maschinell geerntet werden.
Auf der anderen Seite der Straße unendliche Wüste mit großen Flächen, weiß vom Sqlz.
Über Baumwollfelder und Wüste ein ungeteilter blauer Oktoberhimmel, um 10 Uhr früh schon 28 Wärmegrade. Nur noch wenige Kilometer bis Toprak-Kala, der antiken Festung aus dem 3. Jahrhundert. Höchste Zeit also, mehr über Professor Sergej Pawlowitsch Tolstow zu berichten. Am 12. Januar 1907 in Petersburg geboren, gehörte er zu ersten Wissenschaftlergeneration nach der Revolution. Er war Ethnograph, Archäologe, Historiker, Orientwissenschaftler; von 1939 bis 1951 war er Leiter des Lehrstuhls für Ethnographie der historischen Fakultät der Moskauer Staatlichen Universität, außerdem von 1942 bis 1966 Direktor des Miklocho-Maklai-Instituts für Ethnographie der Akademie der Wissenschaften der UdSSR in Moskau, außerdem seit 1937 Redakteur der vielbändigen Ausgabe `Völker der Welt´, außerdem von 1938 bis 1969 Leiter der archäologisch-ethnographischen Choresm-Expedition, außerdem seit 1953 korrespondierendes Mitglied der Akademie der Wissenschaften der UdSSR und der DDR, außerdem veröffentlichte er mehr als zweihundert Arbeiten auf dem Gebiet der Geschichte, der Archäologie und Ethnographie; als Theoretiker der Geschichte der Urgemeinschaft hat er Weltruf.
In der DDR ist 1953 sein hochinteressantes populärwissenschaftliches Buch `Auf den Spuren der altchoresmischen Kultur´, wofür er 1949 den Staatspreis erster stufe erhalten hatte. Alle diese Angaben über Professor Tolstow lassen sich aus Lexika zusammentragen.
Was dort nicht geschrieben steht, erzählt uns seine Tochter: `Großvater starb 1916, die Großmutter, Arztgehilfin, mit vier Söhnen allein zurücklassend, Zwei Jahre bemühte sich Großmutter, fünf Menschen satt zu kriegen. Dann sah sie keinen anderen Ausweg mehr als den, die drei ältesten Söhne in ein Waisenhaus zu geben; einer davon war mein Vater. Fünf Jahre seines Lebens verbrachte er im Heim, sechzehn Jahren ging er an die Staatliche Moskauer Universität, mit einundzwanzig Jahren absolvierte er die historisch-ethnographische Fakultät, seine Doktorarbeit war bereits einem archäologischen Thema gewidmet. Vater, er hat oft mit mir darüber gesprochen, hatte schon als Zwölfjähriger den unumstößlichen Wunsch, die ehemals vom Zarismus unterdrückten Völker zu erforschen. 1929, während seines Praktikums, entdeckte er seine Liebe für die Karakalpaken. Es wurde eine Liebe fürs ganze Leben.´
Professor Tolstows Tochter, Dr. Lada Sergejewna Tolstowa, ist Mitarbeiterin im Ethnographischen Institut der Akademie der Wissenschaften der UdSSR in Moskau. Als wir vor unserer Reise nach Karakalpakien im Institut waren, hatte sie, die Karakalpakienspezialistin des Instituts, uns versprochen, zu dem Zeitpunkt nach Karakalpakien zu reisen, wenn auch wir dort sein würden. Sie hat Wort gehalten. Vom ersten Tag an reist sie gemeinsam mit uns durchs Land.
Ein überwältigendes Erlebnis, mit einer Frau zu reisen, der auf Schritt und Tritt die Verehrung eines ganzen Volkes entgegengebracht wird; überwältigend auch die Zuneigung bereits in die Jahre gekommener Frauen und Männer, die einst in Nukus ihre Schüler waren. Große und kleine Karakalpaken nennen sie, die Russin, liebevoll nur `Shenge´ - Schwiegertochter.
Wie kam es, daß zwei Menschen - zwei Russen, ein Vater und seine Tochter - ihr ganzes Leben mit Karakalpakien verbanden?
Er wusste schon als zwölfjähriger Waisenjunge bestimmt, daß er sein Leben einer Völkerschaft widmen würde, die vor der Revolution unterdrückt und geknechtet war.
Sie, mit Elternliebe umhegt, wußte schon vor Beendigung der Mittelschule unumstößlich, daß sie in die Fußstapfen ihres Vaters treten würde.
Seine erste Begegnung mit Karakalpakien erfolgte 1929, seine zweite 1937, als er sich mit einem Stab enthusiastischer Mitarbeiter nach dem alten Choresm begab, um die majestätischen Ruinen des mittelalterlichen Gorodischtsche Groß-Guldursun archäologisch zu erkunden.
Ihre erste Begegnung mit Karakalpakien erfolgte 1946, da Sergej Pawlowitsch seine seine siebzehnjährige Tochter als Gast-Expeditionsmitglied nach Toprak-Kala mitnahm.
`Damals´, so erinnert sich Lada Sergejewna, `war unser ausschließliches Transportmittel das Kamel. Karakalpakien - das war Wüste, nichts als Wüste. Und Toprak-Kala - das war Hitze und Sand, Sand und Hitze, zwölf Arbeitsstunden täglich... Dennoch: Keinerlei Strapazen, denen mich mein Vater bewußt aussetzte, brachten mich von meinem Wunsch ab, ebenfalls das sagenhafte Karakalpaki4en zu erforschen.´ Ein Jahr später, Lada Sergejewna studierte inzwischen Ethnographie, war sie in den Ferien wieder in Toprak-Kala, der ehemaligen Feste choresmischer Könige des 3. bis 4. Jahrhunderts unserer Zeitrechnung. `Die Harfenspielerin, abgebildet in vielen kunstgeschichtlichen Büchern der Gegenwart*, legte ich in wochenlanger Arbeit mit dem Skalpell frei.´
Ihm gelang in jahrzehntelanger Forschungsarbeit der Nachweis, daß das gebiet südlich und östlich des Aralsees reich in Denkmälern der menschlichen Kultur ist, an Denkmäler der Jungsteinzeit und des Mittelalters. Er bewies vor fast einem halben Jahrhundert, daß karakalpakisches Territorium einst blühendes Land war, weil dessen Bewohner sich auf die künstlerische Bewässerung verstanden. Weder Wüste noch Klima - wie bis dahin angenommen wurde - ließen Karakalpakien veröden, sondern Menschenhände: Die Horden Tschinggis-Chans zerstörten die Bewässerungsanlagen und mordeten somit alles Leben.
Tolstow wies nach, daß der Boden da endet, wo das Wasser endet! Er prophezeite Rosen in der Wüste, wenn die Bewässerung in großem Maßstab betrieben würde. Segej Pawlowitsch verdanken wir unsre Wiederentdeckung, sagen die Karakalpaken, und der Sowjetmacht die Bewässerung in großem Maßstab. Seit Jahrzehnten vermitteln Karakalpakiens Lehrer das Leben Sergej Pawlowitsch Tolstows im Geschichtsunterricht.
Ihr gelang das I-Tüpfelchen auf Vaters Karakalpakienliebe. Sie verliebte sich - in Moskau übrigens - in einen karakalpakischen Studenten. 1951 heirateten sie, inzwischen haben sie zwei erwachsene Söhne und eine Tochter.
Valentin Berestow, in den fünfziger Jahren Mitarbeiter Sergej Paswlowitsch Tolstows, schrieb im März 1951 anläßlich der Hochzeit Lada Tolstows mit dem Karakalpaken Doßschau Nassyrow dieses `Gelegenheitsgedicht´:
Trinkspruch
auf Lada und Doßschau
Für die Freundschaft der Völker jetzt hoch die Gläser!
Kraft eurer herrlichen Liebe habt ihr
mit einem hohen Beispiel das Wesen
der Völkerfreundschaft uns vorgeführt.
Glück auf den Weg dir, Lada. Freude und Trauer
hast du verknüpft mit dem schönen Land,
wo des Aralmeeres Weiten blauen
und der Ustjurt aufragt als weiße Wand.
Und jetzt auf das Wohl der Karakalpaken!
Auf den dunklen Gebirgszug Karatau,
auf Tschimbais Baumwolle, den Fang der Muinaker,
auf Tachiatasch, stolz und herrlich zu schaun!
Und auch auf die Lagerfeuer und Zelte
der Archäologen bei der Festung Toprak,
wo wir die Geheimnisse uralter Welten
beharrlich enträtselten Tag für Tag.
Drum töne und klinge die Hochzeitsfeier!
Ein Leben, an Mühen und Freuden reich,
ein Leben voll spannender Abenteuer,
ihr lieben Freunde, erwartet euch.
