Das Lesen gehört zu den höchsten Glückseligkeiten, wenn es von innerer Ruhe begleitet ist und nicht sporadisch, sondern kontinuierlich betrieben wird.
Pjotr Tschaikowski
Als Russland zur Buchmesse in Frankfurt/Main Messeschwerpunkt war, kamen 280 russische Verlage, 150 russische Prosa-Schriftsteller, Dichter und Literaturkritiker gaben sich ein Stelldichein; man hörte viele neue Namen...

Und nun - Jahre danach?

Mein Anliegen ist es, mit Buchrezensionen - angereichert durch Sprichwörter, Fotos und ethnographische Illustrationen - kontinuierlich Bücher russischer Autoren und Autorinnen vorzustellen, die es geschafft haben, auf den deutschen Büchermarkt zu kommen. Aber nicht nur Russen interessieren mich, sondern darüber hinaus die Schriftsteller aus dem gesamten Raum der früheren Sowjetunion, seien es Lettische Juden oder Russlanddeutsche, Ukrainer oder Adygen, Georgier oder Tschuktschen... Diese Webseite hat hundert Völker der Ex-UdSSR im literarischen Blick.

Seit 2013 – also elf Jahre nachdem ich meine Rezensions-Webseite ins Netz gestellt habe – stelle ich nun den inzwischen weit mehr als fünfhundert Buchrezensionen meinen seit fast vier Jahrzehnten gesammelten Fundus zu hundert Völkerschaften an die Seite – mit ausführlichen geographischen und ethnographischen Texten, mit Reportagen, Interviews, Sprichwörtern, Aphorismen, Rätseln, Legenden, Märchen, Gedichten, Literaturhinweisen, ethnographischen Zeichnungen, Ornamenten, Fotos, Zitaten aus längst gelesenen und neu erschienenen Büchern… So manches davon, teils erstmals ins Deutsche übersetzt, war bis jetzt – wendegeschuldet – unveröffentlicht geblieben.

"Bücher haben viel Angenehmes für die, welche die richtigen aussuchen", stammt von Montaigne*. Ich wünsche mir sehr, dass die von mir ausgewählten Bücher und die von mir erarbeiteten Völkerschafts-Texte viel Angenehmes (und Informatives) für die haben, die diese Webseite aufsuchen.

* Michel Eyquem de Montaigne (1533 bis 1592) war Jurist, Politiker, Philosoph und Begründer der Essayistik.

 
Gisela Reller / www.reller-rezensionen.de

Diese Webseite wurde am 18.01.2002 ins Netz gestellt und wird regelmäßig ergänzt.
Die letzte Bearbeitung erfolgte am 23.06.2019.

 

 

Dieses Buch erschien 2019 im Berliner Wissenschafts-Verlag,

hat 540 Seiten und kostet 39 Euro

 

 

Vielen ist nicht bewusst, dass Russland - das flächenmäßig größte Land der Erde - nicht nur Heimat der Russen ist, sondern auch Heimat von über hundert zum Teil nichtslawischen Völkern. Gisela Reller hat viele Völker Kaukasiens, des hohen Nordens, Sibiriens und des Fernen Ostens in über zwei Jahrzehnten aufgesucht, war als Journalistinu. a. bei Karatschaiern und Tscherkessen, Kalmyken und Kumyken, Tschuktschen und Eskimos. Sie beschreibt in diesem Buch Vergangenheit, Gegenwart und Zukunftvon 50 Völkern der Russländischen Föderation, die unterschiedliche Sprachen sprechen, verschiedenen Kulturen angehören, andersartiger Mentalität sind und Anhänger von vier Weltreligionen. Märchen, Legenden, Witze, Gedichte, Lieder, Sprichwörter

(die die Autorin seit 1964 sammelt) bereichern die informativen Texte.

 

Die Autorin Gisela Reller, geboren 1938, ist gelernte Buchhändlerinund hat im Fernstudium Journalistik sowie im Abendstudium Russistik studiert.Ab 1960 arbeitete sie bei der (Ost-)Berliner Illustrierten Freie Welt und bereiste u. a. für die AbteilungWissenschaft die Sowjetrepubliken. Von 1974 bis zur wendegeschuldeten Einstellung der Zeitschrift 1991stellte sie dort in der Völkerschaftsserie viele Völker der ehemaligen Sowjetunion vor.Nach der Wende wurde Gisela Reller Beiratsmitglied bei der Stuttgarter Zeitschrift für Kulturaustausch, hielt in Ost und Wet Vorträge über die russische Nationalitätenpolitikund war Mitarbeiterin beim Museum Prenzlauer Berg, wo sie sich hauptsächlich mit den Russischen Juden befasste, sowie beim Kuratorium zur kulturellenUnterstützung deutscher Minderheiten im Ausland - vorrangig befasst mit den Wolgadeutschen.

