Sachbuch REZENSIONEN | |
Nichts beweisen, nur hinweisen... | |
Arvydas Šliogeris | Litauer |
Post Scriptum Aus einem philosophischen Tagebuch Aus dem Litauischen von Klaus Berthel ATHENA-Verlag, Oberhausen 2001, 150 S. | |
"Erfahrungen. Viele sind es nicht in einem Menschenleben.
Eine, zwei, drei allenfalls. Und das reicht völlig, wenn du eine
Kartoffel betrachtest, eine Wolke über einem Getreidefeld, die Kontur
eines Bergrückens, Vermeehrs Brief lesendes Mädchen, wenn du wirklich zum
Sehen gelangst, dir die Augen aufgehen und der Atem stockt, dann reicht
das für ein Leben. Und für alle Schöpfung. Das einzig treffende Wort,
was diese Erfahrung ausdrückt heißt: Staunen. Erfahren heißt Erstaunen. (...)"
So beginnt das erste der 269 durch nummerierten Kapitel von Post Scriptum, dem philosophischen Tagebuch. Šliogeris (sprich: Schliogeris) denkt nach über Grenzen und Erkenntnis, über Mensch und Gott, über das Ding an sich, über Mensch und Transzendenz, über die Wahrheit und den Tod: "Memento (Kapitel 33). Den Tod, diesen altgedienten Kapitän, haben wir aus unserem Leben verbannt. Sterben ist irgendwie unanständig geworden. Selbst alt zu werden ist eine Schande. So als sei das Leben das eine, der Tod, der eine Reise antritt zu den Gestaden, die Sigitas Geda (litauischer Lyriker - die Rez.) den Archipel Agu Aguma nennt, etwas ganz anderes. Auf eine normale Sache können wir nicht mehr normal blicken. Sterben ist nicht normal, das ist unsere bewusste Feststellung. Noch unsere Eltern sahen den Tod als etwas ganz gewöhnliches, als einen Nachbarn, einen nahen und guten Bekannten. Deshalb waren ihre Toten durchaus lebendig, sie lebten immer ganz in der Nähe, zusammen mit den Lebenden. Unsere Verstorbenen sind gleichsam Aussätzige, mit denen wir nichts, aber auch gar nichts mehr zu tun haben wollen. Und dennoch kenne ich keine stärkere Lebensstimulanz als eben das Bewusstsein des Todes. Nur wer sich seiner Sterblichkeit gewahr wird, versteht, was Da-Sein in seiner intensivsten Bedeutung heißt. Nur indem man begreift, dass alles, was ist, zeitlich ist, daher unbeständig und zerbrechlich, begreift man das Wunder der Existenz. Man lernt Ja zu sagen zu allem, was noch ist, und im nächsten Augenblick nicht mehr sein kann. Der Tod ist stets mit uns, und nur deshalb können wir seine Herausforderung annehmen: Ein ruhiges Nein allen Illusionen, und überhaupt allzeit auf der ontologischen Rasierklinge balancieren - zwischen Leben und Tod."
Im Gegensatz zu den fundamentalen und systematisch argumentierenden
Werken von Šliogeris wie "Sein und Welt" (1990) oder "Alpha und Omega"
(1999) ist das als philosophisches Tagebuch herausgegebene Post
Scriptum eher sporadisch entstanden, und doch geprägt vom
unverwechselbaren Denkstil des Verfassers. Der Leser, der vor einem
gewaltigen Schopenhauer, Nietzsche, Heidegger... vielleicht
zurückschrecken würde, scheut sich nicht, mit dem Autor dieses kleinen
Büchleins die "ewigen Fragen" anzugehen. Ein kleines Buch, das zu großen
Einsichten verhilft, wohl auch, weil Šliogeris, wie Naglis Kardelis in
seinem Vorwort schreibt, nichts beweisen, sondern hinweisen will.
Auffällig ist die kulturpolische Ausrichtung mancher Passagen.
Sicherlich hat sie mit Litauens spezifischer Geschichte zu tun...
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Gisela Reller / www.reller-rezensionen.de Am 10.02.2004 ins Netz gestellt. Letzte Bearbeitung am 12.01.2017. Das unterschiedliche Schreiben von Eigennamen ist den unterschiedlichen Schreibweisen der Verlage geschuldet. |
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Litauisches Körbchen: aus Stroh zum Beerensammeln. |
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