Nachdichtung von Johann Warkentin
(Mitte der fünfziger Jahre übrigens wechselte Valentin Berestow von der Archäologie zur Literatur über. Einige seiner Erzählungen haben den harten und doch auch romantischen Alltag der Archäologen zum Thema.)
Wie heißt es im Trinkspruch Valentin Berestows? "Ein Leben voll spannender Abenteuer..."
Ein solches Abenteuer ist, daß Lada und Doßchau íhre `herrliche Liebe´ immer nur auf Zeit genießen konnten. Mal in Karakalpakien, mal in Moskau; denn Lada, eine echte Tochter Tolstows, war und ist Gelehrte mit Leib und Seele.
Nach einigen Jahren Lehrtätigkeit in Nukus zog es sie mit allen Strängen an die Moskauer Akademie.
Doßschau, der Sohne eines Bauern, ist heute ein weit über die Landesgrenzen hinaus berühmter Turkologe, Mitglied des Allunionsturkologischen Komitees, Professor Dr. Doßchau Nassyrow, auf unserer Fahrt nach Toprak-Kala mit von der Partie, sagt: `Wir Karakalpaken sind so fest mit unserer Erde verwurzelt, daß wir nicht wegzukriegen sind. Außerdem bin ich oft auf dialektologischen Expeditionen. Ich beschäftige mich mit der Geschichte der karakalpakischen Sprache und ihrer Dialekte, mit dem Werden der karakalpakischen Umgangssprache und ihres Dialektsystems unter historisch-linguistischem Aspekt, mit den Beziehungen der Umgangssprache des Volkes zur Literatursprache, mit der Aufstellung einer Dialektgrundlage der karakalpakischen Literatursprache - die ja sehr jung ist -, mit einer Klassifizierung der Mundarten, mit der Beschreibung des Dialektsystems der karakalpakischen Umgangssprache in phonetischer, grammatischer und lexikalisch-semantischer Hinsicht. Ein großer Teil meiner Arbeit besteht darin, den Karakalpaken `aufs Maul zu schauen´.´
Professor Nassyrow ist einer der leitenden Wissenschaftler, die einen Mundartenatlas der karakalpakischen Sprache erarbeiteten; er ist der erste dieser Art in der ganzen Sowjetunion.
Was dort? Eine Fata Morgana? Plötzlich, rings von Wüste umgeben, die Umrisse einer alten Fest: Toprak-Kala.
1938 hatte Sergej Pawlowitsch Tolstow am Unterlauf des Amudarja, am Westrand der Wüste Kysylkum, die Ruinen von Toprak-Kala entdeckt. Gleich nach dem Krieg, von 1946 bis 1950, wurden hier unter seiner Leitung die Ausgrabungen des Herrscherpalastes von Choresm aus dem 3. Jahrhundert unserer Zeitrechnung durchgeführt.
1965 wurde sein ehemaliger Mitarbeiter Juri Alexandrowitsch Rapoport beauftragt, ergänzende Forschungen am Palast vorzunehmen.
Als wir eintreffen, sind die Mitarbeiter seiner Expedition gerade dabei, ihre Zelte abzubrechen. Dennoch werden wir sogleich mit karakalpakischen Zucker- und Wassermelonen bewirtet, bei uns nirgendwo so gut schmecken wie hier, bei nahezu 40 Grad im mittelasiatischen Sommermonat Oktober.
Und Professor Rapoport läßt es sich nicht nehmen, uns dieses bedeutende Denkmal der Geschichte und Kultur Mittelasiens selbst zu zeigen und uns - ungeachtet der Aufbruchstimmung - ganz ruhig mit vielen Einzelheiten vertraut zu machen. So einfach übrigens und klar verständlich, daß es keine Mühe macht, zu begreifen, was wir sehen, und uns vorzustellen, was schon nicht mehr zu sehen ist.
Die Nordwestecke der Stadt wurde vom Palast eingenommen, dessen Ruinen auch heute noch bis zu einer Höhe von 25 Metern die ihn umgebende ebene Wüste überragen. Das Fundament dieses Bauwerks bildete nach alter Tradition der orientalischen Architektur ein Sockel aus ungebrannten Ziegeln. Er hatte die Form eines Pyramidenstumpfes mit einer Oberfläche von 80 Metern und einer Höhe von 14,5 Metern. In geringem Abstand vom Rand dieser Plattform waren die etwa sieben Meter hohen Außenmauern des Palastes errichtet, dessen Fassade durch ein System vertikaler Nischen und Vorsprünge gegliedert und weiß bemalt war. Die Wände der Innenräume standen in der Regel auf Stützsäulen aus Ziegeln, zwischen die Sand gefüllt war. Diese Bauweise hatte offenbar antiseismische Wirkung.
Die Räume waren durch Gewölbe aus ungebrannten Ziegeln oder durch Holzbalken überdacht. Bei größeren Spannweiten wurden die Balken durch Holzsäulen gestützt. Solche Säulenbasen sind in Choresm schon für die Wende vom 5. zum 4. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung belegt. Erhellt wurden die Räume durch Lichtluken und Türen, die zu den Innenhöfen führten. Öfen gab es im Palast nicht, Kohlebecken wurden auf speziellen Erhöhungen vor Keramiknischen aufgestellt. Das Regenwasser leitete ein System von Keramikrohren und offenen Abflußrinnen aus gebrannten Ziegeln ab.
In den Palast gelangte man von Osten her über Treppen, die das Massiv des Eingangsturmes umgaben. Die Ausgrabungen legten im Erdgeschoß über hundert Räume frei; auch einige der in der zweiten Etage gelegenen Zimmer sind unversehrt erhalten. Festsäle und Kulträume waren von doppelter Höhe und hatten dementsprechend kein oberes Stockwerk.
Zentrum des Palastes war das Thronensemble mit dem Paradehof und einer großen Loggia, von der ein Teil durch einen dreibogiges Portal abgetrennt war; man nimmt an, daß bei feierlichen Zeremonien und Empfängen der Herrscher von Choresm unter dem zentralen Bogen erschien.
Um das Thronensemble waren Säle gruppiert, die wohl für besondere Zeremonien und Riten im Zusammenhang mit dem Herscherkult bestimmt waren. Unmittelbar an den Thronsaal schloß sich der `Saal der tanzenden Masken´ an. Seinen Namen verdankt er den Tonreliefs mit Darstellungen von Tanzenden, die noch teilweise an den Wänden erhalten sind. Eine Besonderheit sind Tierohren am Kopf einer dieser Skulpturen. Insgesamt waren im Saal mindestens 58 Figuren (davon nur 16 männliche) dargestellt. Nach den gefundenen Bruchstücken zu urteilen, stellt eine davon eine Göttin mit einem Tier dar. Das Pudium eines Opfertisches oder Feueraltars zeugt davon, daß es sich um einen Kultsaal handelt. Höchstwahrscheinlich war er der Fruchtbarkeitsgöttin Nana-Anahita geweiht.
Im Nordosten des zentralen Palastkomplexes stehen wir im `Saal der Herrscher´. Er erinnert im Grundriß an den Thronsaal, doch war der Gegenstand der Verehrung hier nicht der lebende Herrscher, sondern es waren die Abbilder seiner Vorfahren. In eineinhalbfacher Größe standen ihre Tonskulpturen auf Podien, die sich an den Wänden entlangzogen. Jedes dieser Podien war durch Zwischenwände in mehrere Logen geteilt; in der Mitte thronte die Statue des Herrschers, recht davon befanden sich zwei weibliche Reliefdarstellungen, links eine männliche Figur und in der Ecke ein stufenförmiger Sockel. Wahrscheinlich stand hier eine tönerne Göttin mit Helm, deren Kopf gefunden wurde. Neben dem Eingang lag ein großer Altar, auf dem das Feuer zu gemeinsamer Verehrung aller 23 Vorfahren des Herrschers entzündet wurde. Fast alle Räume schmückten Wandmalereien, die in den Repräsentationssälen und Kulträumen eine organische Einheit mit den farbigen Skulpturen und Stuckverzierungen bildeten. Es haben sich Fragmente mit Darstellungen von Gestirnen, Göttern, Priestern, Hofdamen, Kriegern, Musikanten, Vögeln, wilden Tieren, Fischen... erhalten.
"Die ursprüngliche Bestimmung dieses riesigen Bauwerks´, sagt Professor Rapoport, `ist noch nicht geklärt. Das Fehlen von Lagerräumen, Öfen, Herden, Küchenräumen... widerspricht einer Anlage als Schutzburg oder Wohnpalast. Nach der wahrscheinlichsten Erklärung ist Toprak-Kala ein sakrales Bauwerk, das für Empfänge, Zeremonien und religiöse Riten im Zusammenhang mit der Herrscherkult bestimmt war.´
Auf unserer Rückkehr quer durch die Wüste nach Nukus erleben wir einen malerischen Sonnenuntergang, verschönt noch durch eine Gruppe Kamele - in der Gegensonne wir schwarze Schatten besonders exotisch anzusehen.