 

Von Gisela Reller sind bisher zur Thematik Völkerschaften drei Länderbücher (Zwischen Weißem Meer und Baikalsee / Diesseits und Jenseits des Polarkreises / Von der Wolga bis zu Pazifik) und drei Sprichwörterbücher ( Dein Freund ist Dein Spiegel / Liebe auf Russisch / Aus Tränen baut man keinen Turm) erschienen

 

 

Leseproben:

 

Vorbemerkung

 

Die Idee zu dem Buch „Die Heimat ist eine goldene Wiege“ beruht darauf, dass ich immer wieder auf erstaunte Menschen treffe, wenn ich von den vielen Völkern Russlands erzähle. Die meisten kennen die Armenier, Aserbaidschaner, Belarussen, Georgier, Kasachen, Kyrgysen, Moldauer, Tadschiken, Turkmenen, Ukrainer und Usbeken, doch das sind Völker der ehemaligen Sowjetunion, die seit dem Zerfall der Sowjetunion in unabhängigen Republiken leben. Geblieben ist den Russen nur die von 1922 bis 19   ebenfalls zur Sowjetunion gehörige RSFSR (Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik), in der mehr als einhundert Völker leben.  Kaum einer außerhalb Russlands kennt sie - nicht einmal dem Namen nach. Und sogar viele Russen schütteln verständnislos den Kopf, wenn ich von Kalmyken und Kumyken, von Oroken und Orotschen, von Nenzen und Enzen erzähle …

*

Zu den Russen beginnt meine Beziehung mit meinem 7. Lebensjahr als sich meine Mutti mit mir vor den „Bolschewiken“ auf die Flucht begibt. Wir entkommen den Russen jedoch nicht, erleben ihren Einzug in unserem kleinen Fluchtort Harpe in Sachsen-Anhalt. Die „Russen“, die als Erste in das kleine Straßendorf einrücken, sind abgekämpfte Soldaten, die zu unser aller Erstaunen Schlitzaugen haben. Von einer „mongolischen Vorhut“ munkelt man im Dorf, heute bin ich sicher, dass es Burjaten waren.

 Tage später rücken Russen nach. Aus Angst vor einer Vergewaltigung flieht meine Mutti mit mir in eine Scheune, wir verstecken uns unter Heu. Ich kleines Mädchen höre aus dem Wort Vergewaltigung nur das Wort Gewalt raus, und das macht mir Angst. Angetrunkene Soldaten verfolgen uns, stechen ganz dicht neben uns mit Heugabeln und Forken ein. Mutti und ich sind halbtot vor Angst. Sie finden uns nicht.

 Nicht nur im Hoheitsbereich der Roten Armee waren Vergewaltigungen an der Tagesordnung. In allen Besatzungszonen wurde Frauen von alliierten Soldaten vergewaltigt. Die Sexualverbrechen der deutschen Soldaten waren bis Ende der neunziger Jahre weitgehend unerforscht. Inzwischen

 Einige Monate nach unserer Todesangst in der Scheune werden von dem russischen Kommandanten in unserem Zufluchtsdorf Harpe Näherinnen gesucht. Meine Mutter und zwei weitere Flüchtlingsfrauen melden sich. Sie müssen ab sofort Uniformmützen nähen. Seit ein Soldat Mutti streichelt, steht neben ihrer Nähmaschine ein Stock. Sowie ich aus der Schule komme, verteidige ich meine Mutti, indem ich die Russen mit diesem Stock verhaue, wenn sie zudringlich werden. Die Russen denken an ihre kleinen Kinder und akzeptieren, dass ich meine Mutter beschützen will.

 Seit 1948 leben wir dann wieder in Berlin. Fünf Jahre später suche ich eine Lehrstelle als Verlags-Buchhändlerin (weil alle in meiner Umgebung finden, dass ich „eine Leseratte“ bin.) und lande beim Ostberliner Verlag Kultur und Fortschritt, dem Verlag der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft.

 Im Sommer 1956 dann betreue ich im Verlags-Ferienlager eine Kindergruppe, darunter die achtjährige Bettina Wegner (längst eine bekannte Liedermacherin). Durch die Erlebnisberichte seiner Tochter auf mich aufmerksam geworden, stellt mich ihr Vater - Freie Welt-Chefredakteur Karl-Heinz Wegner - als Redaktionsassistentin ein. (Ich hatte da schon zwei Jahre Journalistik im Fernstudium hinter mir.) Und fast ahnt man es schon: Diese illustrierte Wochenzeitschrift - angesiedelt im Verlag Kultur du Fortschritt - wird - ausgerechnet von der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft herausgegeben.

 Fortan ist mein erfülltes Berufsleben nicht mehr denkbar ohne die Russen, die in der Russländischen Republik mit mehr als einhundert nichtslawischen Völkern zusammenleben.

 *

Den letzten Anstoß zu diesem Buch mit einer Auswahl von fünfzig  Völkern Russlands gab dann ein mediales Gedenken an den sich wiederholenden Todestag des angeblich russischen Schriftstellers Rassul Gamsatow, der in Wahrheit ein Aware aus Dagestan, dem „Land der Berge“, war.

 

Völkerschaftsbeispiel

 

 

 

 

Nachbemerkung

Den letzten Anstoß zu diesem Buch mit einer Auswahl von fünfzig  Völkern Russlands gab dann ein mediales Gedenken an den sich wiederholenden Todestag des angeblich russischen Schriftstellers Rassul Gamsatow, der in Wahrheit ein Aware aus Dagestan, dem „Land der Berge“, war.

 

Unterm Brennglas

Bernd Siegmund, langjähriger Moskau-Korrespondent der DDR-Illustrierten FREIE WELT,

im Gespräch mit der Autorin Gisela Reller

Mit Gisela Reller ins Gespräch zu kommen, ist eine leichte Sache. Man muss sie zum Thema Völkerschaften nur anpieksen, schon sprudelt sie los. Anlass unseres Gesprächs ist ihr neues Buch „Die Heimat ist eine goldene Wiege“: Ein Wälzer von 500 Seiten, mit etwa einhundert Fotos und genau so vielen ethnografischen Illustrationen, mit Gedichten, Märchen, Sprichwörtern und vor allem mit Texten zu Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft von fünfzig Völkern, die in der Russländischen Föderation beheimatet sind.

Wie viele Bücher sind von Ihnen eigentlich zur Völkerschafts-Thematik erschienen?

Sechs. Es hätten mehr sein können. Aber die Zeit war nicht danach. Noch lange Zeit nach der Wende waren DDR-Autoren nicht gefragt.

 Wie hat denn Ihre Leidenschaft für die Völkerschafts-Thematik begonnen?

 1972 las ich von Hans Frosch das Buch „Wer zählt die Völker … Brockhaus-Autoren berichten über die UdSSR“. Beim Lesen - mit einem Gläschen Rotwein - kam mir die Idee, eine Serie über die Völker der Sowjetunion zu erarbeiten. Jedes Jahr wollte ich auf etwa 20 Zeitschriftenseiten ein Volk vorstellen, es sollte „eine Zeitung in der Zeitung“ werden.

Wie umfangreich war die FREIE WELT?

 Anfangs hatte sie 36 Seiten, dann 40, zuletzt 64. Da war die FREIE WELT - nach der Wende - schon zur Reiseillustrierten mutiert.

Da machte - bei 40 DDR-Seiten - ein 20seitiger Beitrag eine Zeitschriften-Ausgabe quasi zum Sonderheft?

 Genau das war das Problem. Nicht alle, die in der Redaktion etwas zu sagen hatten, waren begeistert. Und so dauerte es über zwei Jahre von der Idee bis zur Verwirklichung.

Das ist eine lange Zeit …

 Stimmt! Vor lauter Ungeduld schreckte ich auch vor unkonventionellen Mitteln nicht zurück …

Was meinen Sie damit?

 Na ja, heute kann ich ja darüber reden. Als sich in der Chefredaktion nichts zu rühren schien, ließ ich im Kollegenkreis verlauten, dass ich mich aus dem Fenster stürzen würde, sollte mein Vorschlag abgelehnt werden.

 Der Fenstersturz von Berlin … Die Redaktion residierte, wenn ich mich recht entsinne, in der 14. Etage des Pressehauses am Alexanderplatz …

 So ist es.

 Und? Zeigte Ihre Drohung Wirkung?

 Unser Chefredakteur Jochen Umann ließ sich natürlich nicht erpressen. Aber er beschloss immerhin, mich einen Probebeitrag schreiben zu lassen, um die Reaktion unserer Leser zu testen. So führte mich 1975 die erste Reise zu den sibirischen Burjaten.

 Und zum Sieg - im Gegensatz zu dem Fenstersturz von Prag, der zum Dreißigjährigen Krieg geführt hatte.

 Nachdem Waschkörbe voller Leserbriefe eingegangen waren, bekam die Völkerschafts-Idee den Segen des Kollegiums. Von nun an erschien 22 Jahre lang jedes Jahr ein Beitrag über ein Volk der Sowjetunion. Bald schon war die Völkerschafts-Serie - als „Zeitung in der Zeitung“ herausnehmbar - ein beliebtes Sammelobjekt.

 Ein Erfolg, der stolz macht…

 Ja, zugegebenermaßen - besonders als ich zehn Jahre nach Erscheinen des ersten Völkerschafts-Beitrags in der „Wochenpost“ in einer Reportage von Dieter Wende las: „Es ist eigenartig, wenn man in der Wüste Kysyl-Kum von einem Kamelzüchter gefragt wird. `Kennen Sie Gisela Reller?´ Es ist schwer, der Autorin in den verschiedenen Regionen der Sowjetunion zuvorzukommen …“

 Der tschuktschische Schriftsteller Juri Rytchëu sagte einmal: „Vieles, was über kleine Völker geschrieben wird, ist eine Fantasie von Leuten, die durch ein Fernglas auf das Ufer schauen.“ Haben auch Sie nur durchs Fernglas geschaut?

Von wegen - ich habe bei den Tschuktschen in einer Jaranga geschlafen, bei den Tuwinern in einer Jurte, bei den Kalmyken in einer Kibitka. Ich habe Rentiere bei den Komi und Polarfüchse bei den Jakuten gestreichelt, bin bei den Adygejern auf Pferden und bei den Tuwinern auf Kamelen geritten.

 Als 1991 die FREIE WELT im Zuge der Wende eingestellt wurde, starb auch die bei den Lesern so beliebte Völkerschafts-Serie. Wie Ihr Buch beweist, war das aber nur ein Scheintod.