In Karakalpakien hat man vor, auf dem Wüstenplateau Ustjurt 75 000 Kamele zu züchten. 1965 zählte man in der gesamten UdSSR nur 280 000 Kamele, zehn Jahre später hatte sich ihr Bestand sogar auf 253 000 verringert. Wozu, dachte man wohl, braucht das 20. Jahrhundert noch das Kamel.
Wozu? Das Kamel, eines der ältesten vom Menschen gezähmten Tier - Last-, Zug- und Reittier -, gibt außerordentlich kalorienreiches Fleisch, Milch - ein Muttertier bis zu 10 Liter täglich-, Wolle, Leder. Für die Wüste hat es sich auch heute wieder - trotz Jeeps und Motorschlitten - als unentbehrlich erwiesen. Es kann mit nur drei Liter Wasser im Magen auf lange Märsche gehen, denn seine Fetthöcker werden bei Wassermangel zu Wasser abgebaut. Und hat es dann Gelegenheit zu trinken, schafft es in zehn Minuten 134 Liter. Seine Schweißdrüsen scheiden erst Flüssigkeit ahsu, wenn die Temperatur mindestens auf 40 Grad angestiegen ist.
Bei uns klappt das alles trotz sengender Wüstenhitze nicht - weder das mit dem Fett noch das mit den Drüsen..., und leider gelingt es uns auch nicht, auf Vorrat Flüssigkeit zu uns zu nehmen, obwohl wir uns an den karakalpakischen köstlichen Zucker- und Wassermelonen weidlich gütlich tun.
Ach, und was das Kamel noch alles kann: Es verschließt bei Sandsturm seine Nasenlöcher, hat Tränendrüsen, um den Sand aus den Augen wegzuschwemmen, erkennt seinen Herrn am Klang der Stimme, ist (nach 13 Monten Tragzeit) zärtliche Mutter, und auch der Vater läßt nichts auf seine Familie kommen. Keine Ahnung also, warum ein (angeblicher) Dummkopf oder Trottel in unserem Sprachgebrauch als Kamel bezeichnet wird. Oder sogar `altes Kamel´ über sich ergehen lassen muß, obwohl die Lebenserwartung eines solchen nur höchstens 40 Jahre beträgt.
Fazit: `So ein Kamel´hat´s, in der Wüste jedenfalls, wesentlich besser als wir, die wir auch am heutigen späten Abend mehr tot als lebendig im Hotel eintreffen. heute, glaube ich, könnte mich nicht einmal das Poltern eines Elefanten wecken..."
* Auch im Mittelasien-Buch "Die Kunst des Kuschan" von Boris Stawiski, VEB E. A. Semann Verlag, Leipzig 1979, ist die Harfenspielerin abgebildet.
Chorma! - Werde nicht müde! (LESEPROBE aus: "Diesseits und jenseits des Polarkreises")
"Es ist unser letzter Tag auf karakalpakischem Boden. Allein will ich Nukus durchstreifen, hier und da verweilen und mich darüber freuen, wieviel mehr ich heute über das Volk der Karakalpaken weiß als an unserem Ankunftstag, da mich die 22 Minuten Autofahrt - meine ersten auf mittelasiatischer Erde - ganz aus dem europäischen Häuschen brachten.
Wie am ersten Tag scheint vom azurblauen Himmel eine makellose Sonne herab. Obwohl das Thermometer 30 Grad anzeigt, tragen viele Männer, ältere zumeist, unbeirrt die hohe schwarze Karakul-Lammfellmütze. Früher war diese Kopfbedeckung winters und sommers Attribut ausnahmslos aller Männer. Von den Nachbarvölkern wurden sie deshalb Karakalpaken genannt; dieses turksprachige Wort bedeutet soviel wie `Schwarzmützen. Da in Karakalpakien die schwarze Farbe von jeher als glückbringend gilt, behielten die Karakalpaken diese Nach auch nach 1917 bei.
Ibrahim Jussupow, Karakalpakiens beliebtester Lyriker, hatte uns bei unserer gestrigen Begegnung sein Gedicht `Die schwarze Mütze´ vorgetragen:
Mein Volk ist einen schweren Weg gegangen.
er mit den Petschenegen einst begann...
Mein Urahn, dieser stolze Hungerleider,
behielt die Mütze auf vor jedermann.
Denn das war seines Vaters letzter Wille.
Als der im Kampf todwund von Pferde sank,
trug er dem Sohn streng auf: `Die schwarze Mütze
nimm nie und nimmer ab dein Leben lang!´
Die Forscher können klipp und klar bezeugen,
wie unser Volk dieses Vermächtnis hält:
Seit damals kommen die Karakalpaken
mit schwarzen Lammfellmützen auf die Welt.
Sie haben manche Not seither bestanden,
schwarz wie die Steppenwüste war ihr Blick,
doch weder vor dem Khan noch vor dem Gegner
haben die Mütze sie vom Kopf gerückt.
Auf ihrem Weg voll Mühen und Gefahren
ging viel verloren, doch als höchster Wert
die Mütze blieb, denn der Karakalpake
gibt sie nur mit dem Kopf zusammen her.
Doch einst geschah´s, daß der Karakalpake
die schwarze Mütze selbst vom Kopfe nahm:
Das war die ernste, weihevolle Stunde,
als er ins Lenin-Mausoleum kam.
Nachdichtung von Johann Warkentin
Viele Verse Ibrahim Jussupows hat Rimma Kasakowa (1932) ins Russische übertragen. Ihre Gedichte sind auch in deutschsprachigen Anthologien erschienen. Begeistert äußert sich die bekannte russische Lyrikerin über Ibrahim Jussupow: `Mögen aus der reichen Seele seiner Poesie alle nach Güte und Glück dürstenden Seelen trinken.´
Ibrahim Jussupow wurde 1929 im Aul Anna (heute Tschimbai) geboren. `Ich kann nicht sagen, daß es in unserem Aul irgend etwas gegeben hätte, was der Bewunderung würdig gewesen wäre. Trotzdem erscheint mir mein Heimataul bis zum heutigen Tag wie der Himmel auf Erden´, sagt Ibrahim Jussopow. "Eine tiefe Spur hatte in den Erinnerungen der Alten meines Auls der Lyriker Berdach hinterlassen, der leuchtende Stern der karakalpakischen Poesie. Er hatte oft auch in unserem Dorf seine unsterblichen Gedichte aufgesagt. Ohne Übertreibung kann ich sagen, Berdach liegt mir im Blute.´
Der Gedanke an unsere gestrige Begegnung mit Ibrahim Jussupow, dem Berdach-Preisträger der Karakalpakischen ASSR, lenkt meine Schritte zum Denkmal Berdachs. Was Puschkin für die Russen, Schewtschenko für die Ukrainer, Rustaweli für die Georgier, Nawoi für die Usbeken, Abai für die Kasachen, Namsarajew für die Burjaten, Keraschew für die Adygen, Chetagurow für die Osseten, Rytchëu für die Tschuktschen, das ist Berdach, Sohn des Kargabai, für die Karakalpaken: der Begründer einer eigenständigen Nationalliteratur. In Bronze gegossen, krönt die Gestalt des Dichters auch eine hohe Lammfellmütze.
Die `Steppennachtigall´ Berdach (Berdimurat, 1827 bis 1900) wurde an der Südküste des Aralsees in einer armen Fischerfamilie geboren. `Meine Mutter´, so sagt er in einem Gedicht, `wurde von Vater ohne Brautpreis zur Frau genommen, so arm waren beide.´
Konnten sich ein Bachschi (Sänger) und ein Shyrau (Erzähler) mit Almosen gerade noch vor dem Hungertode bewahren, einem Dichter gab im vorrevolutionären Kakakalpakien niemand etwas. Berdach, der sich gegen soziale Ungleichheit, gegen Despotismus und Tyrannei auflehnte, besang so einen seiner wenigen treuen Gefährten, seinen rotäugigen, starken, schönen, schwarzen, steilgehörnten, arbeitsamen Stier:
Mein Stier
Ich zieh dem Ärmsten mit dem Stock eins über.
Dann trotten wir, den Holzpflug ziehend, schiebend.
Er war stets folgsam und ist`s auch geblieben
und dient mir unentwegt, mein schwarzer Stier.
Wer könnte sich an Stärke mit ihm messen?
Und wessen Waffe, sagt mir, wäre besser
als seine Hörner, stahlhart, spitz wie Messer?
Er sieht zum Fürchten aus, mein schwarzer Stier.
Und was für Hufe - tellergroß gerundet!
Unter den stieren ist mein Stier ein Wunder!