 Gott sei Dank. Die Völkerschafts-Thematik habe ich nie aufgegeben. Ich habe alle mir zur Verfügung stehenden Informationskanäle genutzt, die vielen persönlichen Verbindungen ins russische Riesenreich gepflegt, Literatur gelesen, die politischen Veränderungen verfolgt …

Das Ergebnis von mehr als vierzig Jahren Recherche und Sammeltätigkeit liegt nun in der populärwissenschaftlichen Reihe des Berliner Wissenschaftsverlages als Buch vor, in dem fünfzig Völker der Russischen Föderation vorgestellt werden. Soweit ich weiß, leben in Russland aber weit über hundert Völker. Nach welchen Kriterien haben sie Ihre fünfzig Völker ausgewählt?

 Ich stelle natürlich alle Völker vor, die ich vor Ort selbst aufgesucht habe. Zum Beispiel die Tschuktschen und Eskimos nahe Alaska, die Niwchen und Oroken auf der fernöstlichen Insel Sachalin, die Tuwiner als größte nichtslawische Ethnie im Altai-Sajan Gebirge. Zusätzlich habe ich Völker ausgewählt, die sich durch eine Besonderheit auszeichnen: Die Nordosseten zum Beispiel sind das einzige vorrangig christliche nordkaukasische Volk, die mongolische Ethnie der Burjaten und das Turkvolk der Tuwiner stehen stellvertretend für die Buddhisten; bei den islamischen Adygejern habe ich sogar ein Patenkind, es heißt Gisela. Natürlich habe ich die Tataren - mit 2 012 571 Millionen Angehörigen das größte Volk der Russländischen Föderation - und die Oroken - mit 259 Menschen eines der kleinsten Völker Russlands - in meine Völkerschafts-Vorstellungen aufgenommen.

Kann man eine Menschengruppe von 259 Häuptern ein Volk nennen? Das ist doch bestenfalls eine Großfamilie. Sicherlich gibt es wissenschaftliche Kriterien, die der Begriff Volk erfüllen muss?

Der Begriff „Volk“ bezeichnet eine Gruppe von Menschen, die demselben Kulturkreis angehört und dieselbe Sprache spricht, meist bildet eine solche Gruppe außerdem eine politische Schicksalsgemeinschaft. „Volk“ wird als populäres Synonym zum Fachbegriff  Ethnie verwendet. – Interessanterweise war man 1987, als ich Sachalin besuchte, gerade dabei, für die damals noch 317 Oroken eine Schriftsprache zu entwickeln.

 Eine Schriftsprache für 317 Oroken? Ist denn das sinnvoll?

 Wladimir Sangi, der erste Schriftsteller der Niwchen, sagte mir, nachdem ich ihn mit anderen Worten das Gleiche gefragt hatte: „Als ich mein literarisches Debüt gab, schrieb mir der russische Schriftsteller Konstantin Fedin, dass mir die Ehre zuteil geworden sei, anderen Völkern Herz und Seele meines Volkes nahe zu bringen. Die Sprache, in der die Seele eines Volkes spricht, ist die jeweilige Muttersprache. Auch 317 Oroken haben ein Herz und eine Seele und wollen sich in ihrer Muttersprache ausdrücken!“

Problematisch erscheint mir die Aufnahme der Krimtataren in Ihre „Völkerschau“ … Ein heikles politisches Thema …

Ja, ich weiß. Die Einbeziehung der Krimtataren kostete mich nach einem Schriftwechsel von 131 Kilobyte denn auch meinen erwünschten Lieblings-Vorwortschreiber Professor Dr. Andreas Kappeler. Der Schweizer Historiker, Mitglied der Akademie der Wissenschaften der Ukraine, sieht in der russischen Vereinnahmung eine das Völkerrecht verletzende Annexion. Ich dagegen finde, dass die Krim als Autonome Republik das Recht hat, ihren eigenen Weg zu gehen. Dieser Wille muss natürlich durch eine Mehrheit in der Bevölkerung legitimiert sein. Ich glaube, das ist durch das - allerdings umstrittene Referendum - der Fall.

Lassen wir die These so stehen… Es ist schon erstaunlich, wie wenig wir über Russland wissen. Da ist es kein Wunder, dass die kleinen Völkerschaften ein blinder Fleck auf der Landkarte sind. Seit der Wende gibt es kaum Veröffentlichungen, geschweige denn Bücher, die sich mit einem einzigen Volk Russlands beschäftigen. Hat sich da inzwischen etwas getan?

 Ja, Gott sei Dank - seit 2016. Dem von Professor Kappeler erschienenen Buch „Die Tschuwaschen. Ein Volk im Schatten der Geschichte“ gebührt ein Platz im Guinness-Buch der Rekorde. Dieses turksprachige Volk lebt mehrheitlich in der nach ihm benannten, südlich der Wolga gelegenen Republik Tschuwaschien. Kappelers Buch war das erste umfassende Werk, das sich ausschließlich mit einem nichtrussischen Volk beschäftigt. Inzwischen ist im Mai 2019 ein weiteres, sehr gut recherchiertes und sympathisch-persönlich geschriebenes Buch über die Kalmücken/Kalmyken erschienen: von den Autoren Wolfgang Orians, Andreas Salewski und Oskar Glück. Ich freue mich, dass die Autoren fünfzig von mir aus dem Russischen ins Deutsche übersetzte kalmykische Sprichwörter in ihr Buch aufgenommen haben.

 Erstaunlich ist, dass nicht nur wir Deutschen, sondern auch viele Russen so gut wie nichts über die in Russland beheimateten Ethnien wissen.

 Das muss ich leider bestätigen. Viele Russen hörten aus meinem Munde das erste Mal von Oroken und Orotschen, von Kalmyken und Kumyken, von Enzen und Nenzen…

 In Ihrem Buch ist oft die Rede von den Folgen der Erderwärmung. Ich schließe daraus, dass der Lebensraum vieler Völkerschaften gefährdet ist, weil er in klimatisch sensiblen Gegenden liegt …

 Man spricht von vierundvierzig indigenen arktischen Völkern in der Russländischen Föderation. Einige Völker haben weniger als 50 000 Angehörige - von den Samen der Halbinsel Kola im Westen bis zu den Tschuktschen und Yupiks/Eskimos im äußersten Nordosten Russlands. Größere Ethnien sind die Nenzen und Chanten in Westsibirien sowie die Ewenken, deren Siedlungsgebiet sich vom Jenissej bis zum Ochotskischen Meer und vom Nördlichen Eismeer bis zum Baikalsee erstreckt. Die Gesamtzahl der Angehörigen der arktischen Völker Russlands beträgt etwa 270 000 Menschen.

In der Arktis schreitet die Erderwärmung doppelt so schnell voran wie im Rest der Welt. In vielen Landstrichen Sibiriens und des hohen Nordens sind die Auswirkungen bereits heute deutlich spürbar. Bei den Tschuktschen sind durch das Auftauen des Permafrostbodens und der damit verbundenen Bodenerosion bereits Häuser eingestürzt, Menschen mussten umgesiedelt werden. Auch in Jakutien ist der Boden um mehrere Zentimeter abgesackt, wodurch Straßen, Gebäude und Ölpipelines schwer beschädigt wurden. Mich beunruhigt auch sehr, dass durch das Auftauen des Dauerfrostbodens Methangas frei gesetzt wird.

 Was bewirken diese Gase, die jahrhundertelang im eisigen Boden gefangen waren?

 Methangas trägt wesentlich stärker zum Treibhauseffekt bei als die gleiche Menge CO2. Aber das ist nur die eine Seite der Medaille. Eine Studie mit dem Titel „Metanhydrat: Die Killer-Ursache für das größte Massensterben auf der Erde“ beschäftigt sich mit dem Massensterben in der Region von Perm vor 250 Millionen Jahren. Damals wurden 90 Prozent aller Tier- und Pflanzenarten auf dem Planeten ausgelöscht. Und durch die „Perma-Zeitbombe“ kommen immer mehr menschliche Skelette und Tierkadaver ans Tageslicht. Dadurch können wieder Krankheiten auftreten, die weltweit als ausgestorben galten. Bereits 2016 führte auf der Taimyr-Halbinsel (der Dolganen und Nenzen) - seit 1968 galt dieses Gebiet als milzbrandfrei - das Auftauen des Permafrostbodens und das folgende Freisetzen von Tierkadavern zu einem Milzbrandausbruch und zum Tod von mehr als zweitausend Rentieren. Als Infektionsherd wird ein Massengrab mit vor langer Zeit an Milzbrand gestorbenen Tieren vermutet, die man im Permafrostboden begraben hatte. Nach Berichten der „Siberian Times“ wurden insgesamt 72 Menschen in Krankenhäuser gebracht, um sie zu behandeln oder auf Milzbrand zu testen, ein zwölfjähriger Junge starb.

 Das Auftauen des Permafrostbodens beschäftigt auch intensiv den Arktischen Rat, der 1996 gegründet wurde …

 … vor allem deshalb, weil das Auftauen des „ewigen“ Frostbodens nicht nur Nachteile, sondern auch Vorteile mit sich bringt. Endlich kommt man einfacher an die arktischen Bodenschätze. 2008 hatte eine Studie des „US Geological Survey“ ergeben, dass rund 13 Prozent aller weltweit unentdeckten Erdöl-Reserven und sogar 30 Prozent aller Erdgasvorkommen in der Arktis liegen.

Welche Bedeutung hat der „US Geological Survey?

Der USGS - der seinen Sitz in Reston, Virginia, hat - ist eine wissenschaftliche Behörde im Geschäftsbereich des Innenministeriums der Vereinigten Staaten und ist das wichtigste amerikanische Institut für die amtliche Kartografie. - Die letzte Tagung der Minister des Arktischen Rats fand im Mai 2019 statt. Das erste Mal in der Geschichte dieses Forums kam keine Abschlusserklärung zustande. Das lag wohl u. a. daran, dass die USA sich weigerten, das Wort Klimawandel zu akzeptieren.

 Russland kämpft um die Anerkennung einer Fläche von 1,2 Millionen Quadratkilometer als Teil des russischen Festlandssockels. Den Klimawandel nutzend, will Putin den Nördlichen Seeweg, auch Nordostpassage genannt, zur alternativen Handelsroute ausbauen …

 … denn inzwischen ist dieses Gebiet bis zu vier Monate im Jahr eisfrei.