Er ist ja auch in aller Leute Munde,
mein rotäugiger, steilgehörnter Stier.
Mein Schicksal will mit Daseinsfreuden knausern.
Gram hat in meiner Seele sein Zuhause.
Treu hält zu mir nur einer unter tausend -
mein allbekannter starker schwarzer Stier.
Auf Schranken stieß ich, müde und verdrossen.
Gift hat das Schicksal mir ins Herz gegossen,
und nur mein Kamerad und Weggenosse
machte mir wieder Mut - mein schwarzer Stier.
`Hü -hott!´ Wir stapfen tapfer in der Hitze,
mit unserem Hakenpflug den Boden schlitzend...
So bleibst du meines Lebens Halt und Stütze.
Hab Dank, mein schöner, arbeitsamer Stier!
Nachdichtung von Johann Warkentin
Ich setze mich auf die steinerne Umrandung des Springbrunnens neben dem Berdach-Denkmal. Als Journalistin nehme ich besonders wohlgefällig die vielseitig verarbeiteten Naturseidenen in Augenschein. Wochentags bevorzugen viele Karakalpakinnen das schwarz und weiß Geflammte , sonn- und feiertags zeigt sich alt und jung bunt. Das war nicht immer so. Auch zu Berdachs Zeiten noch nicht. Da galt für die alte Frau noch Weiß als am schicklichsten, Rot als absolut unpassend.
Als alt galt dazumal die Frau über vierzig...
Heute hält sich an eine solche Farbtradition keine mehr. Gerade gehen zwei ältere Frauen an mir vorüber: gelb und blau geflammt die eine, lila und grün die andere; beide tragen lange rote Seidenhosen.
Einst hatte China das Seidenmonopol, und jeder wurde mit dem Tode bedroht, der Schmetterling, Ei oder Raupe ins Ausland zu schaffen gedachte. Im Jahre 555 soll es persischen Mönchen vermittels eines hohlen Wanderstabes dann doch gelungen sein. Wie die Seidenraupenzucht in Usbekistan heimisch wurde, lesen wir in Lew Tolstois `Russischen Leserbüchern´ so: `Der König von Buchara... wollte sich auch Raupen beschaffen und die Zucht erlernen. Er bat die Chinesen, ihm Raupeneier und Samen der Bäume zu überlassen. Die Chinesen lehnten es ab. Da schickte der Bucharakönig Abgesandte nach China, für ihm um die Tochter des chinesischen Kaisers zu freien, und ließ der Braut sagen, daß er in seinem Reich alles im Überfluß habe und nur eins ihm fehle: Seidenstoff; sie solle daher insgeheim Rapeneier und Samen von Maulbeerbäumen mitbringen, denn sonst würde sie keinen Stoff für Prunkgewänder haben.
Die Königstochter besorgte sich Raupeneier und Maulbeersamen und verbarg alles in ihrer Kopfumhüllung.
Als an der Grenze geprüft wurde, ob sie insgeheim etwas Verbotenes mit sich führe, wagte niemand, ihre Kopfumhüllung zu lösen.
Hierauf zogen die Bucharen in ihrem Land Maulbeerbäume und Seidenraupen heran, und die Königstochter lehrte sie, diese zu züchten."
Heute geben sich vorrangig Japan, China, Italien, die Sowjetunion - Usbekistan - und Bulgarien mit diesem feinen Gespinst ab.
Leider sind wir zu einer Jahreszeit im Zuchtsowchos `Leninismus´ gewesen, als sich die Seidenraupen nicht im Spinnprozeß befanden. So hatten wir uns damit begnügen müssen, die samtzarten Blätter des weißen Maulbeerbaumes - einzige Nahrung, die die mäklige Seidenraupe nicht verschmäht - zu befühlen. Die Maulbeerbäume werden hier in Hecken kultiviert, die Blätter mechanisch geerntet. Im Vorjahr übererfüllte der Sowchos seinen Plan um 74 Prozent - mit 17,5 Tonnen Seidenkokons. Ein Kokon wiegt 2,5 Gramm, die Länge eines solchen in Achterschlingen gelegten fortlaufenden Seidenfadens beträgt etwa 4 000 Meter.
Mit solchen feinen Fäden wurden ehemalige turkmenische Nomaden mit dem Sowchos "Leninismus" zielgerichtet verflochten.
Wie das?
Der Vorsitzende des Sowchos, der Karakalpake Orumbai Matnepessow, ein studierter Historiker, schrieb seine Doktorarbeit darüber, wie die Turkmenen, eine von den 88 in Karakalpakien beheimateten Nationen, seßhaft gemacht wurden. `Weil bürgerliche Soziologen´, so sagt er, `noch heute behaupten, daß reine Nomadenvölker nicht imstande sind, seßhaft zu werden. Wir jedoch haben die fast sechstausend Turkmenen unseres Sowchos vom Nomadendasein bis zum Gipfel der landwirtschaftlichen Kultur geführt - dem Seidenbau.´
Als fadenscheinig also erweist sich die Argumentation besagter bürgerlicher Soziologen...
Der Blick vom Rand des Springbrunnens in den seidigen Alltag von Nukus sollte mir eigentlich Mut für den Alexanderplatz geben; denn in meinem schon gepackten Koffer liegt ein so kostbares karakalpakisches Gespinnst - rot-gelb-blau-lila-grün geflammt -, Abschiedsgeschenk vom 1. Sekretär. Aber ob es meinem Gespons gefallen wird?
Bei einem Springbrunnen treibt - so habe ich mal irgendwo gelesen - entweder natürlicher Druck oder ein Pumpwerk die Wasserstrahlen empor. Doch was hat meine am Daumen klebende Zunge von diesem Wissen? Was mein nach etwas Nassem lechzender Mund von solchen raffinierten, zum Anschauen erdachten Wasserspielen?
Eine Melone... Eine Melone... Eine Melone... Ich kann an nichts anderes mehr denken. Nicht weit ist der Weg zum Basar. Gleich rechts vom Eingang Berge von kugelrunden grünen Arbusen, den köstlichen Wassermelonen, daneben gleich beeindruckende Mengen der länglich-gelben Dynjas, der Zuckermelonen. Ich kaufe mir für 80 Kopeken eine erfrischende Wassermelone, die ich mir in Scheiben schneiden lasse. Genüßlich wie jeder hier spucke ich die Kerne wild in der Gegend herum.
Fachleute in aller Welt sind der Meinung, daß die schmackhaftesten Melonen in den mittelasiatischen Sowjetrepubliken wachsen, die allerschmackhaftesten in Usbekistan, genauer in Karakalpakien, noch genauer in Biruni. Über Karakalpakien zu schreiben und Biruni nur zu nennen im Zusammenhang mit der Schmackhaftigkeit der Melonen hieße mehr, als eine Geschmacklosigkeit zu begehen - es wäre ein Vergehen! Deshalb sei mir gedanklich ein etwa 20 Kilometer weiter Abstecher von Nukus gestattet. Biruni, ein Städtchen, ist benannt nach al-Biruni, der laut Meyers Lexikon von 1972 ein arabischer Gelehrter persischer Herkunft war, obwohl Professor Tolstow schon vor mehr als drei Jahrzehnten nachgewiesen hat, daß der weltberühmte Gelehrte al-Biruni (973 bis1048) auf karakalpakischem Territorium geboren wurde. Tolstow sagt über ihn, er sei eine Zierde der Akademie des Choresm-Schahs und sein Erster Ratgeber gewesen. Des Streits mit Arabern, Persern, Indern müde, gab man der ältesten Ansiedlung Karakalpakines (und Usbekistans überhaupt) 1957 den Namen Biruni. Hier findet seitdem alljährlich eine multinationale Sowjetkonferenz mit namhaften Wissenschaftlern statt, gewidmet al-Biruni, der schon fünfhundert Jahre vor Kopernikus als `Vater der Astronomie´ galt.
Den Karakalpaken geht es mit Biruni wie den Kareliern mit dem weltberühmten `Kalevala´-Epos, da nicht nur laut verschiedener Kreuzworträtsel-Autoren `Nationalepos der Finnen´ ist. Tatsächlich wurde es von einem Finnen, von Dr. Elias Lönnrot, aufgeschrieben, aber fast alle seine Aufzeichnungen stammen aus Karelien, dem heutigen Kalevala-Bezirk; seine wichtigsten Vorsänger waren Karelier: Archip Perttunen, Andrej Malinen, Wassili Kijelewainen.
Zwei Beispiele, die zeigen, wie schwer es manchmal den kleinen Völkern gemacht wird, ihre Besitzansprüche durchzusetzen.
Komisch, daß mich der orientalische Trubel auf dem Basar nicht nervös macht, sondern eher beruhigt. Auf einer schon verlassenen Ladenbank (Tisch wäre für dieses lange, hölzerne Gebilde eine zu kleinzügige Bezeichnung), lasse ich mir genüßlich Melonenscheibe um Melonenscheibe im Munde zergehen.