 China, obwohl kein Anrainerstaat, zeigt besonderes Interesse sowohl an der Arktis als auch an der Nordostpassage.

 Die Nordostpassage soll als „Eis-Seidenstraße“ Teil neuer Handelswege nach Europa werden. Bisher wird diese Passage kaum als internationaler Handelsweg, sondern vor allem für den Abtransport von Öl und Flüssiggas entlang der Küste Richtung Westen genutzt. Das mit Abstand größte Projekt ist die 2018 in Betrieb genommene Flüssiggasanlage des Unternehmens Nowatek auf der Jamal-Halbinsel. Dessen Chef, Leonid Michelson, ist laut „Forbes“ der reichste aller reichen Russen. Für die Anlage, an der China mit 30 Prozent beteiligt ist, wurde ein modernes Terminal gebaut, von wo aus Flüssiggas per Schiff nach Europa, aber auch schon - als Experiment - nach China geliefert wird.

 Wie reagieren die Vertreter der indigenen Bevölkerungen auf dieses Vorhaben?

Mit großer Sorge. James Scotts, ein Vertreter der Inuit/Eskimos sagte mit großem Ernst: „Unsere Kultur und unsere Lebensweise werden angegriffen. Die Tiere, Vögel und Fische, von denen unser Leben abhängt, stehen zunehmend unter Druck. Wir fürchten um unsere Ernährungssicherheit.“ Scotts forderte im Namen seines Volkes „ein Umdenken angesichts des von Menschen gemachten Klimawandels“.

 Zur Begriffsklärung … Was versteht man unter „indigene Völker“?

 Per Definition sind indigene Völker Nachfahren der Erstbesiedler einer Region, Menschen, die in ihrer Geschichte von anderen Völkern kolonialisiert oder die aus ihren angestammten Siedlungsgebieten vertrieben wurden. Der Begriff „Indigene“ hat die Begriffe „Ureinwohner“ und „Eingeborene“ (die als diskriminierend empfunden werden) abgelöst. Eine ausfürlichere Definition steht in den Zusatzinformationen am Ende meines Buches. In den Zusatzinformationen erkläre ich auch den Unterschied zwischen „Russischer Föderation“ und „Russländischer Föderation“, den ich bevorzuge.

Nachdem ich in Ihren Zusatzinformationen nachgelesen habe, übernehme ich den Begriff nun auch. Wie ist die Russländische Föderation aufgebaut?

 Der föderale Staat Russland besteht aus sogenannten Föderationssubjekten. Das sind 22 Republiken, 9 Regionen, 46 Gebiete, drei föderale Städte, nämlich Moskau, Sankt Petersburg und Sewastopol, vier autonome Bezirke und das Autonome Jüdische Gebiet Birobidshan. Im Jahre 2010 wurde zusätzlich der Föderale Bezirk Nordkaukasus geschaffen, seit 2014 bilden die Krim und Sewastopol einen weiteren föderalen Bezirk.

 Wie nehmen diese sogenannten Föderationssubjekte Einfluss auf die aktuelle Politik.

 Sie stellen die Mitglieder des Föderationsrats - der 2. Kammer des russischen Parlaments.

 Wie groß ist der Einfluss des Föderationsrats auf die russische Regierung?

Laut Verfassung sind die Subjekte der Föderation in ihren Beziehungen gegenüber der Zentralregierung gleichberechtigt. Der 1993 gegründete Föderationsrat - das Oberhaus der Föderationsversammlung von Russland - repräsentiert die Subjekte der Russländischen Föderation. Der Föderationsrat wirkt bei der Gesetzgebung mit. Zu seinen Zuständigkeiten gehören die Grenzziehung zwischen den Regionen, die Bestätigung eines Dekrets über den Kriegs- bzw. den Ausnahmezustand, Auslandseinsätze der Streitkräfte, die Amtsenthebung des Präsidenten, die Ernennung von Richtern des Verfassungsgerichts, des Obersten Gerichts und des Obersten Arbitragegerichts und die Ernennung bzw. Entlassung des Generalstaatsanwalts.

 Was ist ein Arbitragegericht?

 Da musste ich kürzlich auch nachschauen. Der Begriff lässt sich am ehesten mit Wirtschaftsgericht übersetzen.

 Können die Republiken eigentlich auch eine eigene Verfassung beschließen?

 Ja, dazu sind sie berechtigt. Sie können auch internationale Verträge unterzeichnen, solange sich diese an die russische Verfassung halten. Seit 1994 unterzeichnete die russische Regierung mit zahlreichen Regionen bilaterale Verträge über die Wahrnehmung von Kompetenzen.

 Sie kennen gut die frühere Sowjetunion, und Sie wissen, wie es um das heutige Russland bestellt ist. Hat sich für die Völkerschaften qualitativ etwas verändert? Sind die Völker in ihrer Selbstständigkeit gestärkt, haben sie mehr Einflussmöglichkeiten, was meinen Sie?

 Es ist schon kurios, aber heute muss ich die Erfolge so hartnäckig suchen wie mir früher die Misserfolge verschlossen blieben. Obwohl die Wahrheit doch sowohl das eine als auch das andere ist.

 Ich finde zum Beispiel, dass man nicht oft genug darauf hinweisen kann, dass die Sowjetunion - zumeist in den dreißiger Jahren - um die siebzig Schriftsprachen für die nationalen Minderheiten schuf, und damit das ausgeprägte Analphabetentum besiegte. Und es ist auch wahr, dass es ist der Sowjetunion trotz verordnetem Atheismus religiöse Aktivitäten gab. So besuchte ich in Burjatien das buddhistische Kloster von Iwolginsk, hörte in Dagestan, wie der Muezzin von Derbent fünfmal am Tag zum Gebet in die Moschee rief. Im heutigen Russland können alle ihre Religiosität frei ausleben. Alle meine russischen Freunde haben den lieben Gott für sich entdeckt. Zu Zeiten der UdSSR wurden viele Probleme der nationalen Minderheiten unter den Teppich gekehrt. Heute werden sie ausgetragen. Vorrangig im Kaukasus, wo es bis heute brodelt.

 Ein Bestandteil Ihres Buches sind Sprichwörter. Wie ich weiß, sammeln Sie diese kurzen, pointierten Weisheiten seit 1964.

 Ja, ich habe sogar über russische Sprichwörter meine Diplomarbeit geschrieben. Auf all meinen Sowjetunion-Reisen habe ich die kleinen Weisheiten gesammelt. Von den Völkern selbst, von einschlägigen Wissenschaftlern und Ethnografen, aus Büchern vor Ort und aus Büchern in Bibliotheken. Bei einem vierwöchigen Aufenthalt in Moskau saß ich Tag für Tag in der Leninbibliothek.

 Haben Sprichwörter in Russland eine besondere Tradition?

 Handschriftlich wurden Sprichwörter bereits seit dem 17. Jahrhundert gesammelt. Mit dem Zusammentragen begann einst der Dichter und Universalgelehrte Michail Lomonossow, der von 1711 bis 1765 lebte. Noch größere Verdienste hat allerdings der Schriftsteller Wladmir Dal, auf der Welt von 1801 bis 1872. Er ist Autor des umfangreichsten Wörterbuchs der russischen Sprache, das auch zahlreiche Sprichwörter und sprichwörtliche Redewendungen enthält.

Haben Sie so aus dem Stegreif ein Heimat-Sprichwort der Ukrainer parat?

 Ja:Heimat ist da, wo man sich nicht erklären muss.“

 Und ein russisches Sprichwort?

 „Auch wenn Du im Paradies bist, vergiss die Heimat nicht.“

Und ein deutsches Sprichwort?

 „Oft ist der Ort, den wir Heimat nennen, gar nicht der Ort, an dem wir geboren wurden, sondern der Ort, an dem sich unser Herz zu Hause fühlt.“

 Eine kürzlich  in Deutschland von DIE ZEIT, dem Institut für angewandte Sozialwissenschaft Stuttgart und dem Wissenschaftszentrum für Sozialforschung Berlin durchgeführte Studie zum Thema Heimat ergab, dass für 89 Prozent der Befragten Heimat äußerst wichtig ist.

Dies trifft nahezu gleichermaßen auf Jung und Alt zu, auf Männer und Frauen, auf unterschiedliche Einkommensgruppen und soziale Schichten. Nie zuvor wurde der Heimatbegriff empirisch so umfassend untersucht wie in dieser  Studie.

 Um auf die Sprichwörter zurückzukommen: Wie definiert man Sprichwörter eigentlich?

 Sprichwörter werden als fest und dauerhaft geprägte Sätze definiert, die eine prägnant formulierte Lebensregel oder eine verallgemeinerte Lebenserfahrung vermitteln. Da jeder einzelne und jedes Volk andere Erfahrungen im Leben macht, ist oftmals eine gegensätzliche Moral in den Sprichwörtern anzutreffen. Allgemein anerkannt sind diese Volksweisheiten als kleine Gebilde vor der Schwelle zwischen Sprache und Literatur.

 Soweit die wissenschaftliche Definition. Und was bedeuten Ihnen Sprichwörter ganz persönlich?

 Für mich sind sie Perlen der Volksdichtung, die sowohl historische als auch alltägliche Erfahrungen widerspiegeln. Besonders reizvoll für mich ist des anderen Volkes Bildhaftigkeit. Heißt es bei uns zum Beispiel „Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen“, so sagen die kaukasischen Lesgier „Lade die Arbeit von heute nicht auf das Kamel von morgen.“ Ratsam für die Auswahl erschien mir, nur wenige Sprichwörter aufzunehmen, die sich dem deutschen Leser ohne Erläuterung nicht erschließen.

 Bitte nennen Sie ein Beispiel.

 Ein Sprichwort der Tataren lautet: „Von einem Baum kann man nur einmal Obst ernten.“ Da staunt der Laie und der Fachmann wundert sich … Gemeint ist: Aus einer tatarischen Familie durfte eine andere tatarische Familie nur ein einziges Mädchen als Braut nehmen.

 Eine Zeile aus Johann Gottfried Seumes „Gesängen“ wurde zu einem Sprichwort: „Wo man singt, da lass dich ruhig nieder, böse Menschen haben keine Lieder.“ Kennen Sie eine Entsprechung bei den indigenen Völkern?