Diese sind es übrigens, die beim Bech barmak - dem Inbegriff einer festlichen karakalpakischen Tafel - den absoluten Schlußpunkt bilden. Danach darfst du weder zu Tomaten, Kandiszucker, Walnüssen noch zu Weintrauben der Marke `Damenfinger´ greifen, auch nicht mehr zu Sekt, Wodka oder Kognak. - Eindrucksvollster Bestandteil eines solchen Bech bamak: der auf Salatblättern und Zwiebelringen angerichtete Hammelkopf. Er kommt unzerlegt auf den Tisch, seziert wird er von demjenigen, den der Hausherr bestimmt. Unabdingbar steht fest: Ein Auge bekommt der Ehrengast (allein ich schlucke auf dieser Reise zwölf Hammelaugen), die Stirnhaut mit beiden Händen entgegenzunehmen - ist dem jüngsten weiblichen Wesen am Tisch zugedacht; bei Ohren, Lippen, Gaumen, Hirn... sind der Phantasie keine Grenzen gesetzt.
Plötzlich kommt mir der Gedanke, eine Zuckermelone zu kaufen, der es beschieden sein soll, in unserer Berliner Wohnung verspeist zu werden.
Die ich auswähle, kostet fast zwei Rubel. Daß ich nicht versuche, den Preis herunterzuhandeln, veranlaßt den Verkäufer, mich keines Blickes mehr zu würdigen. Dieses Geschäft hat ihm offensichtlich keinen Spaß gemacht.
Und Spaß muß sein auf einem orientalischen Basar...
Für mich allerdings erweist sich die Anschaffung dieser Wohlbeleibten auch nicht gerade als ein anhaltendes Vergnügen. Was tun? Zurück zum Hotel oder für die Schwergewichtige einen Unterschlupf finden? Ich schaue mich um. Auf der anderen Straßenseite ist die Musik- und Tanzschule. Sie hat in zwanzig Jahren ihres Bestehens mehr als fünfhundert Fachleute ausgebildet, die im Musik- und Schauspieltheater, in der Philharmonie, in Kulturhäusern und Klubs tätig sind. Als Lehrende bemühen sie sich in Stadt und Land um die Erhaltung auch der ganz alten Tänze und Gesänge.
Wir waren vor einigen Tagen hier. Ich überlege: Wenn die nette Pförtnerin Dienst hat... Sie hat - und auch gleich eine Kissaika grünen Tees bereit. `Trinken Sie den Tee doch in unserem Kulturraum´, rät sie mir, `da läuft im Fernsehen gerade ein Film mit unserem berühmtesten Bachschin.
Auf dem Kobys, dem ältesten karakalpakischen Musikinstrument, spielt Askar Tschegumow. Der fast Achtzigjährige mit dem schneeweißen langen Spitzbart war am vergangenen Wochenende unseretwegen, nur unseretwegen zur Oase Ellikkala gekommen, um in einer karakalpakischen Sommerjurte (komfortabel mit elektrischem Licht und Kühlschrank ausgestattet) für uns zu spielen und zu singen.
Seine Themen sind aus uralten, alten und neuen Zeiten: Er singt von der Zwietracht zwischen den Stämmen, von Kriegen und Gemetzel; von den Ehefrau, die der beste Freund eines Helden ist; von dem Hochmut, der ein schlechter Lebensbegleiter ist; von der Gastfreundschaft, über Störenfriede, schlechte Menschen, falsche Freunde; von der reu im Leben der neuen Zeit, von der Baumwolle, der Wüste, von den großen Tieren und dem kleinen Getier.
Dieser alte, berühmteste Bachschi Karakalpakiens wurde 1903 in einer Bauernfamilie als siebentes Kind geboren, arbeitete sein Leben lang als Baumwollpflücker. Vom achtzehnten Lebensjahr an hatten es ihm Spiel und Gesang angetan. Heute ist er selbst Vater von fünf Kindern. Einer seiner Söhne studiert am Taschkenter Observatorium, komponiert und spielt - wie der Vater beteuert - gleichermaßen gut auf alten wie auch auf neuen Instrumenten.
Askar Tschegumow, Sie haben uns in Ellikkala eine unvergeßlich besinnliche, echt karakalpakische Stunde bereitet. Danke!
Der dicken Melone vorübergehend ledig, sie wird von der Pförtnerin bewacht, spaziere ich weiter durch Nukus. In Karakalpakien ist jedes Gebäude, das etwas auf sich hält, in Marmor gekleidet: die Musikschule und das Parteikomitee, der Bahnhof und das Fischkombinat, die Fleischfabrik und das Stanislawski-Theater, die Kindergärten und die Akademie der Wissenschaften...
Gibt sich Karakalpakien `neureich´?
Akademiepräsident Kamalow, mit dem wir bei unserem Besuch darüber sprachen, hatte lachend erwidert: `Da wir Karakalpaken früher nichts, rein gar nichts besaßen, wollen wir heute wohl alles besonders schön haben. Und der Marmor, na ja, der liegt ja bei uns sozusagen vor der Tür.´
An allen und in allen Gebäuden spürst du, mit wieviel Liebe und Geschmack die Karakalpaken ihre Heimat, ihre `goldene Wiege´, mit dem kostbaren Marmor schmücken; bevorzugt werden - wie einstmals im Barock - die farbigen, reich geäderten Sorten.
Die Karakalpakische Zweigstelle der Usbekischen Akademie der Wissenschaften, 1959 gegründet, besteht gegenwärtig aus drei Instituten: dem Institut für Geschichte, Sprache und Literatur, dem Landwirtschaftlichen Komplexinstitut und dem Rechenzentrum. Akademiepräsident Kamalow hatte uns über sich selbst erzählt: `Meine Mutter starb, als ich zwei Jahre alt war, mein Vater war moslemischer Geistlicher. Wir waren sechs Kinder. Ich bin heute nicht nur Präsident der Akademie und Chefredakteur unserer Akademiezeitschrift, sondern auch Mitglied des Gebietsparteikomitees und Stellvertretender Vorsitzender des Präsidiums des Obersten Sowjets der Karakalpakischen ASSR Über meine `Karriere´ staunen heute nur noch die Alten.´
Und wir. Wir haben uns trotz unserer vielen Reisen in die Sowjetunion das Staunen noch nicht abgewöhnt; denn wir kurz sind doch sechs, ja auch sieben nachrevolutionäre Jahrzehnte...
Mein Rückweg durch Nukus führt mich am Museum für Bildende Künste vorbei, von der Zeitschrift `Sowjetliteratur´ seiner außerordentlichen Schätze wegen `Perle der Wüste´ genannt. Direktor des Museums ist Igor Sawizki. Der Moskauer Maler war einer der Mitarbeiter der Choresm-Expedition Sergej Tolstows. Als er 1950 sein Diplom in der Tasche hatte, begab er sich für immer nach Karakalpakien - die märchenhaften alten Paläste aus Lehm mit ihren wundervollen Malereien, Plastiken und Keramiken hatten es ihm angetan. Und: die farbenprächtige Gebrauchsgrafik. Er weiß heute nicht mehr zu sagen, wie viele hundert Kilometer er von Ort zu Ort gepilgert ist, um die von Generation zu Generation weitervererbten, inzwischen rar gewordenen Truhen, Teppiche, Kleidungs- und Schmuckstücke... zusammenzutragen.
Doch weiter führt mich mein Spaziergang durch Nukus. Ganz gleich, durch welche Straßen dich dein Weg führt, du siehst kaum eine Frau, die nicht wenigstens ein Kind bei sich hat, im Wagen, an der Hand, auf dem Rücken - mir war das schon gleich am ersten Tag aufgefallen. Hier in Karakalpakien scheint nicht zuzutreffen, was der Demograph Juri Rostschin in der `Literaturnaja Gaseta´ schreibt: `Viele Familien schaffen sich heute lieber Hunde und Singvögel an statt Kinder.´
Fast die Hälfte (!) des sowjetischen Bevölkerungszuwachses kommt gegenwärtig aus Mittelasien und Transkaukasien. Eine karakalpakische Familie hat heute infolge der beständigen nationalen Traditionen durchschnittlich sechs Kinder. Die einzige Frau, die ich nach Verhütungsmitteln zu fragen wagte, war Parschagul Temirchanowa, Vorsitzende des Sowjets der Volksdeputierten in Nukus. Sie antwortete mir: `Ich kenne keine Karakalpakin, die sich freiwillig auch nur für einen Tag unfruchtbar machen würde. Wozu auch? Seit alters ist bei uns Kinderreichtum das größte Glück einer Familie. Und heute, da Bevölkerungswachstum und ökonomisches Wachstum sinnvoll verbunden sind, halte ich Kinderreichtum für besonders erstrebenswert. Sie haben vielleicht schon bemerkt, daß in einer karakalpakischen Familie alle Familienmitglieder ihre Aufgabe haben. Kinder, die ohne häusliche Pflichten sind, gibt es kaum bei uns.´
Parschagul Temirchanowa ist Mutter von vier Kindern.
Wir hatten schon wenige Tage nach unserer Ankunft - weil uns ein besonderer `karakalpakischer Familiensinn´ aufgefallen war - acht Schülerinnen einer 10. Klasse gebeten, uns jeweils drei Sätze aufzuschreiben zum Thema `Meine Familie´.
Elwira Nassurlajewa, fünf Familienmitglieder (der Vater ist Abteilungsleiter, die Mutter Instrukteur, eine Schwester geht in die 5., eine in die 3. Klasse): `Als älteste Schwester bin ich für die Hausaufgaben der Jüngeren verantwortlich, was gar nicht so einfach ist, weil sie nicht immer auf mich hören. Auch im Haushalt sorge vor allem ich für Ordnung und Sauberkeit. In unserer Familie - das Oberhaupt ist bei uns der Vater - verläuft alles in ruhigen Bahnen, wir kommen gut miteinander aus.´
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Tadchichal Utemuratowa, zehn Familienmitglieder (der Vater arbeit als Feldbaubrigadier, die Mutter in einer Trikotagenfabrik, ein Bruder ist leitender Laborant, dessen Frau Verkäuferin, der zweite Bruder studiert an der Staatlichen Universität in Nukus, der jüngste geht in die 6. Klasse, eine Schwester studiert an der Medizinischen Hochschule in Taschkent, eine schreibt gerade ihre Doktorarbeit, die jüngste geht in die 8. Klasse): `Mein Vater ist Veteran des Großen Vaterländischen Krieges, meine Mutter gehört zu den Besten im sozialistischen Wettbewerb. In unserer Familie achte einer den anderen, wir leben sehr einträchtig miteinander, den Haushalt führen wir alle gemeinsam. In unserer Familie wird viel gelacht, unser Chefhumorist ist mein mittlerer Bruder Chamid.´
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sabina Utebajewa, sieben Familienmitglieder (der Vater ist Arzt, die Mutter Krankenschwester, die Großmutter Rentnerin, eine Schwester ist Kinderärztin, die andere studiert Fischwirtschaft in Astrachan, der Bruder ist Student der Taschkenter Universität): `An meiner Mutter gefällt mir am meisten ihr Bestreben, jedem Menschen in der Not unter die Arme zu greifen. Mein Vater ist ein sehr gütiger Mensch, sogar irgendwie `weich´, obwohl er den ganzen Krieg durchgemacht hat und alle seine Freunde gefallen sind. Meine Großmutter spricht oft von ihrer schweren und hungrigen Jugend, davon, wie sie schon als Dreizehnjährige pflügte und säte und wie sie sich - beim Licht eines einzigen Holzspans - ein Kleid aus einem Sack genäht hat.´
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Rimma Reimowa, sechs Familienmitglieder (der Vater ist Kraftfahrer, die Mutter Ökonomin, der Großvater Rentner, eine Schwester arbeitet als `Kulturschaffende´, die andere geht noch in den Kindergarten): `Im Gegensatz zur kleinen Schwester, die sich `meine´ Liebe zur Kunst durchaus beibringen läßt, gehen die Meinungen und Geschmäcker zwischen mir und meiner älteren Schwester leider ganz auseinander. Meinen Vater habe ich sehr gern, Mutter ist aber doch die Beste, weil sie so ruhig zuhören kann. Da mein Großvater im Krieg soviel erlebt hat - er war einige Male verwundet, hat um viele Städte gekämpft, war in der Ukraine, auf der Krim, in Deutschland -, bemühe ich mich, immer auf ihn zu hören; oft fällt mir das aber ganz schön schwer...´
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Tamara Toktarowa, acht Familienmitglieder (der Vater ist Abteilungsleiter, die Mutter Unterstufenlehrerin, die älteste Schwester unterrichtet in Samarkand Russische Sprache und Literatur, eine Schwester ist Kindergartenerzieherin, eine studiert an der Staatlichen Universität in Nukus, eine studiert an der Pädagogischen Hochschule in Samarkand, der einzige Bruder ist Schüler der 8. Klasse): `Vater, den ich sehr hochschätze, war im Großen Vaterländischen Krieg, erzählt aber nur ungern von jener blutigen Zeit. Mein Liebling ist mein Bruder Murat, der mir immer bei der Hausarbeit hilft, damit Mutter abends Zeit hat, ein schmackhaftes Abendessen für alle zuzubereiten - ihr Bech barmak ist unvergleichlich. Ich weiß noch nicht, was ich werden will, habe mir aber vorgenommen, nur einer Beschäftigung nachzugehen, die mir wirklich zusagt.´
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Kuljam Utegenowa, neun Familienmitglieder (der Vater ist Kriegsinvalide, die Mutter arbeitet als Verkäuferin, der älteste Bruder ist Student an einer Fliegerschule im Gebiet Saratow, ein Bruder geht in die 6., einer in die 7. Klasse, eine Schwester studiert Volkswirtschaft an der Hochschule in Taschkent, eine geht in die 9., eine in die 4. Klasse): `Schon seit zehn Jahren arbeitet meine Mutter als einzige, weil mein Vater nach seiner schweren Kriegsverwundung nicht wieder gesund geworden ist. Da ich jetzt die Älteste im Hause bin, ruht die ganze Hauswirtschaft auf meinen Schultern. Zu sagen ist aber auch, daß wir eine sehr sportliche Familie sind: Pulat spielt Schach und boxt, Soja ist Speerwerferin, auch Murat boxt, Malik spielt Fußball, und ich bin Leichtathletin.´
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Diljara Dospagarowa, sielben Familienmitglieder (der Vater ist Arzt, die Mutter Krankenschwester, der älteste Bruder studiert an der Moskauer Hochschule für Straßenbau, ein Bruder geht in die 7. Klasse, eine Schwester in die 1. Klasse, eine geht in den Kindergarten): `In unserer Familie hört man selten ein böses Wort. Ich als die älteste Tochter muß natürlich mehr im Haushalt tun als die anderen. Damit auch ich Freizeit habe, übernimmt Papa sonntags den Haushalt, er koch sogar ein wohlschmeckendes Mittagessen - das findet auch Großmutter, die uns jeden Sonntag besucht.´
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Rosa Moldachmetowa, acht Familienmitglieder (der Vater ist Hochschullehrer, die Mutter Unterstufenlehrerin, eine Schwester studiert an der Staatlichen Universität in Nukus Englisch, eine andere an der Textilhochschule in Taschkent, ein Bruder geht in die 8. Klasse, einer in die 3. Klasse, eine Schwester ist eineinhalb Jahre alt): `Mama ist vierundvierzig Jahre alt, aber alle sagen ihr, sie sehe jünger aus, was sie gern hört. Mein Vater steht wie immer als erster auf, weil er an Schlaflosigkeit leidet - was nur zu natürlich ist, wenn jemand schon vierundfünfzig Jahre alt ist - und vor allem: weil er ständig was an seinem Schreibtisch zu arbeiten hat. Was ich studieren werden, weiß ich noch nicht, fest steht nur, daß0 mich aus Nukus und von meiner glücklichen Familie keiner wegkriegt.´
In kaum einer karakalpakischen Familie gibt es Einzelkinder.
`Karakalpakiens Kinder wachsen sehr unkompliziert auf´, hatte Parschagul Temirchanowa gesagt, `die größeren kümmern sich um die kleineren, da läuft zu Hause alles wie am Schnürchen. Eines Tages sind die Größeren groß - gehen zum Studium, heiraten; oft verbleiben sie aber, dann auch mit eigenen Kindern, in der Familie - und die nachgewachsenen übernehmen ganz selbstverständlich die Sorge um die nachgekommenen Geschwister. Die Eltern haben dadurch Zeit, sich um echte Probleme bei ihren Kindern zu kümmern, ihnen zuzuhören, mit ihnen gemeinsam Schönes zu unternehmen. Wir setzen Liebe nicht mit Verwöhnen gleich... Unsere Kinder hier sind selten kleine Egoisten. Später werden sie dann auch keine großen.´
Zu kurz die Zeit, um das Gesagte in allen Einzelheiten nachprüfen zu können. Aber wenn der Augenschein nicht trügt, hat Parschagul Temirchanowa in allem recht, was sie beteuert.
Das kann nicht wahr sein...
Ich bleibe wie angewurzelt stehen.
Es regnet.