 Ja, die sangesfreudigen Dagestaner formulieren es drastischer so: „Wer keine Lieder kennt, gehört in kein Haus, sondern in einen Stall.“

 Ich kann mir vorstellen, dass es oft keinen Sinn ergibt, die Sprichwörter wörtlich ins Deutsche zu übertragen.

 Oh ja, das stimmt. Das Sprichwort „Охala Malaнъя, что уехal Анaнъя.“ lautet in der wörtlichen Übersetzung „Es stöhnt Malanja, weil fort war Anaji.“ Ich hoffe, ich habe mit meiner Übertragung „Es seufzt Annuschka ohne Iwanuschka“ die Originalaussage getroffen.“

 Bei dieser Fast-Literaturgattung kommen sicherlich oft archaische Wendungen vor …

 Ja, der Bedeutungswandel von Begriffen muss bei der Übersetzung natürlich berücksichtigt werden. Sprichwörter haben teils eine feinsinnig-philosophische, teils eine alltäglich-urwüchsige Tönung. Nicht jedes Sprichwort erschließt sich jedem.

 Das ist nicht verwunderlich, denn vieles hängt von der Lebenserfahrung, vom Temperament und von der Stimmung des jeweiligen Adressaten ab. Außerdem sollte man eine Spruchweisheit nicht auf die Goldwaage legen.

Und außerdem hat jede Zeit ihre Sprichwörter. Hieß es zum Beispiel früher bei den Dagestanern „Kleine Völker brauchen große Dolche“, so sagen sie heute: „Kleine Völker brauchen große Freunde.“

 Ihr großer Wunsch ist es, den vielen Völkern der Russländischen Föderation viele Freunde zu gewinnen.

 Das ist mein inständiges Ziel. Außerdem würde mir sehr gefallen, wenn der aufgeschlossene Leser der jeweiligen russischen Regierung - allein für den Batzen Verantwortung gegenüber den zahlreichen nationalen Minderheiten - Achtung zollen würde. Altkanzler Gerhard Schröder schrieb im Spiegel-Sonderheft „Wladimir Putin“, Ausgabe 5/2018: „Dieser Mann hat eines der schwersten Ämter, die auf der Welt zu vergeben sind.“ Ein Weichei jedenfalls darf ein russischer Präsident gewiss nicht sein.

Wie glauben Sie, wird Ihr Buch von den Lesern und Medien aufgenommen werden?

Russland ist für viele nicht gerade ein Sympathieträger. Wladimir Kaminer, der Witzige, jedenfalls meint in diesem Zusammenhang in seinem Buch „Meine russischen Nachbarn“ (2009): “Obwohl der Kalte Krieg längst vorüber ist, genießt Russland nach wie vor im Westen einen schlechten Ruf. Wenn die Pfützen in Berlin Mitte Oktober plötzlich einfrieren, heißt es in den Nachrichten, das Tief `Natascha´ oder ´Iwan´ habe die deutsche Grenze überquert - die russischen Luftmassen schrecken eben vor nichts zurück.“

Sie haben in Ihrem „Lesebuch über 50 Völker Russlands“ nicht nur Sprichwörter aufgenommen, sondern auch Märchen, Legenden, Lieder, Gedichte, ja, sogar Witze …

Weil all diese Gattungen viel über das jeweilige Volk aussagen, und sie auch ein Indiz sind für die Denkungsart jedes Volkes.

Was auffällt, ist die leserfreundliche Gestaltung des Textes. Mit einem steten Wechsel von Spannung und Entspannung wollen Sie den Leser bei der Stange halten … Passagen mit viel Fakten oder anspruchsvollen Inhalten folgen unterhaltsame Informationen, verblüffende Anekdoten, ein schönes Gedicht oder ein anspruchsvoller Witz … Man muss tief im Stoff stehen, um so souverän mit der Materie „spielen“ zu können.

Ich habe den Gesamttext so zu gestalten versucht, wie ich ihn selbst gerne „verkosten“ würde. Das Buch eines Wissenschaftlers kann noch so bedeutsam sein, seine Leser sind vorrangig Fachleute. Ich aber hoffe, durch meine populärwissenschaftliche Art an eine größere Anzahl Leser heranzukommen.

Sind Sie sicher, dass Ihr Buch ohne Fehler ist?

 Nein, ich halte mich da an Rudolf A. Mark, der in seinem Lexikon „Die Völker der ehemaligen Sowjetunion“ in seiner 2. Auflage vorsichtshalber schreibt: „Da Vollständigkeit und Perfektion bei der Vielfalt der Themen und Aspekte, die Gegenstand dieses Lexikons sind, nie ganz erreicht werden können, mögen sich an der einen oder anderen Stelle Ungenauigkeiten oder Fehler eingeschlichen haben. Für entsprechende Hinweise oder zusätzliche Informationen bin ich stets dankbar.“ Auch ich werde es sein, wenn man mich nicht hämisch, sondern freundlich auf eventuelle Ungenauigkeiten oder Fehler aufmerksam macht.

 Wollen wir das als Schlusswort stehen lassen?

 Nein, ich habe ein besseres. Es stammt von Juri Rytchëu, dem schon erwähnten tschuktschischen Autor: „Die Seele“, sagt der, „hat keine Nationalität.“

 Berlin, im Mai 2019