Dicke Tropfen prasseln vom eben noch strahlendblauen Himmel herab. `Drücken Sie die Daumen´, hatte Kallibek Kamalow beschwörend zu uns gesagt, `daß während der Baumwollblüte kein Regen fällt.´
Ich befürchte nicht, bis auf die Haut durchzuweichen, sorge mich keinen Augenblick um die Frisur, denke nur an die vielen Menschen, die wir in Karakalpakien kennengelernt haben, deren Stolz Tag für Tag die hohen Erträge ihrer Baumwollernte sind.
Da ruft neben mir ein alter Mann, im Chalat und mit hoher Lammfellmütze: `Chorma!´ Und von überallher antwortet man ihm: `Chorma!` - `Chroma!´- `Chorma!´
Vielstimmig ist dieser `Wunsch der Arbeitenden´: `Chorma!´ - `Werde nicht müde!´
Dieser altkarakalpakische Zuruf gibt auch mir Kraft, mich aufzuraffen, trotz strömenden Regens das fast 10 Pfund schwere süßaromatische Kürbisgewächs von seinem zeitweiligen Aufenthaltsort abzuholen (damit es dann in Berlin innerhalb von wenigen Minuten von meiner Tochter Katharina und deren Schulkameraden vertilgt werden kann)."
Rezensionen und Literaturhinweise (Auswahl) zu den KARAKALPAKEN
Rezension zum Thema in meiner Webseite www.reller-rezensionen.de
* Edeltraud Maier-Lutz
Literaturhinweise (Auswahl)
* Die Geschichte von Kullerwo,
1. Streifenornament
Bibliographie zu Gisela Reller
Bücher als Autorin:
Länderbücher:
* Zwischen Weißem Meer und Baikalsee, Bei den Burjaten, Adygen und Kareliern, Verlag Neues Leben, Berlin 1981, mit Fotos von Heinz Krüger und Zeichnungen von Karl-Heinz Döhring.
* Diesseits und jenseits des Polarkreises, bei den Südosseten, Karakalpaken, Tschuktschen und asiatischen Eskimos, Verlag Neues Leben, Berlin 1985, mit Fotos von Heinz Krüger und Detlev Steinberg und Zeichnungen von Karl-Heinz Döhring.
* Von der Wolga bis zum Pazifik, bei Tuwinern, Kalmyken, Niwchen und Oroken, Verlag der Nation, Berlin 1990, 236 Seiten mit Fotos von Detlev Steinberg und Zeichnungen von Karl-Heinz Döhring.
Biographie:
* Pater Maksimylian Kolbe, Guardian von Niepokalanów und Auschwitzhäftling Nr. 16 670, Union Verlag, Berlin 1984, 2. Auflage.
... als Herausgeberin:
Sprichwörterbücher:
* Aus Tränen baut man keinen Turm, ein kaukasischer Spruchbeutel, Weisheiten der Adygen, Dagestaner und Osseten, Eulenspiegel Verlag Berlin in zwei Auflagen (1983 und 1985), von mir übersetzt und herausgegeben, illustriert von Wolfgang Würfel.
* Dein Freund ist dein Spiegel, ein Sprichwörter-Büchlein mit 111 Sprichwörtern der Adygen, Dagestaner Kalmyken, Karakalpaken, Karelier, Osseten, Tschuktschen und Tuwiner, von mir gesammelt und zusammengestellt, mit einer Vorbemerkung und ethnographischen Zwischentexten versehen, die Illustrationen stammen von Karl Fischer, die Gestaltung von Horst Wustrau, Herausgeber ist die Redaktion FREIE WELT, Berlin 1986.
* Liebe auf Russisch, ein in Leder gebundenes Mini-Bändchen im Schuber mit Sprichwörtern zum Thema „Liebe“, Buchverlag Der Morgen, Berlin 1990, von mir (nach einer Interlinearübersetzung von Gertraud Ettrich) in Sprichwortform gebracht, herausgegeben und mit einem Nachwort versehen, illustriert von Annette Fritzsch.
Aphorismenbuch:
* 666 und sex mal Liebe, Auserlesenes, 2. Auflage, Mitteldeutscher Verlag Halle/Leipzig, 200 Seiten mit Vignetten und Illustrationen von Egbert Herfurth.
... als Mitautorin:
Kinderbücher:
* Warum? Weshalb? Wieso?, Ein Frage-und-Antwort-Buch für Kinder, Band 1 bis 5, Herausgegeben von Carola Hendel, reich illustriert, Verlag Junge Welt, Berlin 1981 -1989.
Sachbuch:
* Die Stunde Null, Tatsachenberichte über tapfere Menschen in den letzten Tagen des zweiten Weltkrieges, Hrsg. Ursula Höntsch, Verlag der Nation 1966.
... als Verantwortliche Redakteurin:
* Leben mit der Erinnerung, Jüdische Geschichte in Prenzlauer Berg, Edition Hentrich, Berlin 1997, mit zahlreichen Illustrationen.
* HANDSCHLAG, Vierteljahreszeitung für deutsche Minderheiten im Ausland, Herausgegeben vom Kuratorium zur kulturellen Unterstützung deutscher Minderheiten im Ausland e. V., Berlin 1991 - 1993.
2. Streifenornament
Pressezitate (Auswahl) zu Gisela Rellers Buchveröffentlichungen:
Dieter Wende in der „Wochenpost“ Nr. 15/1985:
„Es ist schon eigenartig, wenn man in der Wüste Kysyl-Kum von einem Kamelzüchter gefragt wird: `Kennen Sie Gisela Reller?´ Es ist schwer, dieser Autorin in entlegenen sowjetischen Regionen zuvorzukommen. Diesmal nun legt sie mit ihrem Buch Von der Wolga bis zum Pazifik Berichte aus Kalmykien, Tuwa und von der Insel Sachalin vor. Liebevolle und sehr detailgetreue Berichte auch vom Schicksal kleiner Völker. Die ethnografisch erfahrene Journalistin serviert Besonderes. Ihre Erzählungen vermitteln auch Hintergründe über die Verfehlungen bei der Lösung des Nationalitätenproblems.“
B(erliner) Z(eitung) am Abend vom 24. September 1981:
"Gisela Reller, Mitarbeiterin der Illustrierten FREIE WELT, hat autonome Republiken und gebiete kleiner sowjetischer Nationalitäten bereist: die der Burjaten, Adygen und Karelier. Was sie dort ... erlebte und was Heinz Krüger fotografierte, ergíbt den informativen, soeben erschienenen Band Zwischen Weißem Meer und Baikalsee."
Sowjetliteratur (Moskau)Nr. 9/1982:
"(...) Das ist eine lebendige, lockere Erzählung über das Gesehene und Erlebte, verflochten mit dem reichhaltigen, aber sehr geschickt und unaufdringlich dargebotenen Tatsachenmaterial. (...) Allerdings verstehe ich sehr gut, wie viel Gisela Reller vor jeder ihrer Reisen nachgelesen hat und wie viel Zeit nach der Rückkehr die Bearbeitung des gesammelten Materials erforderte. Zugleich ist es ihr aber gelungen, die Frische des ersten `Blickes´ zu bewahren und dem Leser packend das Gesehene und Erlebte mitzuteilen. (...) Es ist ziemlich lehrreich - ich verwende bewusst dieses Wort: Vieles, was wir im eigenen Lande als selbstverständlich aufnehmen, woran wir uns ja gewöhnt haben und was sich unserer Aufmerksamkeit oft entzieht, eröffnet sich für einen Ausländer, sei es auch als Reisender, der wiederholt in unserem Lande weilt, sozusagen in neuen Aspekten, in neuen Farben und besitzt einen besonderen Wert. (...) Mir gefällt ganz besonders, wie gekonnt sich die Autorin an literarischen Quellen, an die Folklore wendet, wie sie in den Text ihres Buches Gedichte russischer Klassiker und auch wenig bekannter nationaler Autoren, Zitate aus literarischen Werken, Märchen, Anekdoten, selbst Witze einfügt. Ein treffender während der Reise gehörter Witz oder Trinkspruch verleihen dem Text eine besondere Würze. (...) Doch das Wichtigste im Buch Zwischen Weißem Meer und Baikalsee sind die Menschen, mit denen Gisela Reller auf ihren Reisen zusammenkam. Unterschiedlich im Alter und Beruf, verschieden ihrem Charakter und Bildungsgrad nach sind diese Menschen, aber über sie alle vermag die Autorin kurz und treffend mit Interesse und Sympathie zu berichten. (...)"
Neue Zeit vom 18. April 1983:
„In ihrer biographischen Skizze über den polnischen Pater Maksymilian Kolbe schreibt Gisela Reller (2. Auflage 1983) mit Sachkenntnis und Engagement über das Leben und Sterben dieses außergewöhnlichen Paters, der für den Familienvater Franciszek Gajowniczek freiwillig in den Hungerbunker von Auschwitz ging.“
Der Morgen vom 7. Februar 1984:
„`Reize lieber einen Bären als einen Mann aus den Bergen´. Durch die Sprüche des Kaukasischen Spruchbeutels weht der raue Wind des Kaukasus. Der Spruchbeutel erzählt auch von Mentalitäten, Eigensinnigkeiten und Bräuchen der Adygen, Osseten und Dagestaner. Die Achtung vor den Alten, die schwere Stellung der Frau, das lebensnotwendige Verhältnis zu den Tieren. Gisela Reller hat klug ausgewählt.“
1985 auf dem Solidaritätsbasar auf dem Berliner Alexanderplatz: Gisela Reller (vorne links) verkauft ihren „Kaukasischen Spruchbeutel“ und 1986 das extra für den Solidaritätsbasar von ihr herausgegebene Sprichwörterbuch „Dein Freund ist Dein Spiegel“.
Foto: Alfred Paszkowiak
Neues Deutschland vom 15./16. März 1986:
"Vor allem der an Geschichte, Bräuchen, Nationalliteratur und Volkskunst interessierte Leser wird manches bisher `Ungehörte´ finden. Er erfährt, warum im Kaukasus noch heute viele Frauen ein Leben lang Schwarz tragen und was es mit dem `Ossetenbräu´ auf sich hat, weshalb noch 1978 in Nukus ein Eisenbahnzug Aufsehen erregte und dass vor Jahrhunderten um den Aralsee fruchtbares Kulturland war, dass die Tschuktschen vier Begriff für `Freundschaft´, aber kein Wort für Krieg besitzen und was ein Parteisekretär in Anadyr als notwendigen Komfort, was als entbehrlichen Luxus ansieht. Großes Lob verdient der Verlag für die großzügige Ausstattung von Diesseits und jenseits des Polarkreises.“
Gisela Reller während einer ihrer über achthundert Buchlesungen
in der Zeit von 1981 bis 1991.
Berliner Zeitung vom 2./3. Januar 1988:
„Gisela Reller hat klassisch-deutsche und DDR-Literatur auf Liebeserfahrungen durchforscht und ist in ihrem Buch 666 und sex mal Liebe 666 und sex mal fündig geworden. Sexisch illustriert, hat der Mitteldeutsche Verlag Halle alles zu einem hübschen Bändchen zusammengefügt.“
Neue Berliner Illustrierte (NBI) Nr. 7/88:
„Zu dem wohl jeden bewegenden Thema finden sich auf 198 Seiten 666 und sex mal Liebe mannigfache Gedanken von Literaten, die heute unter uns leben, sowie von Persönlichkeiten, die sich vor mehreren Jahrhunderten dazu äußerten.“
Das Magazin Nr. 5/88.
"`Man gewöhnt sich daran, die Frauen in solche zu unterscheiden, die schon bewusstlos sind, und solche, die erst dazu gemacht werden müssen. Jene stehen höher und gebieten dem Gedenken. Diese sind interessanter und dienen der Lust. Dort ist die Liebe Andacht und Opfer, hier Sieg und Beute.´ Den Aphorismus von Karl Kraus entnahmen wir dem Band 666 und sex mal Liebe, herausgegeben von Gisela Reller und illustriert von Egbert Herfurth."
Schutzumschlag zum „Buch 666 und sex mal Liebe“ .
Zeichnung: Egbert Herfurth
FÜR DICH, Nr. 34/89:
"Dem beliebten Büchlein 666 und sex mal Liebe entnahmen wir die philosophischen und frechen Sprüche für unser Poster, das Sie auf dem Berliner Solidaritätsbasar kaufen können. Gisela Reller hat die literarischen Äußerungen zum Thema Liebe gesammelt, Egbert Herfurth hat sie trefflich illustriert."
Messe-Börsenblatt, Frühjahr 1989:
"Die Autorin – langjährige erfolgreiche Reporterin der FREIEN WELT - ist bekannt geworden durch ihre Bücher Zwischen Weißem Meer und Baikalsee und Diesseits und jenseits des Polarkreises. Diesmal schreibt die intime Kennerin der Sowjetunion in ihrem Buch Von der Wolga bis zum Pazifik über die Kalmyken, Tuwiner und die Bewohner von Sachalin, also wieder über Nationalitäten und Völkerschaften. Ihre Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft wird uns in fesselnden Erlebnisberichten nahegebracht."
Im Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel schrieb ich in der Ausgabe 49 vom 7. Dezember 1982 unter der Überschrift „Was für ein Gefühl, wenn Zuhörer Schlange stehen“:
„Zu den diesjährigen Tagen des sowjetischen Buches habe ich mit dem Buch
Zwischen Weißem Meer und Baikalsee mehr als zwanzig Lesungen bestritten. (…) Ich las vor einem Kreis von vier Personen (in Klosterfelde) und vor 75 Mitgliedern einer DSF-Gruppe in Finow; meine jüngsten Zuhörer waren Blumberger Schüler einer 4. Klasse, meine älteste Zuhörerin (im Schwedter Alten- und Pflegeheim) fast 80 Jahre alt. Ich las z.B. im Walzwerk Finow, im Halbleiterwerk Frankfurt/Oder, im Petrolchemischen Kombinat Schwedt; vor KIM-Eiersortierern in Mehrow, vor LPG-Bauern in Hermersdorf, Obersdorf und Bollersdorf; vor zukünftigen Offizieren in Zschopau; vor Forstlehrlingen in Waldfrieden; vor Lehrlingen für Getreidewirtschaft in Kamenz, vor Schülern einer 7., 8. und 10 Klasse in Bernau, Schönow und Berlin; vor Pädagogen in Berlin, Wandlitz, Eberswalde. - Ich weiß nicht, was mir mehr Spaß gemacht hat, für eine 10. Klasse eine Geographiestunde über die Sowjetunion einmal ganz anders zu gestalten oder Lehrern zu beweisen, dass nicht einmal sie alles über die Sowjetunion wissen – was bei meiner Thematik – `Die kleinen sowjetischen Völkerschaften!´ – gar nicht schwer zu machen ist. Wer schon kennt sich aus mit Awaren und Adsharen, Ewenken und Ewenen, Oroken und Orotschen, mit Alëuten, Tabassaranern, Korjaken, Itelmenen, Kareliern… Vielleicht habe ich es leichter, Zugang zu finden als mancher Autor, der `nur´ sein Buch oder Manuskript im Reisegepäck hat. Ich nämlich schleppe zum `Anfüttern´ stets ein vollgepacktes Köfferchen mit, darin von der Tschuktschenhalbinsel ein echter Walrosselfenbein-Stoßzahn, Karelische Birke, burjatischer Halbedelstein, jakutische Rentierfellbilder, eskimoische Kettenanhänger aus Robbenfell, einen adygeischen Dolch, eine karakalpakische Tjubetejka, der Zahn eines Grauwals, den wir als FREIE WELT-Reporter mit harpuniert haben… - Schön, wenn alles das ganz aufmerksam betrachtet und behutsam befühlt wird und dadurch aufschließt für die nächste Leseprobe. Schön auch, wenn man schichtmüde Männer nach der Veranstaltung sagen hört: `Mensch, die Sowjetunion ist ja interessanter, als ich gedacht habe.´ Oder: `Die haben ja in den fünfundsechzig Jahren mit den `wilden´ Tschuktschen ein richtiges Wunder vollbracht.´ Besonders schön, wenn es gelingt, das `Sowjetische Wunder´ auch denjenigen nahezubringen, die zunächst nur aus Kollektivgeist mit ihrer Brigade mitgegangen sind. Und: Was für ein Gefühl, nach der Lesung Menschen Schlange stehen zu sehen, um sich für das einzige Bibliotheksbuch vormerken zu lassen. (Schade, wenn man Kauflustigen sagen muss, dass das Buch bereits vergriffen ist.) – Dank sei allen gesagt, die sich um das zustande kommen von Buchlesungen mühen – den Gewerkschaftsbibliothekaren der Betriebe, den Stadt- und Kreisbibliothekaren, den Buchhändlern, die oft aufgeregter sind als der Autor, in Sorge, `dass auch ja alles klappt´. – Für mich hat es `geklappt´, wenn ich Informationen und Unterhaltung gegeben habe und Anregungen für mein nächstes Buch mitnehmen konnte.“Die Rechtschreibung der Texte wurde behutsam der letzten Rechtschreibreform angepasst.
Die
KARAKALPAKEN wurden am 15.05.2015 ins Netz gestellt. Die letzte Bearbeitung erfolgte am 16.01.2016.Die Weiterverwertung der hier veröffentlichten Texte, Übersetzungen, Nachdichtungen, Fotos, Zeichnungen, Illustrationen... ist nur mit Verweis auf die Internetadresse
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